ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Wolf-Friedrich Schäufele/Markus Vinzent (Hrsg.), Theologen im Exil – Theologie des Exils. Internationales Kolloquium 17. bis 19. November 1999 in Mainz (= Texts and Studies in the History of Theology, Band 3), edition Cicero, Mandelbachtal/Cambridge (UK) 2001, 277 S., brosch., 24,50 EUR.

Das NS-Regime vertrieb aus seinem Machtbereich nicht nur Juden, politische Gegner, kulturelle Dissidenten und sonstige unbequeme oder missliebige Personen, sondern auch Vertreter der Hochschulen und der Kirchen. Die Flucht von politisch aktiven Christen, die Wissenschaftsemigration und der Exodus von Hochschullehrern ist inzwischen für viele Fachbereiche erforscht worden. Eine Lücke betraf jedoch die katholische und evangelische (Hochschul-)Theologie sowie Vertreter beider Kirchen. Diesem vernachlässigten Thema widmeten Gerhard May, Wolf-Friedrich Schäufele und Markus Vinzent im Herbst 1999 eine Tagung, zu der neben (Kirchen-)Historikern und Exilforschern auch einige Zeitzeugen eingeladen wurden. Der Tagungsband dieser Veranstaltung liegt jetzt vor.

In seiner Einleitung unterstreicht Markus Vinzent die große Forschungslücke, die hier noch klafft und keineswegs der Exilforschung allein anzulasten ist. Vielmehr haben Kirchenhistoriker beider Konfessionen selbst nur wenige Vorarbeiten geleistet, auf die die Exilforschung hätte zurückgreifen können, und wichtige Standard- und Nachschlagewerke der Kirchengeschichte ignorieren das Thema vollständig. Dabei war der Anteil der Exulanten unter Theologen und Kirchenvertretern, wie eine vorläufige (und unvollständige) Liste von 22 Biografien zeigt, keineswegs geringer als der in anderen Fächern. Eine weitere Suche hat inzwischen über 70 Theologen im Exil namhaft gemacht, von denen über die meisten nichts oder wenig bekannt ist. Das Kolloquium und der vorliegende Tagungsband stellt daher einen ersten Schritt dar in der Erforschung eines weithin unbekannten Forschungsgebietes.

Die beiden Zeitzeugenberichte stammen von zwei Theologen, die als junge Studenten ins Exil gedrängt wurden. Gerhard Lisowsky wechselte 1934 von Berlin nach Basel, um einem obligatorischen Eintritt in die SA zu entgehen, und verweigerte 1938 eine Rückkehr, um nicht von der Wehrmacht eingezogen zu werden. Abhängig von karitativen Stellen der Schweiz und von der Willkür der Behörden, wurde Lisowsky schließlich interniert, wobei ein schweizerisches Arbeitslager nicht entfernt mit einem deutschen KZ zu gleichzusetzen war. George Wolfgang Forell, dessen Vater als Breslauer Pfarrer 1933 zwangspensioniert worden war, begann 1937 ein evangelisches Theologiestudium in Wien, wo sich der Vater bereits niedergelassen hatte. 1939 emigrierte die Familie weiter in die USA, wo er sein Studium in Philadelphia fortsetzte und später eine theologische Hochschulkarriere antrat.

Zwei Schweizer Theologen – dem Protestanten Karl Barth und dem Katholiken Hans Urs von Balthasar – widmet sich der Beitrag von Ben Quash. Beide lebten jahrelang in Deutschland, das ihnen längst Heimat geworden war, als sie sich durch Hitlers Machtergreifung genötigt sahen, in ihre eigentliche Heimat als unfreiwilligem "Exil" zurückzuziehen. Für beide stellte diese Rückkehr eine Herausforderung dar, die teilweise sogar einen Bruch, eine innere Krise auslöste, ihnen aber auch Einsichten über das "Exil" in einem übertragenen theologischen Sinne als Entfremdung und Entäußerung vermittelte. Auch der Neutestamentler Karl Ludwig Schmidt, Fachkollege Karl Barths in Bonn, emigrierte in die Schweiz, in der er jedoch niemals heimisch wurde. Wie Andreas Mühling in seiner biografischen Skizze schreibt, blieb er beruflich, politisch, sozial und wohl auch theologisch entwurzelt.

