ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ursula Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod. Die Geschichte des Suizids vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2001, 407 S., geb., 39,90 EUR.

Zu allen Zeiten haben Menschen ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt. Der Suizid ist eine spezifisch menschliche Fähigkeit, die, wie die Autorin der zu besprechenden Untersuchung schreibt, "äußerste und zugleich letzte Möglichkeit menschlicher Freiheit, die sich im Moment ihrer Realisierung selbst aufhebt". Als Sonderfall unter den Todesursachen provoziert der Suizid religiöse, rechtliche, medizinische Zuschreibungen und fordert eigene Regelungen des Umgangs heraus. Sie unterliegen wie das Verhältnis zu sich selbst, zur Gesellschaft und zum Tod, das in ihnen zum Ausdruck kommt, dem historischen Wandel. Die Berliner Historikerin Ursula Baumann hat dieses in den Kulturwissenschaften noch wenig erkundete Terrain betreten und eine Geschichte des Suizids für den Zeitraum vom 18. Jahrhundert bis zum Ende des Nationalsozialismus vorgelegt.

Die Studie folgt einer genuin interdisziplinären Fragestellung: Zu den traditionell mit der Selbsttötung befassten Disziplinen der Philosophie, Theologie und Jurisprudenz kamen um 1800 die Medizin und die Psychiatrie und seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend die Sozialwissenschaften. Welche Wissenschaften wann und mit welchen Begründungen die Interpretationshegemonie beanspruchten und welche Formen des praktischen Umgangs mit Selbsttötungen daraus abgeleitet wurden, lässt sich nicht allein aus innerwissenschaftlichen Entwicklungen erklären. Immer flossen in die Rede der Experten kollektive Wertvorstellungen und Ängste ein. Folgerichtig verbindet die Untersuchung Historische Anthropologie, Sozialgeschichte und Wissenschaftsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte. Sie liefert einen wichtigen Beitrag zur Untersuchung der "Verwissenschaftlichung des Sozialen" (L. Raphael), die für das 19. und 20. Jahrhundert so zentral ist. Gleichzeitig eröffnet sich mit der Frage nach der Geschichte des Suizids die Möglichkeit, epochenspezifische Mentalitäten vor Augen zu führen.

Im einleitenden Kapitel, das den gesamten Untersuchungszeitraum erfasst, rekonstruiert Baumann die staatliche und kirchliche Begräbnispraxis. Das "unehrliche" und das "stille" Begräbnis als Abschreckungsmittel gegen die Selbsttötung trafen mit dem Toten immer auch dessen Angehörige. Baumann skizziert, wie diese Praxis von kirchlicher Seite legitimiert, von den Gemeindemitgliedern bestätigt, immer wieder aber auch in Bitt- und Beschwerdebriefen zurückgewiesen wurde. In chronologischer Ordnung schließen sich die folgenden Kapitel an. Mit der Aufklärung und Säkularisierung wurde die Selbsttötung in den Jahrzehnten zwischen 1770 und 1800 zum Gegenstand einer öffentlichen Kontroverse. Diese fand ihren Niederschlag in theologischen Schriften wie in den psychologischen Selbsterkundungen in dem von Karl Philipp Moritz herausgegebenen Magazin für Erfahrungsseelenkunde. Den Durchbruch zur Entmoralisierung des Suizids markierte Ende des 18. Jahrhunderts Goethes Werther. Im Laufe des 19. Jahrhunderts verlor das Thema die öffentliche Aufmerksamkeit, und der Suizid wurde mehr und mehr zur Angelegenheit medizinischer Experten. Doch trotz Medikalisierung und bald auch juristischer Liberalisierung der Selbsttötung blieben – wenngleich regional unterschiedlich – kirchliche und soziale Diskriminierungen bestehen. Daraus ergab sich zuweilen ein merkwürdiges Zusammenwirken der Beteiligten: Eine nachträgliche medizinische Bescheinigung seiner Unzurechnungsfähigkeit etwa bot den Angehörigen die Möglichkeit, dem Selbstmörder doch ein würdiges kirchliches Begräbnis zukommen zu lassen. Von 1880 bis 1914 wurde der Suizid erneut zu einem "Gravitationszentrum" weltanschaulicher und politischer Debatten, eine "Projektionsfläche für ein Unbehagen an der Kultur", an Urbanisierung und Säkularisierung. Vor allem aber gewannen jetzt statistische Daten an Bedeutung. Für die Jahrzehnte um 1900 geht Baumann dem Zusammenhang von Suizid, Sterbehilfe und Euthanasie nach und knüpft hier explizit an Fragen an, die gegenwärtige Kontroversen über "Sterbehilfe" aufwerfen. Wie der Suizid von 1914 bis 1945, den Jahrzehnten gesellschaftlicher Umbrüche und Katastrophen, thematisiert wurde, zeigt das letzte Kapitel. Einen einheitlichen, NS-spezifischen Diskurs kann die Autorin nicht erkennen, wohl aber nahmen Selbsttötungen innerhalb spezifischer Personengruppen signifikant zu: Neben den von sozialer Ausgrenzung, Deportation und Ermordung bedrohten Juden, deren Entscheidung Baumann als "letztmöglichen Akt der Selbstbehauptung" charakterisiert, handelte es sich um Wehrmachtsangehörige während des Krieges sowie um jene Männer und Frauen, auch ganze Familien, die sich beim Einmarsch der Roten Armee in den östlichen Landesteilen das Leben nahmen. Über den wissenschaftsgeschichtlichen Zugang geht der Blick auf die Betroffenen und deren engeres soziales Umfeld nie verloren. Sämtliche Kapitel durchziehen Berichte und Interpretationen von mehr oder weniger spektakulären Selbstmordfällen.

