ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder, Band 42, Heft 2, R. Oldenbourg Verlag, München 2001, 298 S. (Pag. S. 205-504), kart., 24,54 EUR.

Band 42 der "Bohemia", die im Auftrage des Collegium Carolinum von Ferdinand Seibt und Hans Lemberg herausgegeben wird, steht unter dem Schwerpunktthema " Sozialgeschichtliche Kommunismusforschung". Darüber hinaus enthält der Band Literatur- und Forschungsberichte, eine Chronik wissenschaftlicher Fachveranstaltungen der zeitgenössischen Osteuropaforschung, wissenschaftliche Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte Mittelosteuropas, Kurzbesprechungen neuerer Literatur, ein Abkürzungsverzeichnis und ein Verzeichnis der Mitarbeiter.

Die meisten Beiträge befassen sich mit der Lage der Industriearbeiterschaft in der ehemaligen CSSR, besonders der Nachkriegs-Tschechoslowakei 1945–1948. Nur unter dem Aspekt, dass der Begriff "Mittelosteuropa" von Herausgebern und Autoren der Zeitschrift pointiert politisch im Sinne von "Ostblock" verstanden wird, ist es zu erklären, dass sich ein Beitrag zur Industriearbeiterschaft der ehemaligen DDR unter den wissenschaftlichen Hauptbeiträgen befindet (Peter Hübner, S.220-243). Weiter gibt es einen grundsätzlichen Beitrag von Christoph Boyer zum Thema "Arbeiter im Staatssozialismus" (S: 209–219): Hier werden die sozialpolitischen Entwicklungen in der DDR und der CSSR auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede untersucht und der Versuch zur Entwicklung eines "theoretischen Leitfadens" unternommen. Bei der Betrachtung der Verhältnisse in der Tschechoslowakei stützt sich Boyer vorwiegend auf Veröffentlichungen der tschechischen Historikerin Lenka Kalinova.

Unter den zahlreichen Beiträgen hat der Autor der Rezension den Beitrag von Peter Heumos "Aspekte des sozialen Milieus der Industriearbeiterschaft in der Tschechoslowakei vom Ende des Zweiten Weltkrieges in bis zur Reformbewegung der Sechzigerjahre" (S. 323-362) zur Besprechung ausgewählt, da ihm dieser Beitrag von der Thematik her am umfassendsten erscheint. Einleitend weist Heumos auf bisher vorhandene Schwachstellen der sozialhistorischen Forschung zu sozialistischen/kommunistischen Systemen hin und betont, dass bei der Analyse des Selbstverständnisses sozialer Gruppen in solchen Systemen bisher die Frage im Vordergrund gestanden habe, ob die staatliche Lohn-, Konsum- und allgemeine Sozialpolitik den Erfordernissen dieser Gruppen entsprochen habe oder nicht. Heumos hingegen beschreibt die soziale Identität der tschechischen und slowakischen Industriearbeiterschaft als betrieblichen oder betriebsnahen Erfahrungsraum, "in dem sich Verhaltens- und Handlungsweisen, Einstellungen und Wertorientierungen der Arbeiter [bündelten]" (S.325). Der Vorteil dieser Betrachtungsweise liegt darin, dass die Widersprüche zwischen den regierenden Kommunisten und der Arbeiterschaft nicht, wie bisher häufig gehandhabt, durch das Aufdecken der Gegensätze zwischen kommunistischem Dogma und kommunistischer Praxis, sondern auf der Grundlage der konkreten Erfahrungen der Arbeiterschaft ermittelt werden. Gleichzeitig wird die häufig vertretene pauschale Auffassung, das kommunistische System habe mithilfe seines politischen Apparats völlig ungehindert die gesamte Gesellschaft unter seine Kontrolle bringen können, widerlegt. Heumos weist jedoch selbst darauf hin , dass es ebenso "eindimensional" wäre, das Industriearbeitermilieu als einen nach oben abgeschotteten Teil der Sozialstruktur aufzufassen und stellt aus diesem Grunde auch die Frage, wie das Arbeitermilieu in das kommunistische System integriert gewesen sei.

Heumos betont, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die Rückbindungen an die erste Tschechoslowakische Republik gering waren: die Rekrutierung von Zwangsarbeitern durch die Protektoratsverwaltung von 1939–1945, die Vertreibung der Sudetendeutschen und eines Teils der Ungarn nach 1945, die Verlagerung von Rüstungsbetrieben aus Böhmen in die Slowakei,(Jennifer Schevardo,:Rüstungsindustrie als "Entwicklungshilfe". Die Umsiedlung von Produktionskapazitäten aus Westböhmen in die Slowakei, S:269-289), die Abwanderung von qualifizierten Fachkräften aus Innerböhmen in die ehemals deutsch besiedelten Gebiete – dies alles veränderte die Struktur der Arbeiterschaft derartig, dass an Vorkriegsstrukturen nur in ganz wenigen Betrieben angeknüpft werden konnte.

