ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Olaf Blaschke (Hrsg.), Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, kart., 356 S., 36 EUR.

Dieser Band dient der Diskussion einer These, mit welcher der Herausgeber erstmals 2000 in einem Aufsatz an die Öffentlichkeit getreten ist, damals noch mit einem Fragezeichen versehen. Das zweite konfessionelle Zeitalter, ungefähr von 1800 bis in bis zu dem symbolischen Datum von 1968 reichend, zeichnete sich demnach durch eine grundlegende Relevanz der konfessionell geprägten und organisierten Religion in etlichen, wenn nicht allen "Sektoren der Gesellschaft" (S. 35) aus. Forschungsstrategisch dient dieser Begriff zum einen dazu, die "Selbstverständlichkeit" anzufechten, mit welcher das 19. Jahrhundert als ein Zeitalter der Säkularisierung angesehen wird (S. 25). Zum anderen soll hervorgehoben werden, dass nicht eine bloße Fortführung und Intensivierung der frühneuzeitlichen Konfessionalisierung gemeint ist, sondern die Neuerfindung einer bestimmten "Tradition" von Frömmigkeit und Kirche.

Träfe diese These zu, hätte dies weit reichende Konsequenzen nicht nur für unser Bild der Religionsgeschichte des 19. Jahrhunderts, sondern für diese Epoche insgesamt. Wer ein neues "Zeitalter" ausruft, zielt nicht auf einen Umbau am Seitenflügel des Hauses der Geschichte, sondern auf das Richtfest für ein das Gebäude krönendes Obergeschoss. In seiner zu lang geratenen Einleitung (S. 13-69) wiederholt Olaf Blaschke seine früheren Thesen, unter Heranziehung und Diskussion einer Reihe von weiteren Belegen und Beispielen. Bereits hier könnte eine kritische Diskussion ansetzen, wenn etwa unter Berufung auf die Studie von Karl Schmitt (1989) das Wahlverhalten in der Bundesrepublik als Beleg für die Stärke konfessioneller Prägungen herangezogen wird (S. 16). Denn es ist in der Wahlforschung unbestritten, dass erst die Entdramatisierung des konfessionellen Konfliktes die Voraussetzung für die Fortdauer von entsprechenden Effekten im Wahlverhalten war, und dass die Unterschiede innerhalb der Konfessionen bereits 1953 ebenso bedeutsam waren wie die zwischen ihnen.

Doch zunächst zu den Beiträgen im Einzelnen. Helga Schnabel-Schüle resümiert in einem bereits anderweitig gedruckten Beitrag die Erträge der frühneuzeitlichen Konfessionalisierungsforschung (S. 71-93). Dabei argumentiert sie für eine lange, über 1648 hinausreichende Anwendung des Konzeptes und seine Verknüpfung mit den gesellschaftlichen Basisprozessen der Verrechtlichung, der Sozialdisziplinierung und der Territorialisierung. Aus Sicht der evangelischen Theologie kritisiert Martin Friedrich das Konzept des Herausgebers. Dabei macht er nicht nur auf die allenfalls "gebrochene" Konfessionalisierung von Staat und Gesellschaft aufmerksam (S. 98). Im Zentrum seines Arguments steht vielmehr die von Kennern der protestantischen Frömmigkeit wie Friedrich-Wilhelm Graf und Lucian Hölscher hervorgehobene Spaltung des Protestantismus in mehrere rivalisierende Strömungen, vor allem in die feindlichen Lager der "positiven" Orthodoxie und des Liberalismus. Friedrich verweist des Weiteren auf die altpreußische Union als eine "zweite" evangelische Konfession, welche den Calvinismus in sich aufnahm und im größten deutschen Bundesstaat mit ihrer Vermittlungstheologie einen entscheidenden Impuls zur Überwindung der konfessionellen Spaltung gab. Friedrich schließt mit dem bedenkenswerten Vorschlag, im 19. Jahrhundert eine religiöse Epoche der "Kirchwerdung" zu sehen, in welcher durch Zentralisierung und Institutionalisierung eine organisatorische Einbindung und Zentrierung der intensivierten Frömmigkeit angestrebt wurde.

