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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Thomas Nutz, Strafanstalt als Besserungsmaschine. Reformdiskurs und Gefängniswissenschaft 1775-1848 (= Ancien Régime, Aufklärung und Revolution, Band 33), R. Oldenbourg Verlag, München 2001, 435 S., geb., 49,80 EUR.

Die geringfügig überarbeitete Dissertation von Thomas Nutz ist eine Diskursgeschichte: "Nicht die ‚Realitäten’ der Haftanstalten selbst, sondern die 'Realität' der Praktiken des Denkens und Sprechens über den Vollzug der Haftstrafe steht im Zentrum meiner Untersuchung" (S. 11). Die lesbar und anschaulich geschriebene Studie (was bei diskursanalytischen Arbeiten nicht selbstverständlich ist) bindet drei Stränge zu einem Analysebündel zusammen:

1. Im Mittelpunkt steht die Herausbildung und der Verlauf eines neuen Diskurses in Deutschland, des auch international virulenten Diskurses über die Reform des Strafens und der Haftanstalten, welcher Mitte der 1770er-Jahre von dem Philanthropen John Howard seinen Ausgang nahm. Er besuchte englische und europäische Gefängnisse, Hospitäler und Quarantänestationen. In einer viel beachteten Schrift prangerte Howard die dortigen unmenschlichen Verhältnisse an, indem er sie genau beschrieb. "Zu bekämpfen menschliches Elend und menschliches Laster" (so ein zeitgenössisches Lobgedicht auf Howard), sich der verlorenen Seelen von Gefangenen anzunehmen, elende Haftverhältnisse zu kritisieren und Reformen einzufordern, kurz: Den Idealen Howards zu folgen, bildete in den Jahren nach seinem Tod ein attraktives Betätigungsfeld. Was sich hier zwischen 1750 und 1810 formierte, der christlich-philanthropische Diskurs über die Reform der Gefängnisse, wurde dann in den folgenden Jahren bis 1848 zu einer (außeruniversitären) wissenschaftlichen Disziplin, zur "Gefängniskunde" ausgeformt. Ihre Verfechter lösten sich seit den 1830er-Jahren von den Wurzeln, der Philanthrop wurde "zunehmend vom Experten und Bürokraten ausgegrenzt", sodass sich auf der Basis der Menschenfreundlichkeit keine Autorität mehr begründen ließ (S. 258). Die Vertreter der Gefängniskunde nahmen sich stattdessen die empirischen Methoden der Naturwissenschaften zum legitimierenden Vorbild und suchten nach technisch-architektonischen Lösungen für das Dauerproblem der Kriminalität. Mittels durchdachter Architektur und Einrichtung der Strafanstalten und darin zu wahrender eiserner Disziplin sowie Zwang zur Arbeit sollten die Delinquenten durch Gewöhnung an beides gebessert werden. Dabei ging es um die "Wiederherstellung des homo oeconomicus", um die "Erziehung zum gehorsamen, arbeitsamen und zufriedenen Untertanen" (S. 82).

Thomas Nutz zieht eine zu einfache Linie, wenn er sagt, philanthropisch-christliche Ansätze konnten keine Autorität mehr begründen. So begann Johann Hinrich Wichern, dessen letztes Ziel es war, das Reich Gottes auf Erden zu erreichen, seine öffentlichkeitswirksame Arbeit an der Gefängnisreform in den 1830er-Jahren, gerade jener Zeit also, in der die Verwissenschaftlichung solche Ansätze zu Außenseiterpositionen gemacht habe. Es ist zudem vor dem Hintergrund dieser These widersprüchlich, zwar die Bedeutung der Gefängnisgesellschaften als wesentliche "institutionelle Orte" der Gefängniskunde zu unterstreichen, aber das christliche Anliegen dieser Vereine und ihres Initiators in Deutschland, Theodor Fliedner, nur kurz zu erwähnen.

2. Das zweite Thema, zugleich eine These, ist im Titel schon angedeutet: Das Entstehen der Strafanstalt als Besserungsmaschine zur Vertilgung der Kriminalität aus dem Gesellschaftskörper. Thomas Nutz unterstreicht den radikalen "Paradigmenwechsel" (S. 64), welcher in dieser "Erfindung" um 1800 liege. Zu den Werk- und Zuchthäusern, die er eher am Rande erwähnt, bestehe ebenso wenig eine Verbindung wie zur Festungshaft, die ebenso beiläufig erwähnt wird. In den Werk- und Armenhäusern wurden Kleinkriminelle zusammen mit Bettlern, Waisen, Geisteskranken und Prostituierten interniert und zur Arbeit in meist manufakturmäßig organisierten Betrieben gezwungen. In den Festungen wurden Schwerkriminelle oder Rückfalltäter unter unmenschlichsten Haftbedingungen zu härtester Arbeit gezwungen. Das absolut Neue der Strafanstalt sieht Nutz erstens darin, dass das Strafen nun den Blicken der Bevölkerung entzogen wurde. Die bisher dominierenden Praktiken durch Züchtigung, Pranger und Zwangsarbeit im Modus des Öffentlichen wurde nun hinter die Mauern der Strafanstalten verlegt, da es in den Augen der Kritiker dem neu entwickelten Besserungs- und Abschreckungszweck widersprach (die allen sichtbare Entehrung besserte nicht; das Publikum empfand Mitleid mit den Delinquenten, das schreckte nicht ab). Dieses Verlegen hinter die Kulissen zum Zwecke effektiverer Bestrafung sei die Ursache für die Etablierung der Freiheitsstrafe als zentrale Weise des Strafens, "die Erfindung der Straf-Anstalt hat mit einer ‚Humanisierung’ der Strafen prinzipiell nichts zu tun" (S. 64). Zweitens wurden in diese Strafanstalten ausschließlich Straftäter eingesperrt und nicht mehr wahllos Menschen, die am Rand der ständischen Gesellschaft standen. Erstmalig wurde nun, drittens, der Anspruch (auch für Schwerverbrecher) erhoben, bessernd auf die Delinquenten einwirken zu wollen.