Aber auch in den neuen Belegschaften bildeten sich bald Denkschemata und Verhaltensweisen heraus, die Teile der Arbeiterschaft unweigerlich in einen Gegensatz zur KPÈ bringen mussten. An erster Stelle wird hier der Betriebsegoismus genannt. Trotz der hohen zwischenbetrieblichen Mobilität in den 50er-Jahren bewahrten sich große Teile der Arbeiterschaft das Interesse an der Selbstständigkeit des "eigenen" Betriebes. Die Kommunistische Partei sah im Betriebsegoismus ein Relikt kapitalistischen Konkurrenzdenkens. Allerdings konnte sich die Arbeiterschaft auch bei einem Teil der kommunistischen Funktionäre, nämlich bei denjenigen, die unmittelbar in den Betrieben tätig waren, mit einer betriebszentrischen Haltung einer gewissen Unterstützung erfreuen. "Die tägliche Notwendigkeit, die Defizite der zentralen Planwirtschaft auf betrieblicher Ebene, vor allem im Bereich der Rohstoff- und Materialversorgung, ausgleichen zu müssen, verlangte auch unter dem Staatssozialismus ein erhebliches betriebliches Eigeninteresse" (S. 326). Heumos betrachtet den Betriebsegoismus als permanenten Protest der Arbeiterschaft gegen den "Staatssozialismus als bürokratische Großveranstaltung". Auf die Frage, ob nicht vielleicht auch Ansichten der jugoslawischen Kommunisten über Arbeiterselbstverwaltung ("Titoismus") zur Stärkung des "Betriebsegoismus" beigetragen haben, geht er nicht ein.

Als zweiten wichtigen Punkt bezeichnet er den Antibürokratismus. Antibürokratische Verhaltensmuster hatten seit den Zeiten der österreichisch-ungarischen Monarchie Tradition in der tschechoslowakischen Arbeiterschaft, aber sie wurden zweifelsohne nach der kommunistischen Machtübernahme im Jahre 1948 verstärkt, denn nun musste sich die Arbeiterschaft einer Partei entgegenstellen, die sie unter dem Vorwand, ihre Interessen zu vertreten, nahezu aller Rechte beraubte. Als dritten Punkt nennt der Autor die Frage der Schichtarbeit. Da viele Arbeiter "Pendler" mit einem längeren Anfahrtsweg zum Arbeitsplatz waren, widersetzten sie sich der ökonomisch durchaus sinnvollen Forderung der KPÈ, den vorhandenen Maschinenpark durch Mehrschichtenbetrieb auszulasten. An vierter Stelle geht Heumos auf die "Betriebsklubs" ein, die den Arbeitern eine sinnvolle Freizeitgestaltung bieten, sie beruflich und kulturell qualifizieren sollten, und natürlich –last but not least – als ein Forum der kommunistischen Propaganda dienen sollten. Heumos belegt mit Quellenmaterial, dass diese Klubs häufig nicht die seitens der Partei gestellten Erwartungen erfüllten, sondern häufig zum Zentrum traditioneller unpolitischer Vergnügungen (Gaststättenbetrieb und Tanzveranstaltungen) umfunktioniert wurden. Schließlich waren auch die "Pendler", deren Wohnsitz teilweise bis zu 40 km von ihrem Arbeitsplatz entfernt lag, praktisch von der Teilnahme an den Veranstaltungen der "Betriebsklubs" ausgeschlossen. Damit wurde eine wichtige Zielgruppe nicht erreicht.

In weiteren Passagen geht Heumos auf andere Aspekte der damaligen "Arbeitswelt" ein, auf die Ablehnung der Normtreiberei durch die der sowjetischen Stachanow-Bewegung nachempfundenen Aktivisten- und Bestarbeiterbewegung, auf vereinzelte Streiks und mangelnde Arbeitsmoral bzw. Arbeitsbummelei als Ausdruck passiven Widerstandes, auf die so genannten "Volksgerichte" in den Betrieben, die praktisch Disziplinargerichte am Arbeitsplatz darstellten, auf die Disparitäten in der Entlohnung einzelner Industriezweige und auf einige andere Fragestellungen. Abschließend wirft er die Frage nach der "Eindringtiefe" der tschechoslowakischen Einheitsgewerkschaft in die Arbeiterschaft und kommt zu dem Ergebnis, dass die Einwirkungsmöglichkeiten des Vier-Millionen-Verbandes auf die Arbeiterschaft im Grunde genommen gering gewesen seien und sich dies erst im Jahre 1968, während des "Prager Frühlings" geändert habe, als sich der Charakter dieser Gewerkschaft auf massiven Druck von "unten" vom "Transmissionsriemen der Partei" zu einer traditionellen Arbeitnehmervertretung verändert habe. Jeder einzelne Punkt ist quellenmäßig gut belegt.

Auf die Rolle der Gewerkschaften geht auch der nachstehende Beitrag von Lenka Kalinova ein ("Die Position der tschechischen Arbeiterschaft und der Gewerkschaften zur ökonomischen und sozialen Reform in den Sechzigerjahren", S. 324-363), der als wertvolle Ergänzung zum vorhergehenden Beitrag dient.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das vorliegende Heft der "Bohemia" lesenswert ist für jeden, der an Fragen der Kommunismusforschung, an der Sozialgeschichte und der Totalitarismusforschung interessiert ist und zahlreiche neue Erkenntnisse zur Lage sozialer Schichten im ehemaligen Ostblock – mit dem Schwerpunkt Tschechoslowakei – enthält. Daher sollte es in keiner Fachbibliothek zur osteuropäischen Geschichte und zur Deutschlandforschung sowie in sozialwissenschaftlichen und der Arbeiterbewegung verpflichteten Einrichtungen fehlen.

Johann Frömel, Nürnberg





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