Den Ausgangspunkt für den luziden Beitrag von Manuel Frey bildet die Deutung von aufgeklärter Irenik und Toleranz zwischen den Konfessionen als einer Signatur des späten 18. Jahrhunderts. Demgegenüber vermag Frey zu zeigen, dass es einen spannungsfreien Einstieg in das konfessionelle 19. Jahrhundert nicht gegeben hat, sondern die Wurzeln der gegenseitigen Stereotypisierung weiter zurückreichen. Als Symptom dafür dient ihm die konfessionelle Spitze in der bekanntlich von dem evangelischen Theologen Johann Caspar Lavater seit 1772 propagierten Physiognomik. Seitdem sie im norddeutschen Bürgertum zu einer Modewissenschaft avancierte, prägte das physiognomische Vorurteil über den "jesuitischen" Blick und andere Gesichtsmerkmale der katholischen Rückständigkeit und Inferiorität die Reisebeschreibungen gebildeter Protestanten. An Beispielen aus der volksaufklärerischen Literatur des frühen 19. Jahrhunderts kann Frey eindringlich zeigen, dass Vorurteile nicht nur über den "innigen katholischen Aufschlag weiblicher Augen" (S. 149) fürderhin fest im bürgerlichen Tugendkanon verankert waren.

Den von Blaschke hervorgehobenen Aspekt der Neuerfindung von Traditionen untermauert Siegfried Weichlein in einem ebenso materialreichen wie prägnanten Beitrag zur konfessionellen Konstruktion der Bonifatius-Vita und ihrer Symbolik. Beinahe bis zur Jahrhundertmitte galt der englische Mönch und Missionar als ein überkonfessionell geschätzter Tugendlehrer. Seit den Kölner Wirren von 1837 drängte jedoch eine ultramontane Umdeutung in den Vordergrund, die Bonifatius als einen frühen Beleg für die Rom-Bindung der deutschen Kirche stilisierte. Seit der Gründung des Bonifatius-Vereins, der zur Pflege der Diaspora-Mission diente, schied eine überkonfessionelle Deutung aus. Den symbolischen Abschluss der Inszenierung des ultramontanen Bonifatius bildeten die Feiern zum 1100. Todestag 1855 in Mainz und Fulda, wo die polemische Funktion des Heiligen auch gegen die revolutionäre Tradition der Mainzer Republik gekehrt wurde, während der programmatische Charakter dieser Devotion seit 1867 durch die Wahl Fuldas als Tagungsort der deutschen Bischöfe hervortrat. Es ist allerdings bezeichnend, dass konservative Lutheraner wie Heinrich Leo und Willhelm Hengstenberg auch dann noch Sympathien für Bonifatius zeigten, als dieser längst in die Traditionsbildung des Ultramontanismus eingeschrieben war (S. 176 f.).

Konfessionelle Signaturen verlieren sich und gewinnen zugleich an Spezifik, wenn man ihre Untersuchung in das Gefüge der dörflichen Lebenswelt einbettet. Dies zeigt Tobias Dietrich vornehmlich am Beispiel von rheinisch-elsässischen und württembergischen Simultangemeinden, in denen die Bekenntnisgruppen sich eine Kirche teilten. Soziostrukturelle Differenzen zwischen den Konfessionen, wie sie seit Martin Offenbacher diskutiert werden, verloren im dörflichen Kontext ihre praktische Bedeutung. Gegensätze im Hinblick auf Bildung und Nation wurden lokal nur selten thematisiert, auch wenn die konfessionellen Stereotype sonst jederzeit abrufbar waren. Der konfessionelle Konflikt wurde seit ca. 1830 vor allem anhand der Mischehenfrage entfacht. Diesem Problem, das wie kein zweites die Virulenz konfessioneller Gegensätze im 19. Jahrhundert veranschaulicht, widmet sich Tillmann Bendikowski. Neben einer anschaulichen Darstellung der rechtlichen Regelungen und der religionsgeographischen Hintergründe dieses Streitpunktes verfolgt er die Konjunkturen des Streits und konstatiert eine neue Qualität seit dem Kulturkampf. Seit der Jahrhundertwende zeichnete sich allerdings eine "geheime Interessenkoninzidenz" (S. 235) der beiden Konfessionen ab, da beide die Mischehe primär als Einbruchstelle religiöser Indifferenz und weiterer Entkirchlichung fürchteten. Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet die Mischehenfrage gänzlich in die wissenschaftliche, entdramatisierende Obhut der Pastoraltheologie und –soziologie, wie man gegen Bendikowski betonen muss. Nicht diskutiert wird von ihm auch der von Thomas Mergel vorgelegte Befund einer konfessionellen Irenik in den Mischehen des rheinisch-katholischen Bürgertums.

