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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ralf Engeln, Uransklaven oder Sonnensucher? Die Sowjetische AG Wismut in der SBZ/DDR 1946-1953 (= Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Band 19), Klartext Verlag, Essen 2001, 299 S., geb., 37,90 Euro.

Die Wismut AG war das größte Industrieunternehmen der DDR. Auf dem Höhepunkt ihrer Expansion Anfang der fünfziger Jahre zählte sie ca. 200 000 Beschäftigte. Selbst wenn man die Beschäftigten des in der DDR gewiss nicht kleinen Braunkohlenbergbaus, des Kalibergbaus und des Steinkohlenbergbaus zusammenrechnet, kommt man nicht auf diese Zahl. Bereits dies unterstreicht die überragende Bedeutung der Wismut AG. Das von diesem Unternehmen in Sachsen und später auch in Thüringen mit immensem Aufwand gewonnene Uranerz war das wichtigste Reparationsgut der SBZ/DDR.

Die Geschichte des Bergbaugiganten wurde bis 1990 weitgehend tabuisiert. Bis Ende 1953 gehörte der Betrieb zu 100 Prozent der UdSSR und wurde vom sowjetischen Geheimdienst geleitet. Die Wismut AG war der größte sowjetische Auslandsbetrieb und der mit Abstand wichtigste Uranproduzent im gesamten Ostblock. Nach dem Ende der Reparationsleistungen wurde 1954 die Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft (SDAG) Wismut gegründet. Die DDR war seitdem Miteigentümer. An den strengen Geheimhaltungsbestimmungen änderte dies wenig. Als der bekannte Regisseur Konrad Wolf 1958 seinen Film "Sonnensucher" drehte, der das Leben der Bergleute thematisierte, musste er erleben, wie der Streifen auf Grund eines sowjetisches Einspruchs aus den Kinos verschwand und erst 1972 wieder aufgeführt werden durfte. Dabei war der Film keineswegs systemkritisch angelegt, aber die relativ offene Schilderung des Alltags in der "Uranprovinz" und des Sicherheitsregimes in den Gruben ging sowjetischen Diplomaten zu weit.

Erst nach dem Ende der DDR wurde ein offener Umgang mit der Geschichte des ostdeutschen Uranerzbergbaus möglich. Ralf Engeln hat wohl auch deshalb seinen Buchtitel in Anlehnung an den Filmtitel von Konrad Wolf und an ein Schlagwort des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher gewählt. Schumacher sprach nämlich 1947 von den "Uransklaven" in der SBZ. Beide propagandistisch aufgeladenen Begriffe – "Sonnensucher" und "Uransklaven" – werden der Arbeits- und Lebenswelt der Wismut-Kumpel nicht gerecht. Dessen ist sich Engeln bewusst und setzt ein Fragezeichen hinter den Titel. Beim vorliegenden Buch handelt es sich um die überarbeitete Fassung seiner an der Ruhr-Universität Bochum verteidigten Dissertation. Dort besitzt die stark sozialhistorisch ausgerichtete Montangeschichtsschreibung eine große Tradition. Diesem Ansatz folgt der Autor. Das widerspiegelt sich vor allem in seinen Untersuchungsschwerpunkten. Im Mittelpunkt stehen die Rekrutierung von Arbeitskräften für den Bergbau, ihrer sozialen Lage und die Konflikte zwischen Belegschaft und Objektleitungen.

Auf der Grundlage profunder Quellenkenntnisse bietet Engeln wohlweislich keine Gesamtdarstellung der Unternehmensgeschichte an, sondern eine Sozialgeschichte der Uranbergleute von 1946 bis Mitte der fünfziger Jahre. In der konsequenten Konzentration auf sozialgeschichtliche Fragestellungen besteht einer der größten Vorzüge der Monographie. Das Buch ist in drei unterschiedlich lange Kapitel untergliedert. Im ersten knapp gehaltenen Kapitel wird unter der nicht sonderlich gelungenen Überschrift "Der Krieg als Vater des Strukturwandels" die Entstehung der Wismut AG und ihre Entwicklung bis 1953 abgehandelt. Für den Einstieg in das eigentliche Thema genügt diese Darstellung. Engeln gibt einen komprimierten, im Detail leider nicht immer fehlerfreien Überblick. Beispielswweise schreibt er, dass es zum "industriellen Siegeszug der jungen Bergbauproduktion" erst nach der Entdeckung der Kernspaltung kam. Doch genau dies war nicht der Fall. Uranerze wurden im Erzgebirge, wenn auch nur in geringen Mengen, bereits lange vor 1939 abgebaut.

Manche journalistische Formulierung passt nicht zu dem ansonsten sehr gut geschriebenen Buch. So wird der erste sowjetische Generaldirektor der Wismut AG, NKVD General Malcev, vom Autor als "Generalkonsul" bezeichnet, wohl in der Absicht, seine Sonderstellung in der SBZ/DDR hervorzuheben. Wer die Entstehungsgeschichte und Strukturen der Wismut AG genauer kennen lernen möchte, sei auf die von der Wismut GmbH 1998/99 herausgegebene CD-Rom "Chronik der Wismut" verwiesen. Im zweiten Kapitel werden die Auswirkungen des Uranbergbaus auf den Arbeitsmarkt untersucht. Engeln behandelt dabei das wirtschaftspolitische Konzept des Vorrangs der Schwerindustrie, die Dienstverpflichtungen zum Uranbergbau, die Mobilisierung von Freiwilligen und die Belegschaftsentwicklung.

