ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Merith Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft. Studien zur Strukturgeschichte der Familie in Westdeutschland 1945-1960 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 65), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, 448, kart., 118 DM.

Während die jüngsten Studien zur Geschichte der Frauen und der Familie in Westdeutschland den Fragestellungen der neueren Kultur- und Sozialgeschichte folgen (Christine von Oertzen, Elizabeth Heinemann, Robert Moeller, Lukas Rölli-Alkemper), überrascht Merith Niehuss mit ihrer überarbeiteten Habilitationsschrift durch einen klassisch strukturgeschichtlichen Ansatz. In ihrer Studie verbindet die Autorin eine qualitative Analyse mit einer quantitativen Untersuchung in der Absicht, die Wechselwirkung zwischen Bedingungen familialen Lebens und gesellschaftlichen Strukturen sowie deren Wandel zu analysieren. Entsprechend behandelt Niehuss eine Vielzahl von Themen von der Strukturgeschichte des Wohnens über weibliche Erwerbstätigkeit bis zu familienpolitischen Maßnahmen (Familienlastenausgleich, Kindergeld, Besteuerung von Familien).

Nach einem einführenden Kapitel über kriegsbedingte Wanderungsbewegungen innerhalb der Bevölkerung und Implikationen des kriegsbedingt entstandenen "Frauenüberschusses" bzw. "Männermangels" umreißt die Autorin im zweiten Kapitel "typische Nachkriegsschicksale", zu denen sie Kriegerwitwen und -waisen, nicht eheliche Kinder ebenso zählt wie die Männer, die erst sehr spät aus der Gefangenschaft heimkehrten. Entfremdungen durch lange Trennungen während des Krieges ebenso wie die angespannte Wohn- und Ernährungslage in den Nachkriegsjahren bargen innerfamiliäres Konfliktpotenzial. Zu Recht betont Niehuss aber, dass die zunächst hohen Scheidungsraten aus unerledigten Verfahren der letzten Kriegsjahre resultierten, man also nicht von einem "Scheidungsboom" sprechen kann.

Die Wohnungsmisere der Nachkriegsjahre, die Familien zwang, in Bunkern, Nissenhütten und feuchten Kohlekellern zu hausen, wird im dritten Kapitel als zentrales soziales Problem herausgearbeitet. Trotz staatlicher Wohnbauprogramme lebten Mitte der 50er-Jahre immer noch 400.000 Menschen in 3000 Barackenlagern und Notunterkünften. Indem die Autorin sozialgeschichtliche Studien mit eigenen Forschungen verbindet, zeichnet sie ein plastisches Bild der Geschichte des Wohnens in den 1940er- und 1950er-Jahren.

In Bezug auf weibliche Erwerbstätigkeit konstatiert Merith Niehuss einen sich seit der Jahrhundertwende vollziehenden Wandel, der sich auf drei Ebenen vollzog: Die Entwicklung vollzog sich erstens von der mithelfenden Familienangehörigen zur außerhäuslichen "marktmäßigen Erwerbstätigkeit", zweitens stieg der Anteil verheirateter Frauen in den Berufen abhängig Beschäftigter markant und drittens drangen Frauen in Berufe ein, die zuvor allein männliche Domänen dargestellt hatten. Als Gründe des Wandels führt die Autorin das veränderte Erwerbsverhalten zweier Alterskohorten von Frauen an, einerseits der zwischen 1901 und 1910 und andererseits der zwischen 1911 und 1920 Geborenen. Während die erste Kohorte auf Grund ihres Alters und ihrer relativ schlechten Berufsausbildung in den 50er-Jahren als schwer vermittelbar galt, erging es den jüngeren Frauen besser. Technisierung und Rationalisierung erleichterten bestimmte Arbeitsvorgänge und machte es der Nahrungs- und Genussmittelindustrie, dem Bekleidungsgewerbe und bestimmten Dienstleistungsbereichen möglich, Frauen als billige Arbeitskräfte vermehrt einzusetzen. Somit war die Zunahme der Frauenarbeit in der Regel eine Zunahme ungelernter oder angelernter Tätigkeit. Allein die Zunahme der in den Betrieben für Verwaltungs- und Büroarbeiten benötigten Angestellten ging mit einem erhöhten Qualifizierungsbedarf von Arbeitnehmerinnen einher. Führungspositionen wurden weiterhin mit Männern besetzt.

