ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Gisela Möllenhoff/Rita Schlautmann-Overmeyer , Jüdische Familien in Münster, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 1995-2001. In 3 Bänden, geb., jeweils 40 EUR.

Ein Rezensent sollte sich in der Regel darauf beschränken, den Inhalt des zu besprechenden Buches kritisch unter die Lupe zu nehmen, es dem potentiellen Leser zu empfehlen oder davon abzuraten. Doch wie auch sonst in vielen Fällen, gibt es auch bei Buchbesprechungen Ausnahmen von dieser Regel. Im Falle des über 1800 Druckseiten umfassenden Werkes von Gisela Möllenhoff und Rita Schlautmann-Overmeyer über die Geschichte der jüdischen Familien in Münster in den Jahren 1918 bis 1945 rechtfertigt vor allem die Entstehungs-geschichte, von der erwähnten Regel abzuweichen.

Den Anstoß zur Recherche der Schicksale der Münsteraner Juden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab eine 1988 von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und der Volkshochschule initiierte Ausstellung zum gleichen Thema. Vor allem das Unbehagen, im Rahmen einer Ausstellung nur sehr begrenzt Informationen vermitteln zu können, führte zu dem Wunsch, mehr über die ehemaligen jüdischen Münsteraner erfahren zu wollen. Aus diesem Wunsch entwickelte sich das Projekt, das die Autorinnen fast fünfzehn Jahre beschäftigen sollte, und in dessen Verlauf sie mit zahlreichen ehemaligen Münsteranern Kontakte aufnahmen, Interviews führten und umfangreiches Quellenmaterial zusammen-trugen, um das sie manches Forschungsinstitut oder Stadtarchiv beneiden dürfte. Diese Initiative und die bewundernswerte Ausdauer, mit der Möllenhoff und Schlautmann-Overmeyer ihre Recherche vorantrieben, wurden 1998 mit der Verleihung des Bundesver-dienstkreuzes gewürdigt. Neben dem Engagement der beiden Autorinnen trug vor allem die breite Unterstützung des Projektes durch lokale Institutionen und Organisationen (Stadtarchiv Münster, Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Volkshochschule, Institutum Judaicum Delitzschianum der Universität Münster) zum Gelingen des Gesamtwerkes bei.

1995 legten die Autorinnen mit dem biographischen Lexikon "Jüdische Familien in Münster 1918-1945" den ersten Band des Gesamtprojektes vor, der eine solche Resonanz erfuhr, das inzwischen eine zweite Auflage vorliegt. In ihm werden in verschieden langen Beiträgen über 560 jüdische Familien vorgestellt. Diese Biographien lassen erkennen, wie tief Juden im Leben der Stadt Münster verankert waren und von welcher Vielfalt in sozialer, kultureller, politischer und religiöser Hinsicht die jüdische Gemeinde Münsters geprägt war. Vor allem jedoch ist das Lexikon ein Gedenkbuch. Es gibt den Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung Namen und Gesicht wieder und bewahrt sie so vor dem Vergessen. Außerdem ist es für Gedenkstätten in Nordrhein-Westfalen und darüber hinaus eine wahre Fundgrube für biographische Informationen über verfolgte Personen aus ihrer Umgebung. Die Natur des biographischen Lexikons sowie die Fülle des recherchierten Materials hatte zur Folge, dass ein großer Teil der Informationen und Dokumente nicht im Lexikon verarbeitet werden konnte. Dies geschah dann in den zwei Teilbänden des zweiten Bandes, die 1998 und 2001 veröffentlicht wurden.

Im ersten Teilband werden in vier Kapiteln die wesentlichen Aspekte jüdischen Lebens in Münster im Zeitraum von 1918 bis 1935 dargestellt, wobei anzumerken ist, dass die zeitliche Einschränkung nicht strikt eingehalten wird, sondern mitunter die Jahre davor oder danach in die Betrachtung mit einbezogen werden. Das erste Kapitel setzt sich mit der Beteiligung Münsteraner Juden im Ersten Weltkrieg sowie der Situation ostjüdischer Zivilarbeiter und Kriegsgefangener in Münster in dieser Zeit auseinander. Es wird deutlich, wie stark sich auch die Münsteraner Juden in ihrer nichtjüdischen Umwelt akkulturiert hatten und in welch hohem Maße auch sie vom Patriotismus geprägt waren, der sie im August 1914 bewog, sich freiwillig zur Armee zu melden.

Das zweite, mit 108 Seiten bei weitem umfangreichste Kapitel beschreibt die Situation der Juden im Münsteraner Wirtschaftsleben. Entsprechend der ländlichen Umgebung Münsters waren viele Juden als Getreide-, Vieh- und Pferdehändler tätig. Darüber hinaus hatten sich zahlreiche jüdische Geschäfte, zum Teil über mehrere Generationen hinweg, in Münster etabliert. Die Entwicklung der unterschiedlichen Berufszweige vom Ersten Weltkrieg bis zu den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft wird sehr detailliert geschildert. Insbesondere wird differenziert dargestellt, dass sich trotz der unmittelbar nach der Machter-greifung einsetzenden Verfolgungsmaßnahmen viele jüdische Unternehmen und Händler in den ersten Jahren noch halten konnten, nicht zuletzt auch aufgrund der Solidarität ihrer nichtjüdischen Kunden.