Gleich zwei Beiträge (Rolf-Ulrich Kunze, Christiane Tichy) widmen sich dem (evangelischen) Kirchlichen Außenamt und seinem langjährigen Leiter Bischof Theodor Heckel, der in seiner Zuständigkeit für deutsche Diasporagemeinden im Ausland Brücken zwischen Christentum und Drittem Reich zu schlagen versuchte und erst spät merkte, wie sehr er für Propagandazwecke eingesetzt wurde. Ein wenig bekanntes Kapitel deutschsprachiger Emigrationsgeschichte, nämlich das Exil der Innsbrucker Theologischen Fakultät im waadtländischen Sitten/Sion (Dieter Marc Schneider), geht auf die Schwierigkeiten ein, denen auch katholische Theologen ausgesetzt waren. Gehörten sie – anders als ihre protestantischen Amtsbrüder – einer weltweiten Kirche an, so stießen auch sie auf Misstrauen und Ablehnung von Seiten einheimischer Kirchen, im vorliegenden Falle des schweizerischen Episkopats.

Welche persönlichen Auswirkungen hatten die Exilerfahrungen auf Theologen, auf ihre Einstellung zu ihrer Kirche, zu Glaubensfragen, zu Vertretern von (Exil-)Politik? Gab es Beispiele von theologischen Neuorientierungen, etwa Konversionen? Dieser Frage widmet sich ein Beitrag von Wolf-Friedrich Schäufele. Er untersucht Konversionen vom Judentum zum Christentum bzw. vom Protestantismus zum Katholizismus vor dem ominösen Datum des 30. Januar 1933 und macht dabei sechs bzw. zwei Fälle ausfindig. Nach Hitlers Machtergreifung lassen sich drei bzw. zwei Fälle ausmachen. Bei den Konversionen vor der NS-Diktatur spielten Umfeld und Zeitströmungen eine wichtige Rolle. Während des Exils waren Erfahrungen in einem theologisch anders geprägten Exilland, Erlebnisse antisemitischer Verfolgung und praktischer Hilfe sowie Brüche im bisherigen Weltbild entscheidend. In elf der dreizehn Konversionen standen Konversion und Emigration in einem kausalen Zusammenhang. – Das Thema der Konversionen ebenso wie der ökumenische Gedanke als Folge von Exilerfahrungen werden in weiteren, meist biografisch konzipierten Beiträge über die Theologen Wilhelm Schmidt (Ernest Brandewie), Hans Ehrenberg (Karl Heinz Potthast), Erik Peterson (Barbara Nichtweiß) und Friedrich Siegmund-Schultze (Stefan Grotefeld) und Fritz Lieb (Chryssoula Kambas) dargestellt.

Gab es eine Theologie des Exils? Markus Vinzent verneint abschließend diese Frage: Weder habe es ein Exil noch eine Theologie gegeben. Wohl aber kann man von einer prismenartigen Theologie des Exils ebenso wie von einem Exil von Theologen sprechen. Dieses habe sich allen als Umbruch, als Wendepunkt, als Anlass zur Neuorientierung, im weitesten Sinne als Freiraum der Begegnung gezeigt. Keiner der betroffenen Theologen setzte seinen Werdegang in der Richtung fort, wie er ihn vor 1933 begonnen hatte. Angesichts der Tatsache, dass die Vertreibung aus dem Paradies oder der biblische Exodus (des Volkes Israel) ebenso wie das christliche Bild der (Lebens-)Pilgerschaft durch eine vergängliche Welt verwandte Bilder wachrufen, konfrontierte das Exil die Theologen mit einer urchristlichen Thematik.

Die Veranstaltung, deren Erträge der vorliegende Band vereinigt, war verbunden mit einer biografisch konzipierten Ausstellung über Theologen beider Konfessionen, die während der NS-Herrschaft ihre Heimat hatten verlassen müssen. Die Ausstellung war gegliedert 1. nach Personen, 2. nach Schwerpunktgebieten (Rahmenbedingungen, Gruppen und Institutionen) und 3. nach Folgen des theologischen Exils (Konversion, Ökumene, Aktivitäten, Rückwirkungen). Diese von Jutta Vinzent zusammengestellte Dokumentation fand leider keine Aufnahme in den Sammelband und hätte diesen wohl auch vom Umfang gesprengt. Hier finden sich nur ihre Erläuterungen zur Konzeption. Es wäre wünschenswert, dieses biografisch wertvolle Material nicht nur zu archivieren, sondern auch zu publizieren und es damit der weiteren Forschung zugänglich zu machen.

Für den Band insgesamt gilt, dass er nicht nur eine Reihe interessanter Beiträge in sich vereinigt, sondern erstmals eine bisher vernachlässigte Thematik auf breiter Basis vorstellt, weitere Fragen aufwirft und Anregungen zur Exilforschung gibt. Er sollte den Auftakt zu weiteren Untersuchungen bilden. Hier sind noch zahlreiche Fragen offen, hier liegen noch Forschungsfelder unbearbeitet. Dem Band ist die gebührende Breitenwirkung zu wünschen.

Patrik von zur Mühlen, Bonn





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