Ausgehend von einer Bibliographie aus dem Jahr 1927 stützt sich die Arbeit überwiegend auf gedruckte Quellen: Monographien, Zeitschriften- und Zeitungsartikel, Statistiken und Rezensionen, Broschüren, Predigten und Vorträge. Baumann erschließt diese Texte durch eine sorgfältige historische und regionale Kontextualisierung und ein "close reading", lässt die verschiedenen Stimmen allerdings gelegentlich unverbunden nebeneinander stehen. Die ausgewählten Archivalien beziehen sich vor allem darauf, wie Kirchen und staatliche Stellen mit den Leichen von Selbstmördern umgingen, mit Erfassung und Registrierung von Selbsttötungen. Hier überzeugt die sorgfältige Quellenkritik statistischer Daten, die nicht – wie häufig in den Geschichts- und Kulturwissenschaften – darauf vertraut, diese ließen sich als "harte Fakten" unbefragt übernehmen. Statt der Frage nach den absoluten Zahlen für eine bestimmte Region, Zeit oder gesellschaftliche Gruppe nachzugehen, führt Baumann auch an Klassikern wie Emile Durkheims Studie zum Selbstmord vor, wie das "Zahlenwerk im Ausgang zeitgenössischer Interpretationen zu analysieren" ist. So wird deutlich, dass – und warum – manche Themen, wie Schülerselbstmorde Anfang des 20. Jahrhunderts, Gegenstände öffentlicher Debatten werden, ohne dass sich eine Entsprechung in steigenden Zahlen fände. Weit weniger überzeugt die Analyse des wohl bemerkenswertesten Fundes, 400 Abschiedsbriefe aus den Archiven der Berliner Polizei, die Männer und Frauen in den 1920er- bis 1940er-Jahren schrieben, bevor sie ihrem Leben ein Ende setzten. Die Kriterien der Auswahl von knapp zwei Dutzend solcher Briefe erschließen sich nicht, und der Anspruch, die oft bewegenden Dokumente für sich sprechen zu lassen, kollidiert mit der gewählten Präsentationsform. Ohne erkennbares Konzept bringt die Autorin Wortlaut und eigene Zusammenfassungen zusammen, um dann in den Interpretationen über Motive zu spekulieren.

"Vom Recht auf den eigenen Tod" ist nicht allein als historische Studie zu lesen, sondern zugleich als Beitrag zur aktuellen Kontroverse um Suizid und Sterbehilfe. Der gewählte Untersuchungsgegenstand erfordert bereits hinsichtlich der Terminologie eine Stellungnahme. Wer vom Selbstmord rede, so Baumann, übernehme eine negative Wertung. Für die Gegenwart mahnt die Autorin die "Revisionsbedürftigkeit einer verengten Perspektive" an, die sie darin erkennt, dass die "Euthanasie"-Debatten im Kaiserreich und in der Weimarer Republik als Vorgeschichte der NS-Verbrechen interpretiert oder durch den Verweis auf die NS-"Euthanasie" in Deutschland die Diskussion über die aktive Sterbehilfe diskreditiert werde. "An den Zusammenhang zwischen Selbst- und Fremdtötung kann man glauben, man kann ihn aber weder systematisch herleiten noch historisch aufweisen", verweist Baumann auf Holland, das als demokratischer Sozialstaat "par excellence" erstmals die Tötung auf Verlangen unter bestimmten Bedingungen entkriminalisiert habe. Nicht jeder Suizid sei ein "Freitod", schreibt sie, betont aber zugleich das Moment der Wahl, das diesen Akt eben auch bestimme. "Eine Kombination von Alter und Krankheit kann auch unabhängig von sozialen Problemen die Lebensperspektiven so radikal reduzieren, dass der Tod die vernünftigste Option ist. [...]. Wann und unter welchen Bedingungen uns Alter und Krankheit die Lebensperspektiven abschneiden, hängt jedoch ebenso vom historischen Kontext ab, wie der Umgang der Gesellschaft mit diesem Problem". An dieser Stelle wäre die Geschichtsschreibung in eine Gegenwartsanalyse von vergleichbar hohem Niveau überzuleiten gewesen: Woran etwa wäre die Qualität des Lebens heute zu messen? Wo findet die Feststellung Gehör, dass nicht jede Art von Leben dem Nichtsein vorzuziehen sei? Wie werden die Grenzen gezogen? Lassen sich die Einwände, die heute gegen die Sterbehilfe vorgetragen werden, tatsächlich allein als "Glaubenssache" abtun, wie Baumann unterstellt? Ist nicht bereits der Fokus auf die Selbsttötungen alter kranker Menschen erklärungsbedürftig? Dass der Suizid als individuelle Entscheidung zu respektieren ist, gleichzeitig aber ein zutiefst sozialer Akt, verwoben in gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskurse und Praktiken, dokumentiert Baumanns Studie für die Vergangenheit überzeugender als für die Gegenwart. Diese Debatte ist noch nicht abgeschlossen.

Cornelia Brink, Freiburg/Br.





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