ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Igor Narskij,Shisn w katastrofe. Budni naselenija Urala w 1917-1922 gg, (Leben in der Katastrophe. Der Alltag der Bevölkerung im Ural 1917-1922), Rosspen, Moskau 2001, 632 S., geb., 394,16 Rbl. (12,46 $).

Igor‘ Narskijs Buch ist ein wichtiger Beitrag zur Beseitigung des bisherigen Mangels an Regional- und Lokalstudien zur Revolution von 1917, zum Bürgerkrieg und zur frühen Sowjetzeit. Trotz der politischen Umbrüche in Rußland und der Öffnung der Archive stößt diese von der Sowjethistoriographie in hohem Maße politisierte und ideologisierte Periode Russischer Geschichte bei den Regionalhistorikern nur auf wenig Interesse. In der westlichen Geschichtswissenschaft, die sich lange Zeit fast ausschließlich auf die Hauptstädte St. Petersburg und auf Moskau konzentrierte und die Besonderheiten der regionalen Entwicklung ignorierte, ist die Situation wenig besser. Erst in jüngster Zeit wurde die Regionalgeschichte als wichtiger Bereich der russischen und sowjetischen Geschichte in Ost und West wiederentdeckt. Allerdings aus unterschiedlichen Gründen: während die westliche Osteuropaforschung damit einem allgemeinen Trend in der westlichen Geschichtswissenschaft folgt, sind es in Rußland heute vielfach die materiellen Probleme der Forschungseinrichtungen, die angesichts fehlender Mittel für Archivreisen zu einer zunehmenden Regionalisierung der Geschichtswissenschaft führen.

Narskij untersucht die Ural-Region in ihren vorrevolutionären Grenzen, die die Gouvernements Vjatka, Perm, Orenburg und Ufa einschlossen, über den Zeitraum der Revolution, des Bürgerkriegs, des Kriegskommunismus und der Anfangsphase der NEP (1917-1922). Einem "kultur-anthropologischen" Ansatz folgend steht im Mittelpunkt seiner Arbeit die Geschichte des "Alltagslebens der kleinen Leute" – für die heutige russische Geschichtswissenschaft ein noch ausgesprochen neues Forschungsfeld. Narskijs Anliegen ist dabei, eine Synthese aus Politik-, Sozial- und neuer Kulturgeschichte zu schaffen, wobei er letztere als "Erweiterung der Sozialgeschichte" versteht.

Das Buch besteht aus drei großen Kapiteln: Nach der Einleitung, in der Narskij sein methodisches Konzept darlegt sowie die Entstehungsgeschichte der Arbeit (gespickt mit einigen persönlichen Details) werden im ersten Kapitel die Grundzüge der komplexen politischen Ereignisgeschichte sowie die zentralen ökonomischen und sozialen Prozesse im Untersuchungszeitraum dargestellt. Im zweiten und zugleich umfangreichsten Kapitel versucht der Autor die soziale Realität des Alltagslebens der "einfachen Leute" im Ural – sowohl der Stadt- als auch der Landbevölkerung – zu rekonstruieren.

Das dritte Kapitel erweitert die Perspektive um eine kulturelle (manchmal sogar psychologische) Dimension. Es untersucht die Wahrnehmung und Deutung der politischen Ereignisse durch die lokale Bevölkerung sowie unterschiedliche "Überlebensstrategien" und Veränderungen in der Alltagskultur. Am Ende folgen einige Schlußfolgerungen des Autors sowie ein nützlicher Anhang mit Karten und Tabellen (beispielsweise eine Zusammenstellung aller Periodika, die im Ural im Untersuchungszeitraum erschienen), jedoch leider kein Quellen- und Literaturverzeichnis. Darüber hinaus enthält das Buch eine Sammlung von 26 zeitgenössischen Photographien.

Die wichtigste Quelle der Arbeit stellen die zahlreichen zeitgenössischen Periodika dar. Zudem wertete Narskij die offizielle Dokumentation aus den Moskauer Staatsarchiven sowie aus den einschlägigen Regionalarchiven aus (darunter auch V K-GPU Stimmungsberichte) und Erinnerungen von Zeitzeugen (darunter auch die vom Istpart in den 1920er und 1930er Jahren gesammelten Erinnerungen von Parteimitgliedern). Die Untersuchung basiert auf einer beeindruckenden Fülle historischer Quellen und zeugt zudem von einem umfassenden Literaturstudium, einschließlich der einschlägigen westlichen methodischen Literatur.

Der Leser wird den manchmal zu weit führenden oder zum Teil auch widersprüchlichen Deutungen des Autors nicht immer zustimmen. Zudem erscheint sein monolithisches Verständnis der Jahre 1917–1922 als "humanitäre Katastrophe", die im Kannibalismus endete ("Katastrophe" ist einer der Schlüsselbegriffe des Buches, wie Narskij selbst ausführt und auch der Buchtitel bereits ausdrückt), als zu einseitig, obwohl es den allgemeinen Trend in der postsowjetischen russischen Geschichtswissenschaft widerspiegelt.

Andere Aspekte der revolutionären Umbrüche, die das Alltagsleben der lokalen Bevölkerung und die öffentliche Kultur ebenso beeinflußten, wie die große Euphorie angesichts der neuen Freiheit nach der Februarrevolution, eine Welle der Selbstorganisation, die breite Bevölkerungsschichten erfaßte und Möglichkeiten der politischen Partizipation, finden kaum Erwähnung. Außerdem definiert der Autor nirgendwo, wen er mit den "kleinen Leuten" eigentlich meint. Die Unterschiede zwischen verschiedenen sozialen und ethnischen Bevölkerungsgruppen (insbesondere die Bevölkerung im südlichen Ural besaß einen sehr polyethnischen Charakter), zwischen Stadt- und Landbevölkerung werden an manchen Stellen im Text zwar erwähnt, jedoch nicht systematisch untersucht. Aus diesem Grund bleibt auch die Frage nach den eigentlichen Besonderheiten der regionalen Entwicklung im Vergleich zu den Hauptstädten und nach der Bedeutung regionaler Identitäten (im Wechselspiel mit sozialen und ethnischen Identitäten) weitgehend unbeantwortet. Narskijs Argumentation, daß "unter den Bedingungen der einzigartigen Katastrophe Herkunft und soziale Zugehörigkeit von Menschen weit weniger Einfluß auf ihr Alltagsleben hätten, als die allgemeine Verarmung und Zerstörung" scheint in diesem Zusammenhang zweifelhaft.

Aber dennoch ist Igor‘ Narskijs Buch sehr lesenswert, weil es den Blick auf weitgehend unbekannte Aspekte des Alltagslebens in Rußland richtet, wie beispielsweise die alkoholischen Massenorgien während der Revolution (ein sehr interessantes Phänomen des Massenverhaltens, das offenbar im gesamten früheren Russischen Reich anzutreffen war), verschiedene Ausdrucksformen des Volksglaubens (narodnaja religiosnost) im Ural unter der frühen Sowjetmacht oder auch die offenbar starke Verbreitung des Kannibalismus im südlichen Ural während der Hungersnot 1921-1922. Das Buch enthält viele nützliche und manchmal weitgehend unbekannte Informationen sowie zahlreiche beeindruckende Quellenzitate, die unser bisheriges Bild dieser Zeit deutlich erweitern.

Tanja Penter, Bochum





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