Die Darstellung basiert im wesentlichen auf der Auswertung der umfangreichen Akten der Industriegewerkschaft Bergbau (IGB) bzw. der Industriegewerkschaft Wismut (IGW), des Ministeriums für Arbeit- und Sozialfürsorge der Sächsischen Landesregierung, der Hauptverwaltung Arbeit und Soziales der Deutschen Wirtschaftskommission (DWK) und der Gebietsleitung der SED. Wenn der Autor von einer vollständigen Sperrung der russischen Quellen spricht, so macht er es sich etwas zu einfach. Unter anderem sind die kompletten Jahresberichte der sowjetischen Generaldirektion im Archiv der Wismut GmbH zugänglich und dazu auch noch einige andere russische Archivalien sowie eine 1995 vom russischen Atomministerium herausgegebene und ins Deutsche übersetzte Geschichte des sowjetischen Atomprojektes. In diesem Werk findet sich auch ein längerer Abschnitt über den sowjetischen Uranbergbau. Wünschenswert wäre auch die Auswertung der umfangreichen Aktenbestände des Ostbüros der SPD, der OMGUS-Unterlagen und der Akten von SED-Politbüromitgliedern gewesen.

Erstaunlich gehaltvoll ist der vom Autor aus Gewerkschaftsunterlagen gewonnene Extrakt. Im Gegensatz zur öffentlichen Wahrnehmung des FDGB als Erfüllungsgehilfen der SED, haben Gewerkschaftsfunktionäre in der ersten Nachkriegsjahren eine entscheidende Rolle bei der Verhinderung von Gulag ähnlichen Verhältnissen im Erzgebirge gespielt und zur Stabilisierung der sozialen Verhältnisse im Uranbergbau beigetragen. Dies wird überzeugend belegt. Zu den stärksten Abschnitten gehören die Schilderungen des stürmischen Wachstums der Bergbaukreise, der Mechanismen der Arbeitskräftelenkung, der Gründe für das baldige Auslaufen der Zwangsverpflichtungen und der von der Wismut AG ab 1948 immer spürbarer ausgehenden Sogwirkung. All das ist gut fundiert und sachlich dargestellt. Ausgesprochen angreifbar ist allerdings die Argumentation des Autors bezüglich der Beschäftigung von "politischen Strafarbeitern" im Abschnitt "Zur Bewährung in die Wismut". Er vermag dafür keine Belege, geschweige denn Zahlen anzuführen, sondern verweist lediglich auf das Schicksal des Chefredakteurs der Parteizeitung "Neues Deutschland", Lex Ende. Der war in Ungnade gefallen und zur Wismut AG strafversetzt worden, wo er 1951 unter ungeklärten Umständen verstarb. Ohne Zweifel ein tragisches Schicksal, aber nicht repräsentativ. Es war ja gerade eine Eigenheit der Wismut AG, dass sich sowohl die sowjetischen Direktoren, als auch deutschen Partei- und Gewerkschaftssekretäre wiederholt gegen den Einsatz von Strafgefangenen im Uranbergbau aussprachen. Als Begründung dafür dienten die strengen Sicherheitsbestimmungen und auch ein zunehmendes Avantgarde-Gefühl, das der Autor an anderer Stelle beschrieben hat.

Höchst kompliziert ist der Versuch einer Rekonstruktion der Belegschaftsentwicklung zwischen 1946 und 1953, und dies aus mehreren Gründen. Zu recht weist Engeln auf die Tücken der Statistiken der Arbeitsämter und der Wismut AG hin - Doppelzählungen, Massenflucht von Arbeitern und das Nichterfassen von Vermittlungen privater Werber gehören dazu. Auf der Grundlage umfangreichen statistischen Materials der DWK und der IGW hat er die jährlichen Zu- und Abgänge erfasst – eine mühevolle Kärrnerarbeit. Was leider völlig fehlt, das ist die Auseinandersetzung mit den von anderen Autoren aufgestellten Statistiken. So finden sich in der "Chronik der Wismut" vor allem für die Jahre 1949 bis 1953 stark abweichende Werte. Doch weder die von den Chronikautoren noch die von Engeln gewählte Methode der selektiven Datenaufbereitung vermag ganz zu überzeugen. Es geht nicht um die Frage, ob jeweils die Daten der Arbeitsämter, der IGW, der DWK, der SMAD oder der sowjetischen Generaldirektion die "besseren" sind, sondern um ein möglichst umfassendes Abgleichen aller dieser Quellen. Diese Arbeit bleibt noch zu leisten.