Es ist wohl kein Zufall, dass die drei letzten, die Zeit seit 1918 thematisierenden Beiträge der These vom zweiten konfessionellen Zeitalter keine substanziellen Gesichtspunkte hinzufügen können, sondern im Gegenteil zu einer Einschränkung des Phänomens auf die Zeit bis 1914 zwingen, wofür nicht zuletzt der religiöse "Burgfrieden" der Jahre des Ersten Weltkriegs spricht. Manfred Kittel diskutiert den Konfessionalismus als eine Hauptspannungslinie der politischen Kultur in Weimar, was allerdings nur gelingen kann, wenn man sich über Existenz und Bedeutung des sozialistischen "Lagers" (Karl Rohe) salopp hinwegsetzt (S. 245). Thomas Fandel resümiert die Ergebnisse seiner wichtigen Studie über Pfarrer beider Konfessionen in der Pfalz 1930-1939, wobei jedoch nicht die Konfession, sondern die nationalsozialistische Politik den zentralen Bezugspunkt des Konflikts bildete. Wilhelm Damberg bezieht das Konzept auf seine Forschungen über die Auflösung des katholischen Milieus im Bistum Münster nach 1945. Aber die Konfessionalisierung beginnt nicht, so viel scheint klar, erst mit der Formierung dieses Milieus seit den 1870er-Jahren, und kann deshalb auch nicht an dessen Auflösung festgemacht werden.

Bereits aus den Beiträgen dieses Bandes gehen deshalb gravierende Einschränkungen des von Blaschke vorgeschlagenen Konzeptes hervor. Diese beziehen sich zum einen auf die sehr großzügige Periodisierung, aber auch auf die Bedeutung der konfessionellen Spaltung im Protestantismus, welche Lutheraner und Katholiken zu heimlichen Verbündeten machte. Das Konzept des ‚konfessionellen Zeitalters’ ist aus der Perspektive des ultramontanen Katholizismus formuliert und kann eine gewisse Erklärungskraft wohl nur für diesen beanspruchen. Deutlich erkennbar ist auch, dass die behauptete soziale Allgegenwärtigkeit der Konfessionalisierung nirgendwo belegbar ist. Neben dem Kernbereich der kirchlichen Identitätskonstruktion waren vor allem jene Bereiche der "Lebenswelt" betroffen, auf die beide Konfessionen ein Zugriffsrecht erhoben, wie vor allem die Ehe, die Kultur der Lebensführung sowie die Semantik der Erziehung und Bildung. Manche Differenzierung und Relativierung könnte hier angefügt werden, etwa mit Blick auf die Redemptoristen. Dieser kämpferisch ultramontane Orden blieb, wie Otto Weiß in seiner grundlegenden Studie gezeigt hat, auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts frei von jeder Polemik gegen die Protestanten. Über die religiöse Lebenswelt hinaus war das Feld politischer Einstellungen von 1848 bis 1914 in hohem Maße konfessionell zerklüftet. Wirtschaft, Recht, die Naturwissenschaften und das Gesundheitssystem blieben von konfessionellen Gegensätzen jedoch auch in diesem Zeitraum weitgehend unberührt. Angesichts dieser Befunde bleibt die Originalität des Konzepts äußerst fraglich. Hat doch Thomas Nipperdey, wahrlich kein Außenseiter der ‚Zunft’, bereits 1988 eindringlich auf die Bedeutung des Konfessionalismus für das Kaiserreich hingewiesen, als dieser seinen Höhepunkt erreichte. Auch wenn noch nicht jede neuere Gesamtdarstellung diesem Fingerzeig folgt, rechtfertigt dies kaum die hypertrophe Ausrufung eines neuen "Zeitalters", da die These von Nipperdey in den primär zur Debatte stehenden Forschungsfeldern, der Frömmigkeitsgeschichte und der Geschichte der politischen Kultur, heute wohl kaum irgendwo auf ernsthaften Widerspruch stoßen wird.

