ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ulrike Gutzmann, Von der Hochschule für Lehrerbildung zur Lehrerbildungsanstalt. Die Neuregelung der Volksschullehrerausbildung in der Zeit des Nationalsozialismus und ihre Umsetzung in Schleswig-Holstein und Hamburg (= Schriften des Bundesarchivs, Band 55), Droste Verlag, Düsseldorf 2000, XIII + 684 S., geb., 50,10 EUR.

Die Entwicklung der Volksschullehrerausbildung zwischen 1933 und 1945 bietet ein widersprüchliches Bild. Zunächst wurde die in der Weimarer Republik in Preußen und anderen deutschen Ländern eingeführte (quasi-)akademische Ausbildung nicht nur beibehalten, sondern auch auf die Länder übertragen, die an der seminaristischen Ausbildung aus dem 19. Jahrhundert festgehalten hatten. Das Studium an den nationalsozialistischen Hochschulen für Lehrerbildung dauerte weiterhin zwei Jahre und setzte das Abitur voraus, während der Lehrbetrieb inhaltlich auf die NS-Ideologie ausgerichtet wurde. Diese Hochschulen konnten aber schon gegen Ende der 1930er Jahre den Nachwuchsbedarfs bei weitem nicht mehr decken. Daher versuchte Reichserziehungsminister Rust das Problem durch Notmaßnahmen wie Aufbaulehrgänge und Schulhelferkurse für Bewerber ohne Abitur zu lösen. Doch die Hochschulen für Lehrerbildung, die in der NSDAP schon immer einflussreiche Gegner gehabt hatten, waren so nicht zu retten. Im November 1940 erging ein Führerbefehl, sie durch Lehrerbildungsanstalten zu ersetzen, die nur den Volksschulabschluss, andererseits aber die HJ-Mitgliedschaft voraussetzten. Diese Ausbildungseinrichtungen mit niedrigem fachlichem Anspruchsniveau vermochten den Bedarf an Volksschullehrkräften – vor allem wegen des Zustroms weiblicher Bewerber – zu decken.

Diesen hier skizzierten Zusammenhang hat Ulrike Gutzmann in ihrer voluminösen Kieler Dissertation eingehend untersucht. Nach einem einleitenden Kapitel über die Rolle der Lehrerbildung in der nationalsozialistischen Ideologie wird auf fast 300 Seiten (S. 69-359) die Entwicklung der Hochschulen für Lehrerbildung bis zu ihrer Auflösung nachgezeichnet. Darin eingeschlossen sind zwei aufschlussreiche Fallstudien: An der Kieler Hochschule zeigte sich beim Übergang von der Pädagogischen Akademie 1933 eine weitgehende Kontinuität. In Hamburg dagegen, wo die Ausbildung der Volksschullehrer 1923 an die Universität verlegt worden war, wurde die Abschaffung dieses Ausbildungsweges "zumindest durch Verzögerung aktiv behindert" (S. 646). Die zweite Hälfte des Buches ist den Lehrerbildungsanstalten gewidmet (S. 361-644). Hier findet man ausführliche Informationen über Aufnahmevoraussetzungen, Lehrpläne der Fächer, Lehrkräfte und Schüler(innen) sowie die Auswirkungen des Krieges. Auch hier sind regionale Fallstudien über Lehrerbildungsanstalten in Schleswig-Holstein und Hamburg eingeschlossen.

Für ihre materialgesättigte Untersuchung hat die Verfasserin neben gedruckten Quellen umfangreiche Aktenbestände aus dem Bundesarchiv, dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, dem Staatsarchiv Hamburg und schleswig-holsteinischen Archiven ausgewertet. Darunter sind auch die Bestände des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung im Bundesarchiv, die erst nach der Wende allgemein zugänglich wurden. Allein schon diese Rechercheleistung verdient Respekt.

Leider hat die Verfasserin der Versuchung nicht widerstehen können, ihre Aktenfunde detailliert auszubreiten. So wird z. B. eine Denkschrift des Reicherziehungsministeriums von 1940 auf S. 348-359 ausführlich vorgestellt. Angesichts ihres grundlegenden Charakters könnte das noch angehen, wenn der Inhalt mit dem vorhandenen Forschungsstand in Beziehung gesetzt würde. Das aber geschieht hier gar nicht und auch ansonsten nur selten, obwohl die einschlägige Sekundärliteratur weitgehend im Literaturverzeichnis aufgeführt ist. Daher kann der mit dem Forschungsstand nicht näher vertraute Leser kaum beurteilen, wo dieses Buch substanziell neue Erkenntnisse bringt.

Auch die Einordnung und Bewertung der von verschiedenen Seiten vorgebrachten Argumente pro und contra akademische Lehrerbildung lässt zu wünschen übrig. Z. B. beziehen sich etliche Passagen der referierten Denkschriften auf das Problem der Lehrerbesoldung (S. 284, 341 ff. u.ö.), ohne dass der zentrale Zusammenhang zwischen Lehrerbildung und Lehrerbesoldung auf den Punkt gebracht wird. Die akademisch ausgebildeten Volksschullehrer bezogen nämlich nach den in der Weimarer Republik getroffenen Entscheidungen kein höheres Gehalt als ihre seminaristisch – also deutlich geringer – vorgebildeten Kollegen. Diese Diskrepanz musste nach den Regeln des Arbeitsmarktes zu dem Lehrermangel führen, der in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre auftrat. Insofern zeugen entsprechende Warnungen um 1933 nicht einfach von "erstaunlicher Weitsicht" (S. 286), sondern von einer präzisen Problemanalyse. Die bleibt die Verfasserin zu diesem Zusammenhang (v.a. S. 282-294) leider schuldig.

Die Auseinandersetzung um die Volksschullehrerbildung zeigt deutlich, dass es im NS-Staat eine "Konkurrenz zwischen den Erziehungseinrichtungen von Partei und Staat" gab (S. 214), genauer zwischen dem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und dem NS-Lehrerbund einerseits und HJ, Finanzministern und Parteikanzlei andererseits. Für die Abschaffung der akademischen Lehrerbildung macht die Verfasserin insbesondere "persönliche Vorlieben einzelner Parteigrößen vermischt mit ideologischen Begründungen" verantwortlich (S. 306). Dieser Deutungsansatz passt nun aber schlecht zu den einleitenden Ausführungen über die Bedeutung der nationalsozialistischen Ideologie für die Lehrerbildungsfrage, die sich auf ältere Darstellungen stützen. Die von der Verfasserin übernommene These Lingelbachs, dass die in Hitlers "Mein Kampf" formulierten Grundsätze und Zielvorstellungen für den Bereich der Erziehung "ein ‚Dogma’ darstellten, das während der gesamten Zeit des Nationalsozialismus Gültigkeit besaß" (S. 9), lässt sich angesichts der Forschungsergebnisse der letzten zwei bis drei Jahrzehnte nicht aufrecht erhalten. Auch die in diesem Buch ausgebreiteten Fakten sprechen überwiegend für eine Revision dieser Sichtweise.

Während Gutzmanns Buch also in der Verarbeitung der Fachliteratur und der theoretischen Reflexion einige Wünsche offen lässt, beeindruckt es durch eine Materialfülle, die es für jeden, der sich mit der Thematik befasst, unverzichtbar macht.

Rainer Bölling, Düsseldorf





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