Gerade weil dieses Ergebnis von zentraler geschlechterpolitischer Bedeutung ist, muss man bedauern, dass die Autorin die übergreifenden wirtschaftspolitischen Bedingungen dieser Entwicklung nicht beleuchtet. In dieser Hinsicht wäre eine Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Studie von Christine von Oertzen über die Einführung der Teilzeitarbeit in Westdeutschland sicher fruchtbar gewesen. An diesem Kapitel wird ein methodisches Defizit der Studie deutlich: Hinter den beschriebenen Familien- und Gesellschaftsstrukturen verschwinden die für den konstatierten gesellschaftlichen Wandel verantwortlichen Akteure. So entsteht das Bild eines sich quasi autonom vollziehenden Wandels, der ungebunden von normativen Vorprägungen und Interessen erscheint.

Die quantitative Analyse der Familienstruktur im vierten Kapitel, die Heiratsalter, Familiengründungsphase, Scheidungen, Kinderzahl und andere demografische Aspekte umfasst, beruht auf einer aufwändigen Auswertung von Samples aus dem jeweiligen Mikrozensus sowie Volkszählungen verschiedener Jahre. Im Detail finden sich einige irreführende Ungenauigkeiten, dazu zwei Beispiele: Erstens gab es den Mutterschutz nicht erst seit 1952 als "familienpolitische Maßnahme" (S. 179), er wurde bereits 1878 in der Reichsgewerbeordnung als Teil des Arbeiterinnenschutzes institutionalisiert, 1927 wurde das erste Mutterschutzgesetz beschlossen. Mit dem Gesetz von 1952 wurde der Mutterschutz bundesweit vereinheitlicht. Zweitens schreibt Merith Niehuss: "Der besondere Schutz, dem nach dem Grundgesetz von 1949 die Familie unterstand, erstreckte sich nur auf familiäre Formen des Zusammenlebens. Das uneheliche Kind unterstand im Umkehrschluss nicht dem besonderen Schutz des Grundgesetzes und war damit in der Praxis deutlich schlechter, auch rechtlich schlechter gestellt als das eheliche" (S. 19). Die rechtliche Schlechterstellung nicht ehelicher Kinder beruhte aber nicht auf dem Grundgesetz, wie die Autorin meint, sondern auf den seit 1900 unveränderten Regelungen des Nichtehelichenrechts im Bürgerlichen Gesetzbuch, das erst 1969 reformiert wurde. Das Grundgesetz räumte nicht nur ehelichen Familien, sondern auch nicht ehelichen Kindern eine Schutzvorschrift ein (Artikel 6 Absatz 5 GG): Der Verfassungsauftrag ging dahin, ihnen die gleichen Bedingungen für ihre Entwicklung einzuräumen wie ehelichen Kindern. Das war in der Tat kein Gleichstellungsgebot, aber ein Reformauftrag an den Gesetzgeber. Das Spannungsverhältnis beider Grundgesetznormen prägte die Reformdebatten der 60er-Jahre maßgeblich.

Zusammenfassend hätte man sich eine Erörterung des Verhältnisses von Kontinuität und Wandel des als "Nachkriegsepoche" gefassten Zeitraumes zwischen 1945 und 1960 gewünscht. Denn während einige Lebensbereiche noch Mitte der 50er-Jahre den Bedingungen der Nachkriegsjahre unterlagen (so Niehuss), zeichnete sich, wie die gegenwärtige Forschungsdiskussion betont, in anderen Bereichen bereits der Beginn eines dynamisierten Wandels ab, der sich in den 1960er- und 1970er-Jahren auf verschiedenen gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Ebenen vollzog und die Lebensbedingungen der westdeutschen Bevölkerung tief greifend verändern sollte. Zweifellos ist die Studie auf Grund ihrer fundierten Datenbasis ein unerlässliches Handbuch und Standardwerk zur Geschichte der Familie in der Nachkriegszeit und der frühen Bundesrepublik.

Sybille Buske, Freiburg i. Br.


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