ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Christian Pfister (Hrsg.), Am Tag danach. Zur Bewältigung von Naturkatastrophen in der Schweiz 1500-2000, Paul Haupt A.G., Bern/Stuttgart/Wien 2002, 288 S., geb., 36 EUR.

Das Verhältnis von Menschen und Natur, das sich im Spannungsfeld zwischen Ohnmacht und Beherrschung, zwischen Ehrfurcht und Instrumentalisierung, zwischen Wahrung und Zerstörung bewegt, offenbart in der Naturkatastrophe seine konfrontativste Seite. Die Naturkatastrophe verdeutlicht drastisch die Grenzen der Beherrschbarkeit der Natur, die Folgen ihrer Ausbeutung und nicht zuletzt das Angewiesensein auf die helfende Unterstützung durch Mitmenschen in der Bewältigung des Unglücks.

Der vorliegende Sammelband, den der Schweizer Umwelthistoriker Christian Pfister herausgegeben hat, stellt die großen Katastrophen in der Schweiz vom Lawinenunglück, von Großbränden in der weiter zurückliegenden Vergangenheit, Bergstürzen, Erdrutschen bis zu Hochwasserkatastrophen zusammen und erzielt damit einen künftig sicherlich sehr brauchbaren Überblick über den Gegenstand. Der Band mit 16 Einzelbeiträgen profitiert davon, dass er parallel und begleitend zu einer Ausstellung entstand. Er enthält zahlreiche Abbildungen, Gemälde, Stiche und Fotos, die das Buch auch für den Laien interessant machen. Indem die verschiedenen Aspekte des Umgangs der Menschen mit Naturkatastrophen thematisiert werden, nähern sich die Autoren einem Forschungsfeld, das bislang eine Domäne der Ingenieurs- und Naturwissenschaften war. Die historische Katastrophenforschung will der Vielschichtigkeit der Problemlage gerecht werden, indem sie technische, soziologische, politische wie auch finanzielle Aspekte der Bewältigung und Prävention zusammenträgt.

Die ersten beiden Aufsätze demonstrieren, dass Naturkatastrophen auch Herausforderungen für das herrschende Bild von Welt und Mensch bedeuten können. Rosemarie Zeller zeigt, wie im 16. und 17. Jahrhundert Zerstörungen einerseits als Mittel zur Stärkung der Gottesfurcht in der Bevölkerung publik eingesetzt und entsprechend gedeutet wurden, andererseits die Kirche vor die Aufgabe stellten, Katastrophen als Gottes gerechten Willen zu rechtfertigen. Martin Stubers interessanter Beitrag "Gottesstrafe oder Forschungsobjekt" betrachtet den Übergang von einer theologischen Deutung zum naturwissenschaftlichen Umgang mit der Natur im 18. Jahrhundert. Bemerkenswert sind seine Heinweise, dass auch das optimistische Weltbild der Aufklärung – namentlich das Voltaires – sich durch Naturkatastrophen herausgefordert sah.

Ausführlich beleuchtet wird vor allem die technische und finanzielle Bewältigung der Schäden. Die Hilfsaktivitäten, insbesondere die Spendensammlungen, von denen der Band berichtet, sind durchgängig äußerst erfolgreich, nicht selten über die Erwartungen der Betroffenen hinaus. Die Solidaritätsaktionen funktionieren über die jeweils historisch wirksamen Affekte der Verbundenheit und des Mitgefühls und konstituieren die entsprechende Gemeinschaftlichkeit nach je eigenen ritualisierten Appellen. Franziska Sybille Schmid zeigt, dass die nationale Bewältigung der Hochwasserschäden von 1868 für die innere Nationalstaatsbildung der Schweiz eine unterstützende Wirkung hatte. In dem Artikel "Hilfe für den Übernächsten" (Sascha Katja Dubach), der das Ausgreifen der Schweizer Katastrophenhilfe über die eigenen Landesgrenzen hinweg nachzeichnet, werden die ersten Ansätze einer Internationalisierung der Unterstützung für Opfer von Naturkatastrophen beschrieben. Erstmals brachte die Schweizer Bevölkerung bei der Flutkatastrophe in Holland im Jahre 1953 einer fremden Nation eine breite Welle der Unterstützung entgegen. An mehreren Beispielen wird deutlich, dass Veränderungen im Umgang mit Katastrophen – insbesondere eine "Globalisierung" der Hilfsaktivitäten, aber auch Sensibilisierung für Umweltschäden – von neuen medialen Vermittlungsmöglichkeiten getragen werden. In den 50er-Jahren kann zunächst eine "Erweiterung der Solidaritätsräume" auf Europa, in den 60er-Jahren schließlich auch auf Länder außerhalb Europas festgestellt werden, wobei hier auch politische Gründe ins Gewicht fielen. Das Bedürfnis, die außenpolitische Isolierung nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich aus der Neutralitätshaltung der Schweiz ergeben hatte, zu überwinden und dann die Prozesse der Dekolonialisierung wie auch der Kalte Krieg beeinflussten die Unterstützungsaktivitäten.

Eine Bilanz, die vom Einzelereignis abstrahiert und Entwicklungsmuster herausarbeitet, ist der längere Beitrag des Herausgebers Christian Pfister "Strategien zur Bewältigung von Naturkatastrophen seit 1500". Von besonderer Aktualität ist die Wirkung von Umweltkatastrophen auf Verhaltensänderungen im Umgang mit der Natur. In den einzelnen Beiträgen lässt sich das eher Besorgnis erregende Muster erkennen, dass es in der Regel "des Drucks von Schadenereignissen" bedurfte um die Menschen zu einem präventiven Umgang mit der Umwelt zu motivieren. Hoffnung macht dann wiederum – und dieser Tatbestand verdient besondere Beachtung -, dass einmal angestoßene Anstrengungen zum Schutz gegen Naturkatastrophen mit zeitlichem Abstand nicht nachlassen, sondern in der Regel aufrecht erhalten werden, sodass institutionell verankerte Präventivmaßnahmen mit großer Beständigkeit rechnen können.

Annekatrin Gebauer, Neustadt/W.





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