Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Herbert Schneider, Ministerpräsidenten. Profil eines politischen Amtes im deutschen Föderalismus. Unter Mitarbeit von Michael Haus, Steffanie Richter und Klaus Schrode, Verlag Leske + Budrich, Opladen 2001, 436 S., brosch., 36,90 EUR.
Die große Bedeutung der ersten Ministerpräsidenten ist unumstritten. Die Regierungschefs der Nachkriegsjahre prägten ihre Bundesländer, lange bevor das Bonner Kabinett tagte. Obwohl die Kompetenzen der Landesväter seit der Gründung der Bundesrepublik zunehmend abnahmen, behielten sie weiterhin eine starke Stellung im politischen System. Welchen großen Gestaltungsspielraum sie immer noch zu haben scheinen, wurde nicht zuletzt im Wahljahr 2002 mit Blick auf die süddeutschen Wirtschaftsdaten und die PISA-Ergebnisse diskutiert.
Insofern ist es zu begrüßen, dass der Politikwissenschaftler Herbert Schneider nun einen ersten typologischen Längsschnitt zu den insgesamt 113 Ministerpräsidenten vorlegt, die bis zum Jahr 1999 amtierten. Die Studie des Heidelberger Emeritus fußt vornehmlich auf Memoiren, biografischen Studien, der statistischen Auswertungen biografischer Daten und auf selbst erhobenen Fragebögen von 26 Amtsträgern. Etwas enttäuschend mag dabei gerade für Historiker sein, dass er und seine drei Mitautoren keinerlei Archivquellen heranzogen haben. Neue Befunde zu einzelnen Ministerpräsidenten sucht man dementsprechend in dem systematisch angelegten Band vergeblich.
Die Stärke der Studie liegt vor allem in den statistischen fundierten Analysen zum Sozialprofil und zum Selbstverständnis der Ministerpräsidenten. Knapp die Hälfte von ihnen waren Juristen, aber immerhin ein knappes Drittel hatte keinen Studienabschluss. Seit 1980 gelangten freilich nur noch drei Nicht-Akademiker in dieses Amt (Teufel, Beck, Wedemeier). Schneider betont, dass sich selten reine politische Karriere ausmachen lassen. Allerdings zählt er dabei selbst Edmund Stoiber zu denjenigen, die keine "reine politische Karrieren" durchliefen, obwohl Stoiber so gut wie keinerlei Berufspraxis jenseits der Politik aufweist. Deutlich wird zugleich die starke regionale Verwurzelung der Ministerpräsidenten. Mit Ausnahme von Berlin und den neuen Bundesländern stammten sie ganz überwiegend aus ihren Ländern und waren allesamt schon länger hier aktiv. Ihr Amt hatten sie im Schnitt sieben Jahren inne, einige jedoch über zwanzig Jahre. Mehr als ein Drittel erlangte den Posten nicht per Wahl, sondern per Austausch. Nach ihrem Ausscheiden blieb immerhin die Hälfte im politischen Bereich tätig. Hilfreich wäre hier vielleicht eine zusätzliche Auswertung über die Gründe der Amtsniederlegung gewesen. Haben etwa die skandalbedingten Rücktritte oder innerparteilichen Machtstürze bestimmte historische Konjunkturen?
Von ihrem Selbstverständnis her sahen sich die Ministerpräsidenten bis in die Sechzigerjahre als Landesväter. Von den befragten CDU/CSU-Amtsträgern hielt die Mehrheit weiterhin an dieser Rolle fest, während ihre sozialdemokratischen Kollegen das Attribut "Anwalt des Volks" und "Manager" bevorzugen. Schneider macht eine hohe Konsensorientierung bei den Ministerpräsidenten aus, was durch die Selbstzuschreibungen in seiner Umfrage unterstrichen wird. Als wichtigste Kontaktgruppe sehen sie die Führungskräfte des eigenen Landes an, am unwichtigsten erscheint ihnen dagegen der Kontakt zu Bürgerinitiativen. Die Daten zeigen zudem einige Unterschiede zwischen den Volksparteien. Bei der SPD fällt auf, dass bis 1969 immerhin noch ein Drittel ihrer Ministerpräsidenten aus Arbeiterhaushalten kamen. Starke Föderalisten fanden sich unter den befragten SPD-Amtsträgern kaum. Auch einen kompetitiven Föderalismus lehnten sie überwiegend ab.
