ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Peter Gay, Bürger und Boheme. Kunstkriege des 19. Jahrhunderts, Verlag C. H. Beck, München 1999, 438 S., Leinen, 78 DM.

Bücher haben ihre Zeit. Peter Gays Abschlussband seiner mehrbändigen Kulturgeschichte des modernen Bürgertums erscheint fast als Nachzügler einer in den letzten Jahren intensiv vorangetriebenen Debatte. Sein Ausgangspunkt ist eine Polemik gegen eine bis in die frühen 1980er-Jahre in der Forschung verbreitete Dichotomisierung des Bürgertums in eine relative kulturlose Bourgeoisie einerseits und eine elitäre und randständige wie bohèmehafte künstlerische Avantgarde andrerseits. Gegen stereotype Deutungen bürgerlicher Lebenswelt als fantasielos, als kulturlos und als nur an materiellen Interessen orientiert - die vor allem nach 1968 populär werden konnten, wendet sich Gay zurecht. Er wertet den klassischen Bürger des 19. Jahrhundert eindeutig auf: Die Mehrheit der bürgerlichen Existenzen erscheint bei ihm nicht nur als Wirtschaftssubjekt und Hauspatriarch, sondern als unverzichtbarer Träger jener kulturellen Werte und Ausdrucksformen, die von den oft selber über ihr bürgerliches Publikum lästernden Künstlern als Spießer verspottet wurden. Gay verwahrt sich gegen eine simple Gegenüberstellung beider Varianten. Hierin ist ihm uneingeschränkt zuzustimmen, doch versucht er keine Erklärung, weshalb die gegenseitige Polemik derart dauerhaft und wirkungsmächtig werden konnte und welche Bedürfnisse sie befriedigte, welche Funktion sie ausübte.

Was er "Kunstkriege" nennt, ist ein relativ lockerer und episodenhafter Überblick über Ereignisse, Figuren und einzelne Konflikte des europäisch-amerikanischen Kunstbetriebes und bürgerlicher Kunstrezeption im 19. Jahrhundert. Gay konzentriert sich in souveräner Einseitigkeit auf Vertreter der Hochkultur und erweist sich geradezu als klassischer Vertreter der von Stefan Zweig beschriebenen "Welt von gestern", indem er sich nicht an nationalen Grenzen ausrichtet, sondern an den Bedingungen künstlerischer Produktion. Stifter und Sammler, Kunstmärkte und Kunstbudgets, Kritiker und "Geschmackspräger" werden in einzelnen Kapiteln behandelt. Der weite Blick über deutsche, französische und englischsprachige Beispiele bietet viele interessante Fassetten und Einblicke, hinterlässt jedoch manchmal etwas den Verdacht des Beliebigen. Jede Episode ist gut beschrieben und treffend analysiert und vermittelt stellenweise luzide Erkenntnisse, doch fehlt der stringente innere Zusammenhang. Fast erinnert das Buch an eine Oper, deren einzelne Arien durchaus Szenenapplaus motivieren können, doch bleibt dem Gast im Parkett die Rahmenhandlung verborgen, was zum Blättern im Programmheft und zum Gespräch mit dem Nachbarn anstiftet.

Gays Anspruch ist es zwar, das Bürgertum "in Aktion" zu betrachten, um sich von eben diesem Bürgertum einen "Begriff zu machen" (S. 33). Doch genau darauf wartet der Leser vergebens. Auch das Versprechen einer Definition läuft ins Leere. Gay konstatiert, dass die Vergangenheit "weit komplexer ist, als man meint", dass innerhalb des Bürgertums "über schlechthin alles gestritten wurde". Doch statt diese diagnostizierte "Vielfalt" (S. 328) bürgerlicher Mittelschichten auf einen Begriff zu bringen, bleibt es bei der Beschreibung der Vielfalt. Das Bürgertum, heißt es an einer Stelle, hatte jedoch "ein Dutzend Gesichter" (S. 106).

Gay will mit seinen fünf Bänden zum Historiker für das "Innenleben des damaligen Bürgertums" werden (S. 319). Sein Ziel ist es, eine Geschichte der "Erfahrung" bürgerlicher Existenz zu schreiben. Der von ihm beanspruchte rote Leitfaden hierfür ist an Freuds Psychoanalyse orientiert. Im Grunde gehe es, so Gay, bei dieser bürgerlichen Erfahrung um Libido und Aggression, um Individualität und Kunst. Doch nur an – viel zu – spärlichen Stellen durchdringen auch Begriffe und Kategorien des Freud'schen Theorieapparates seine Analyse. Die bürgerliche "Erfahrung" die Gay zu beschreiben versucht, bleibt deshalb zu oft an den Selbstdeutungen der Zeitgenossen ausgerichtet. Dass diese kundig beschrieben werden und klug gedeutet, macht den Reiz des Buches aus, dass die Beschreibungen und Interpretationen meist pointilistisch sich ablösen, verweist auf die analytische Begrenztheit.

Vielleicht hat Gay sich in seinem Unternehmen zu sehr an den polemischen Kritiken des Bürgertums und an manchen vereinfachenden sozialhistorischen Studien, die beide bis in die 1970er-Jahre weit verbreitet waren, orientiert. Ihnen gegenüber gelingt durchaus eine Aufwertung bürgerlicher Erfahrung und bürgerlicher Selbstdeutungen. Hierin bestätigt Gay den Trend der Neuinterpretation des Bürgertums, wie er seit einigen Jahren intensiv im Gange ist. Doch die historischen Arbeiten zur Geschichte des Bürgertums haben sich seit längerem bereits dieser vergangenen bürgerlichen Erfahrung zugewandt und begonnen, sie "durchzuarbeiten". Erinnert sei nur an so unterschiedliche Studien wie Carl Schorskes Buch über Wien, Werner Hofmanns "Irdisches Paradies" oder Karl Eibls "Entstehung der Poesie". Diese und andere versuchen wirklich, Bürgertum auf den Begriff zu bringen. Ohne aber eine theoriegeleitete Analyse bleiben Beschreibungen historischer Erfahrungen häufig zu blass.

Manfred Hettling, Halle/Saale





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