Tatsächlich wurde die Freiheitsstrafe erst im Verlaufe des 19. Jahrhunderts zur zentralen, zur eigentlichen Form des Strafens, die Zäsur zum Vorher wird von Thomas Nutz jedoch mit zu starkem Strich gezeichnet. Die "Ächtung des öffentlichen Strafaktes" (S. 61) kann nur dann zum Dreh- und Angelpunkt einer Erklärung für die "Erfindung" der Strafanstalt werden, wenn die "Straftheater" auf den Straßen und Plätzen stark, nicht-öffentliche Formen des Strafens (Zuchthäuser, Festungshaft und die gar nicht erwähnte, aber bedeutungsvolle Landesverweisung) weniger betont werden. Die Ablösung der Körperstrafen durch die Freiheitsentziehung vollzog sich langsamer und widerspruchsvoller, die Freiheitsstrafe als die dominante Strafe blieb gerade im Diskurs umstrittener als der Verfasser vermittelt, wie das sehr eindringlich Richard J. Evans (Szenen aus der deutschen Unterwelt. Verbrechen und Strafe 1800-1914, Reinbek 1997) dargelegt. Schaut man sich des Weiteren einerseits die Programmatik der Werk- und Zuchthäuser an, so zeigt sich, dass auch hier durchaus Besserungsideen vertreten wurden. Wirft man andererseits einen genaueren Blick auf die Realitäten in den konkreten Strafanstalten, so zeigt sich, dass auch in ihrem Betriebsalltag von den Besserungsideen ähnlich wenig übrig blieb wie in den Werk- und Zuchthäusern: In beiden Fällen wurde – so könnte zugespitzt formuliert werden –

im Wesentlichen ein verwahrender Vollzug durch Besserungsdiskurse überhöht.

3. Da der Gefängnisreformdiskurs bzw. die Gefängniskunde in die Praxis wirken wollte, dort Veränderungen zu erreichen suchte, zeichnet der Autor in zwei Exkursen die konkrete preußische Strafreformpolitik auf Ministerialebene nach, einmal für die Formierungsphase des Diskurses von 1775 bis 1810, einmal für die Phase der Genese der Gefängniskunde als Disziplin 1810 bis 1848. Die Diskursgeschichte wird so ein Stück weit durch eine politische Wirkungsgeschichte ergänzt. Sie kommt im Wesentlichen zu dem Ergebnis, dass in der ersten Phase die Reformen weitgehend im Planungsansatz stecken blieben und es der preußische König in der zweiten Phase nicht vermochte, seine "modernen", vom Stand der Gefängniskunde inspirierte Reformideen, vor allem das Einzelhaftsystem, gegen den Widerstand seiner konservativen Ministerialbürokratie durchzusetzen.

Wer mit der Materie etwas vertrauter ist, kann sich schon gedacht haben, diese Betrachtungsweise komme ihm irgendwie bekannt vor. Tatsächlich lehnt sich die vorliegende Studie eng an Michel Foucaults Sicht auf die "Geburt des Gefängnisses" an, wonach die Neuerung nicht einer Humanisierung des Strafens diente, sondern der Herstellung eines Disziplinarindividuums durch "Überwachen und Strafen". Ähnlich verhält es sich mit der Methodik (Diskursanalyse) und der Begriffswahl (Besserungsmaschine, Ingenieure der Seele, Straftechniken usw.). Streckenweise kann sogar der Eindruck entstehen, das eigentliche Anliegen bestehe unausgesprochen darin, die Foucault'schen Grundannahmen zu bestätigen und sie zugleich von jenem Makel zu befreien, mit welchem die Historikerzunft diese Sicht von sich weist: Foucault habe nie ein Archiv von innen gesehen, er fühle sich nicht an die bewährten historiographischen Methoden, etwa der Quellenkritik, gebunden, er sei halt Philosoph, aber kein Historiker. Wie es für den diskursanalytischen Zweig der Historiographie überhaupt kennzeichnend ist, bleibt bei der "Strafanstalt als Besserungsmaschine" unklar, ob das, was im Diskurs entworfen wurde, in der Realität überhaupt funktionierte und welche Wirkungen die "diskursiven Formationen" in der Gesellschaft zu entfalten vermochten. Wer mit dieser (durch die Exkurse zu Preußen relativierten) Einschränkung des Blickwinkels leben kann oder sie begrüßt, wird von der vorliegenden Studie profitieren: Reformdiskurs und Gefängniswissenschaft des Untersuchungszeitraumes werden sorgfältig, systematisch und quellenkritisch durchleuchtet, auf die dahinter stehenden Mentalitäten, Menschen- und Delinquentenbilder befragt und der Blick auf eine dunkle Seite der Moderne, "das Ersinnen rein technischer Lösungen für soziale Ordnungs- und Organisationsprobleme" (S. 311) wird geschärft. Bei aller Kritik im Grundsätzlichen und im Einzelnen ein lesenswertes Buch, welches zu Debatten über das Wesen der Moderne, über das Besserungsparadigma des Strafvollzugs und den staatlichen wie gesellschaftlichen Umgang mit abweichendem Verhalten anregt.

Erik Eichholz, Hamburg





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