Die insgesamt starke Position der Ministerpräsidenten führt Schneider vor allem auf drei Gründe zurück: auf ihren bundespolitischen Einfluss über den Bundesrat, ihre Zuständigkeit für den gesamten Verwaltungsbereich des Bundeslandes und die rechtlich nicht begrenzte Amtszeit. Ihre Machtstellung resultiere zudem aus ihrer quasi-plebiszitären Wahl, ihren stark ausgebauten Staatskanzleien, ihrer Medienpräsenz und dem meist zugleich übernommenen Parteivorsitz. Ihre Verluste in der Gesetzgebungskompetenz seien durch mehr Mitwirkungsrechte im Bundesrat entschädigt worden. Auf den Ausbau der europäischen Union und die Globalisierung hätten sie mit dem Ausbau ihrer internationalen Kontakte reagiert. Allerdings besäßen sie im Vergleich zum Kanzler eine geringere Richtlinienkompetenz, da die Stellung des Kabinetts in den meisten Bundesländern stärker sei. Insgesamt bleiben diese Abschnitte zum politischen Führungsstil etwas mager. Am Beispiel von Rau, Biedenkopf und Stoiber macht der Autor drei "Führungsstilvarianten" aus: die "Führung durch Integration", den "präsidialen Regierungschef" und den "Macher, Populist, Grundsatzpolitiker". Die einleitend stets angeführten institutionellen Rahmenbedingungen stehen gerade hier recht unverbunden neben der politischen Praxis. Ob der Führungsstil der drei genannten Ministerpräsidenten tatsächlich durch die regional unterschiedlichen Rahmenbedingungen geprägt wurde oder stärker eine Charakterfrage war, bleibt damit unklar.
Ein weiteres Kapitel behandelt die "Politikfelder der Ministerpräsidenten". Allerdings widmet es sich lediglich der Medien- und Standortpolitik. Ausgespart bleibt erstaunlicher Weise die Bildungspolitik, obwohl die Landesfürsten gerade hier die stärksten Spuren hinterließen. Ohnehin bietet die Studie keine systematische Analyse zum politischen Output der Ministerpräsidenten. Die Frage, welche unterschiedlichen politischen Schwerpunkte etwa SPD- und CDU/CSU-Amtsinhaber setzten, wird nur kursorisch beantwortet. Dabei hätte die Studie hier an einige vergleichende Länderstudien zur Policy-Forschung anschließen können, wie sie etwa von Anke Schuster vorgelegt wurden. Schließlich untersucht der Band die Kooperation zwischen den Ministerpräsidenten und deren Verhältnis zum Bund. Seit Helmut Schmidts Kanzlerschaft habe die Kooperation zugenommen. Angesichts der großen Bedeutung, die der Bundesrat für die Gestaltungskraft der Länderchefs hat, hätte man sich hier eine Auswertung darüber gewünscht, in welchem Maße die Ministerpräsidenten Bundesgesetze blockierten oder modifizierten. Leider bleibt es bei allgemeinen Hinweisen, mitunter ohne Belege. So wird etwa ohne jede Quellenangabe angeführt, dass die CDU-Ministerpräsidenten in den Siebzigerjahren eher eine systematische Konsensbildung mit der sozialliberalen Bundesregierung gesucht hätten (S. 269).
Ohnehin bleibt kritisch anzumerken, dass die Literatur- und Quellenbasis jenseits der statistisch belegten Abschnitte häufig etwas dünn bleibt. Insbesondere in den ersten Kapiteln werden Memoiren, Interview-Antworten oder andere Selbstdarstellungen arglos als Belege angeführt. Um das enge Verhältnis zu den Kirchen zu belegen, wird sogar nur auf Martin Walsers Roman "Finks Krieg" verwiesen (S. 46). Nicht ganz ausgewogen ist zudem die Behandlung der einzelnen Jahrzehnte. Die Kapitel konzentrieren sich vornehmlich auf die unmittelbare Nachkriegszeit, die Ära Adenauer und die Neunzigerjahre, während die drei Jahrzehnte dazwischen vergleichsweise kursorisch behandelt werden. Trotz dieser Einwände: Schneider und seine Mitarbeiter haben mit diesem Buch eine wichtige Studie vorgelegt, die insbesondere unsere Kenntnisse über den institutionellen Rahmen, das Selbstverständnis und den gruppenbiografischen Werdegang der Ministerpräsidenten erweitert.
Frank Bösch, Göttingen