Unter der Überschrift "Bildung" wird im dritten Kapitel die Situation der Juden in den Schulen und der Hochschule Münsters dargestellt. Wie in den vorhergehenden Kapiteln wird auch hier sehr faktenreich die Entwicklung bis etwa 1935 nachgezeichnet, was in erster Linie für den Lokalhistoriker bzw. für den an Münsteraner Geschichte interessierten Leser aufschlussreich ist. Nichtsdestotrotz kann gerade durch die genaue Darstellung der lokalen Ereignisse verdeutlicht werden, dass die nationalsozialistische Verfolgung der Juden keineswegs so gradlinig und planmäßig verlaufen ist, wie sie vereinzelt noch immer dargestellt wird. Vielmehr war sie sowohl von Phasen relativer Ruhe als auch enormer Dynamik geprägt und nahm zudem auf lokale Gegebenheiten Rücksicht.

Das vierte Kapitel setzt sich schließlich mit der Wahrnehmung jüdischen Lebens in Münster vor und nach dem Boykott im April 1933 durch die lokale Presse sowie die Eigenwahrneh-mung der jüdischen Bevölkerung Münsters vor und nach 1933 auseinander. Ergänzt werden diese vier Kapitel durch einen umfangreichen, über 200 Seiten starken Dokumententeil, in dem zahlreiche Fotos, Briefe, tabellarische Übersichten und andere Dokumente abgedruckt sind.

Der zweite Teilband ist ebenso wie der erste in vier Kapitel aufgeteilt, denen wiederum ein ausführlicher Dokumententeil folgt. Zeitlich umfasst er die Jahre 1935 bis 1945. Das erste Kapitel beschreibt die Ereignisse während des Novemberpogroms 1938 in Münster sowie die Forcierung der Verfolgungsmaßnahmen vor allem auf der wirtschaftlichen Ebene. Mit der Reaktion der jüdischen Bevölkerung auf diese Ereignisse setzt sich das zweite Kapitel auseinander. Die allgemeine Erkenntnis, dass der Novemberpogrom vielen noch in Deutsch-land lebenden Juden die Illusion nahm, weiter in ihrer Heimat leben zu können, und sie sich nun verstärkt um eine Auswanderung bemühten, wird auch durch die Darstellung der Münsteraner Situation bestätigt. Viele jüdische Familien suchten Zuflucht in den Niederlan-den und gerieten somit wenige Jahre später wieder in den Einflussbereich der Nationalsozial-isten, andere wiederum gelangten in fremde Länder, wo sie in der Regel vor einem schwieri-gen Neubeginn standen. Das Kapitel verdeutlicht nicht zuletzt die enormen bürokratischen Schwierigkeiten, die mit einer Emigration verbunden waren.

Das dritte und zugleich umfangreichste Kapitel beschreibt die letzte Phase der national-sozialistischen Verfolgungspolitik gegenüber den Juden. Ausführlich wird zunächst die end-gültige wirtschaftliche Existenzvernichtung sowie die vollständige Isolierung der Juden in den "Judenhäusern" dargestellt. Danach folgt die detaillierte Schilderung der Vorbereitung und Durchführung der Deportation der Münsteraner Juden seit Dezember 1941, die die Perfidität der Vorgehensweise der Täter erneut verdeutlicht. Schließlich widmet sich das letzte Unter-kapitel dem Schicksal der als "Mischehepartner" bezeichneten Verfolgten. Um die Darstel-lung nicht mit der totalen Katastrophe enden zu lassen, werden im vierten Kapitel die Re-flexionen der ehemaligen jüdischen Münsteraner über ihr Verhältnis zu Deutschland und zu den Deutschen wiedergegeben. Dadurch gelingt es den Autorinnen, eine Verbindung zur Gegenwart herzustellen.

Das prägende Merkmal aller drei Bände ist die Beschreibung der Ereignisse aus der Sicht der Betroffenen. Den Autorinnen ist es gelungen, so viel Quellenmaterial zu recherchieren, dass viele Kapitel überwiegend auf den Aussagen, Briefen, Tagebucheintragungen und anderen Dokumenten der Verfolgten basieren. Dies unterscheidet das Buch von anderen Darstel-lungen, in denen hauptsächlich Täter-Akten herangezogen werden. Der Umstand, dass in den vorliegenden Bänden die Opfer zu Wort kommen hat außerdem den Effekt, dass die Ereig-nisse viel plastischer und deutlicher beschrieben werden als z. B. durch Verwaltungsakten. Wie die drei Bände dieses Werkes im Rahmen der Münsteraner Lokalgeschichte oder der Geschichte Westfalens zu bewerten sind, kann an dieser Stelle nicht beurteilt werden. Durch die ungeheure Menge an zusammengetragenen Dokumenten steht nun jedoch jedem an der Geschichte der Juden in Münster im 20. Jahrhundert Interessierten eine detail- und fakten-reiche Schilderung zur Verfügung, die so schnell nicht übertroffen werden dürfte. Darüber hinaus stellen die drei Bände für alle Institutionen im Bereich der historisch-politischen Bildung und für alle Gedenkstätten in Nordrhein-Westfalen ein wichtiges Nachschlagewerk dar. Kritisch anzumerken ist, dass sich die beschriebene Quellendichte an einigen Stellen als nachteilig herausstellt. Mitunter verliert der Leser den roten Faden durch die Vielzahl der Zitate und erwähnten Details. Weniger wäre hier mehr gewesen. Außerdem stolpert man an wenigen Stellen über nicht besonders gelungene Formulierungen. Abgesehen von diesen unwesentlichen Mängeln haben Gisela Möllenhoff und Rita Schlautmann-Overmeyer eine Arbeit vorgelegt, die größten Respekt verdient und der eine weite Beachtung nicht nur zu wünschen, sondern sicher ist.

Christoph Moß, Moers





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