ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Richard Strebel, Geschichten aus meinem Leben. Sowjetunion 1933-1955, Fouqué Verlag, Egelsbach 2001, 372 S., brosch., 18,40 EUR.

Das Interesse der Historiker zur Geschichte der Deutschen in der Sowjetunion während der stalinistischen Diktatur bleibt nach wie vor groß. Darüber ist schon recht viel publiziert worden, sowohl von den Wissenschaftlern als auch von den Zeitzeugen. Das Leben in der sowjetischen Kolchose aus der Sicht eines deutschen Bauern wurde aber bisher noch nie so umfangreich gezeigt wie in den Erinnerungen von Richard Strebel. Das Buch umfasst eine lange Zeitperiode: 22 Jahre des Lebens des Verfassers vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, die er als Kind und Jugendlicher in der Sowjetunion erlebt hat. Geboren im August 1934 in Novograd-Wolynsk, Ukraine, als erster Sohn eines mittelständischen deutschen Bauern, hat er die Auswirkungen der zu dieser Zeit stattfindenden Prozesse miterlebt. Das Buch ist in vier Abschnitte aufgeteilt. Den ersten bilden die vom Autor aufbewahrten Erinnerungen seiner Mutter, die ihm von der Kollektivierung, der Versetzung der Familie 1935 in ein Dorf nicht weit von Charkow, der Antireligionskampagne, den zwei Verhaftungen und der späteren Verschleppung seines Vaters zur Zwangsarbeit, bei der er erkrankte und vermutlich starb, und der Flucht der Familie nach Kasachstan zu den Verwandten, erzählt hat. Das umfangreiche Kapitel ist dem Aufbau des Dorfes Nagornoe gewidmet, der von den im Frühjahr 1936 aus der Ukraine nach Kasachstan versetzten Deutschen und Polen in der Steppe unter den unvorstellbar schwierigen Bedingungen durchgeführt wurde; viele von ihnen mussten dabei ihr Leben lassen.

Mit der Ankunft in Nagornoe 1939 beginnt der zweite Abschnitt – "Bilder der Kindheit". Anhand seiner subjektiven Darstellung gibt Strebel dem Leser einen Einblick in das Leben unter einfachsten Verhältnissen, das ohne Pässe, mit weniger Freiheit und unter der ständigen Beobachtung der Kommandantur ablief. Er beschreibt die Wohnverhältnisse und das Essen, die Nachbarschaft, tägliche Beschäftigungen der Erwachsenen und Kinder, wie gearbeitet, gespielt und gefeiert wurde. Er stellt seine damaligen Eindrücke vom Krieg, von den Evakuierten und Deportierten dar.

Mit 12 Jahren begann Strebel schon in der Kolchose zu arbeiten, und deswegen schätzte er sich selbst als Jugendlicher ein. Aus diesem Grund eröffnet die entsprechende Geschichte den dritten Abschnitt seiner Erinnerungen – "Bilder der Jugend", der einen Schwerpunkt des Buches bildet. Es gelingt dem Autor die Lebenswirklichkeit der sowjetischen Kolchose und die neuen Familienverhältnisse, d.h. das Leben zusammen mit dem Stiefvater, bewegend wiederzugeben. Es handelt sich sowohl um die schwere Nachkriegszeit, in der meistens die Kinder und Jugendlichen auf den Feldern mit Pferden und Ochsen die Arbeiten verrichteten, als Steuern oder "freiwillige" Abgaben, Naturalsteuern usw. zur Verschuldung vieler Familien führten, und die "Sünder" aus der Kolchose vertrieben wurden, als auch um die bessere Zeiten Anfang 50er Jahren, als das Lebensniveau in der Kolchose zu steigen begann.

Im letzten Abschnitt des Buches "Bilder aus der Erwachsenenzeit" befasst sich der Autor mit der Geschichte der Kolchose vom 1952, als der Kolchosevorsitzende Poleschjuk, dessen Regierungsmethoden und Machenschaften Richard Strebel gründlich darstellt, abgesetzt und nach Stalins Tod vor Gericht gestellt wurde, bis zur Abschaffung der Kommandantur, als viele Häftlinge aus dem Gefängnis zurückkehrten und die Bauern mehr Freiheit, aber immer noch keine Reisepässe erhielten. Mit der Abschaffung der Kommandantur 1955 endet der Autor seine Erinnerungen.

Die Veröffentlichung von Strebel bietet einen tiefen Einblick in das alltägliche Leben eines Bauern deutscher Abstammung im Umfeld der Vor- und Nachkriegsgeschichte der UdSSR. Anhand seiner Ausführlichkeit und der großen Offenheit der Erzählungsweise lässt sich sein Werk als ein überaus nützlicher Beitrag eines Zeitzeugen zur Geschichte der Deutschen in der stalinistischen Sowjetunion bezeichnen.

Sofia Dmitrieva, Bonn/Woronesh


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