Nur auf ein Detailproblem sei verwiesen – und dies betrifft die Nichtberücksichtigung der hohen Flüchtlingszahlen im Jahr 1947. Engeln legt seiner Statistik die Zahlen der von den Arbeitsämtern zur Wismut AG Vermittelten zugrunde und kommt für 1947 auf ca. 40.000 Neueinstellungen. Von diesen ganz überwiegend Zwangsvermittelten flüchtete aber nachweislich mindestens jeder Zweite, oft noch vor Arbeitsantritt, sodass die tatsächliche Belegschaftszahl 1947 deutlich unter der vom Autor genannten gelegen haben muss. Zuzustimmen ist dem Autor wenn er in der Zusammenfassung des zweiten Kapitels von einer Industrialisierung zuvor unterentwickelter Gebiete im Schnellverfahren schreibt. Gelungen ist auch die Darstellung des Wechsels von den Zwangsverpflichtungen zur Freiwilligkeit und der Beschäftigung von Frauen bei der Wismut AG. Den Thesen, dass die Wismut AG ein "irrationaler Störfaktor auf dem ostzonalen Arbeitsmarkt" gewesen sei, und dass ohne die Vertriebenen der Uranbergbau "nicht oder nur als Gulag" hätte betrieben werden könnten, vermag der Rezensent hingegen nicht zu folgen. Es stimmt: von den Arbeitskräfteanforderungen der Wismut AG gingen nachhaltige Belastungen für die Arbeitsämter in der gesamten SBZ aus, doch diese waren nicht "irrational" sondern von der Besatzungsmacht gewollt. Die Sowjetunion brauchte das Uranerz aus Sachsen buchstäblich um jeden Preis. Wieso der Bergbau ohne den Zustrom von Vertriebenen nicht hätte funktionieren sollen, bleibt unklar. Ihr Anteil an den Belegschaften lag nach den eigenen Angaben des Autors in anderen Branchen wesentlich höher als im Uranbergbau.

Das dritte Kapitel "Staat im Staate" widerspiegelt nochmals die Stärken der Bochumer Schule. Engeln analysiert die Sonderstellung der Parteiorganisation der SED bei der Wismut AG, die frühzeitig auf ihre Emanzipation von den neben- bzw. übergeordneten Kreis- und Landesstrukturen drängte. Auf der ersten Blick erstaunlich ist der niedrige Organisationsgrad sowohl der SED als auch der IGB bzw. IGW im Uranbergbau. Dieses Phänomen wird von Engeln schlüssig erklärt. Weder Partei noch Gewerkschaft konnten in den ersten Jahren organisatorisch mit dem stürmischen Wachstum des Unternehmens mithalten. Zudem bot allein schon ihre große Zahl den Bergleuten bessere Möglichkeiten, sich der politischen Vereinnahmung zu entziehen. Gut geschildert werden die Spannungen zwischen der SED-Leitung der Wismut AG und der Gewerkschaftsleitung unter Richard Leppi. Sehr informativ sind auch die Abschnitte über das Ende des Tarifvertrages, die Naturalprämien, die Wohnungssituation, die Wettbewerbsbewegung und die Lohnkämpfe. Eine Fundgrube, nicht nur für den sozialhistorisch interessierten Leser. Demgegenüber fällt der letzte Abschnitt über das Unfallgeschehen und die Strahlenrisiken zu kurz aus und lässt wichtige Fragen offen.

In seiner Schlussbetrachtung vertritt Engeln die These, dass die Wismut AG, trotz der Abschottung und vieler Sonderregelungen, ein "normaler" Betrieb gewesen sei und dass bei ihr von einem Gulag-System keine Rede sein könne. Dieser Bewertung ist zuzustimmen. Im Bestreben nach Originalität vergleicht Engeln den Uranerzbergbau mit anderen sowjetischen industriellen Großprojekten, und schreibt von "Größenwahn" und "Pyramiden". Das sind dann doch etwas zu platte Analogien. Weder bei der Stahlindustrie, noch bei den Werften und auch nicht beim Uranbergbau handelte es sich um "Kunstprodukte des Kalten Krieges", sondern um sehr reale Großbetriebe. Richtig ist, dass der Kalte Krieg dem Ausbau dieser Industrien eine Dynamik verlieh, die es ansonsten so nicht gegeben hätte.

Ein Vergleich mit der Industriegeschichte der "Tigerstaaten" in Asien – die in den fünfziger Jahren wohl eher als Militärdiktaturen, denn als Demokratien zu bezeichnen sind – zeigt im übrigen, dass sich auch dort Stahlindustrie und Schiffbau äußerst erfolgreich entwickelten. Der Unterschied zum sowjetischen Industrialisierungsmodell bestand weniger im Entstehen und stürmischen Wachstum dieser Branchen als vielmehr darin, dass die regulierten Marktwirtschaften eher in der Lage waren, die einmal geschaffenen Strukturen wieder zurückzubauen und über ausreichende innere Mechanismen für einen Strukturwandel verfügten. – Ein knapper Dokumentenanhang schließt den Band ab. Die frühen Jahre der Wismut AG können inzwischen als gut untersucht gelten. Engeln hat dafür mit seiner Monographie einen wichtigen Beitrag geleistet.

Rainer Karlsch, Berlin





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