Der entscheidende Einwand gegen das von Blaschke vorgeschlagene Konzept scheint mir jedoch in seiner unscharfen und irreführenden Verwendung des Säkularisierungsbegriffs zu liegen, der nur beiläufig in Gestalt einer abnehmenden "Kirchenbindung" (S. 17) oder dem "Abklingen" der Religion (S. 13) und religiöser Bindungen (so in dem 2000 publizierten Aufsatz) konnotiert wird. Damit wird die gesamte neuere religionssoziologische Literatur souverän ignoriert, die sich in berechtigter Abkehr von älteren Thesen der Kirchensoziologie auch skeptisch gegenüber einer Verallgemeinerung von Max Webers Thesen über die "Entzauberung" der modernen Welt verhält. Stattdessen wird etwa seit Thomas Luckmann Säkularisierung als "Privatisierung" diskutiert. Eine stärkere Akzentsetzung und eine reichhaltige theoretische und empirische Diskussion haben des Weiteren die Thesen von Niklas Luhmann bewirkt, der Säkularisierung als ein Bündel von Folgen funktionaler Differenzierung in der Beobachtung durch die Kirche bzw. das religiöse System begreift. Ein so konzeptualisierter Begriff von Säkularisierung ist durchaus kompatibel mit Prozessen der Konfessionalisierung, die er – ähnlich wie Martin Friedrich – als segmentär gespaltene organisatorische Verfestigung der Kirchen verstehen kann. Demgemäß ist nicht Säkularisierung, sondern Irenik und Toleranz, neuerdings auch die Ökumene als Widerpart der Konfessionalisierung zu verstehen und zu erforschen. Durch das Konzept des ‚konfessionellen Zeitalters’ wird die nahe liegende und sich aus vielen ultramontanen Quellentexten ergebende Überlegung blockiert, dass die Konfessionalisierung wesentliche Impulse aus der so – als Folge funktionaler Differenzierung – verstandenen Säkularisierung empfangen hat.

Der vorliegende Band ist auf Grund der wichtigen frömmigkeitsgeschichtlichen Beiträge von Tobias Dietrich, Martin Friedrich, Manuel Frey und vor allem Siegfried Weichlein unbedingt zu empfehlen. Das vom Herausgeber propagierte Konzept des "zweiten konfessionellen Zeitalters" hält einer religionssoziologisch informierten Kritik dagegen nicht stand, und dies auf einem Feld wie der Religionsgeschichte, das wie kaum ein anderes theoretischer Durchdringung bedarf. Durch die ihm eigene überzogene Zuspitzung und Verzerrung des Phänomens blockiert das Konzept die weitere Erforschung der Konfessionalisierung im Zeitraum von 1800-1914 eher, als dass es sie zu fördern im Stande ist. Bei dieser sehr skeptischen Bilanz ist zudem noch nicht berücksichtigt, in welchem Maße dieser Begriff den Spezifika des "ersten" konfessionellen Zeitalters vergleichend gerecht zu werden vermag. Es sollte zu denken geben, dass ein ausgewiesener Kenner der frühneuzeitlichen Religionsgeschichte wie Rudolf Schlögl sich hierzu kürzlich eindeutig negativ geäußert hat.

Benjamin Ziemann, Bochum





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