ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Wolf Gruner, Öffentliche Wohlfahrt und Judenverfolgung. Wechselwirkung lokaler und zen-traler Politik im NS-Staat (1933-1942) (= Studien zur Zeitgeschichte, Band 62), R. Oldenbourg Verlag, München 2002, 362 S., geb., 49,80 EUR.

Lebensbedingungen und Repression der jüdischen Bevölkerung in Deutschland während der NS-Diktatur wurden Vergangenheit in zahlreichen Studien untersucht. Die Gruppe jüdischer Wohlfahrtsempfänger wurde dabei jedoch weitgehend vernachlässigt. Dementsprechend war die Tatsache, dass Juden überhaupt öffentliche Fürsorge erhielten, kaum bekannt. Wolf Gruner, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität in Berlin, kommt das Verdienst zu, diesem Missstand abgeholfen und die Situation jüdischer Wohlfahrtsempfänger ins Bewusstsein gerufen zu haben. Seine gründlich recherchierte Monographie beleuchtet nicht nur die Lebensverhältnisse der jüdischen Armutsbevölkerung seit 1933, sondern nimmt auch das Zusammenwirken von lokaler und zentraler Politikebene bei ihrer Diskriminierung und Verfolgung in den Blick.

Nach einer Einleitung, die einen kenntnisreichen Überblick über Forschungsstand und Quellenlage enthält, behandelt Gruner das Thema in sechs chronologisch angeordneten Hauptkapiteln. Diese werden immer wieder durch Exkurse zur "Arisierung" mildtätiger Stiftungen, zur Fürsorgepolitik gegenüber "Zigeunern", zur Lage der jüdischen Wohlfahrtsempfänger in Wien und zur Behandlung der "Mischlinge" in der Fürsorgeerziehung ergänzt. Obwohl die Weimarer Fürsorgebestimmungen zunächst beibehalten wurden, verschlechterte sich die Situation für jüdische Wohlfahrtsempfänger im Jahr 1933 bereits dramatisch. Durch die "Säuberungen" der Wohlfahrtsämter und Stadtverwaltungen von oppositionellen Kräften einerseits und die Bildung des Deutschen Gemeindetages (DGT) als nationalsozialistisch ausgerichtetem Interessenverband der Kommunen andererseits war erreicht worden, dass die Durchführung der öffentlichen Fürsorge vor Ort fast ausnahmslos im antijüdischen Sinne erfolgte. Sonderleistungen, die deutsche Fürsorgeempfänger erhielten, wurden Juden oftmals gestrichen. Schikanen, wie der Behandlungszwang jüdischer Patienten durch jüdische Ärzte oder das Verbot für Hilfsbedürftige, städtische Gutscheine bei jüdischen Geschäften einzulösen, gehörten vielfach zur Praxis der Wohlfahrtsämter. Die zunehmenden Ausgrenzungs- und Verfolgungsmaßnahmen durch das Regime hatten zur Folge, dass die Zahl jüdischer Fürsorgeempfänger trotz einsetzender Emigration anstieg.

Nach den "Nürnberger Gesetzen" im September 1935, die Juden zu Bürgern zweiter Klasse degradierten, verschärfte sich die Repression. Das Instrument der Pflichtarbeit für Fürsorgeempfänger wurde ausgeweitet, Juden aus dem "Winterhilfswerk des deutschen Volkes" (WHW) ausgeschlossen, mildtätige jüdische Stiftungen "arisiert" und Juden auf vielfältige Weise separiert. Diese antijüdischen Maßnahmen standen jedoch im Widerspruch zum angestrebten Ziel der Vertreibung der Juden aus Deutschland, denn gerade die zunehmende Verarmung der jüdischen Bevölkerung hinderte sie daran, die für eine Emigration erforderlichen Mittel aufzubringen. Ab Sommer 1937 forderte der Deutsche Gemeindetag gesetzgeberische Maßnahmen, um hilfsbedürftige Juden von den bisher noch gewährten Fürsorgeleistungen für deutsche Staatsbürger (z.B. der "gehobenen Fürsorge") ausschließen und minderprivilegierten Ausländern gleichstellen zu können. Es dauerte jedoch bis zum November 1938, bis im Zuge der so genannten "Reichskristallnacht" die "Verordnung über die öffentliche Fürsorge für Juden" erlassen wurde. Diese Verordnung zielte darauf ab, Juden aus der öffentlichen Fürsorge herauszudrängen und sie in eine noch zu gründende "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" zu überführen. In der "Reichsvereinigung", die unter Kontrolle der Sicherheitspolizei stand, hatte die jüdische Wohlfahrtspflege allein die Mittel zur Unterstützung der jüdischen Armutsbevölkerung aufzubringen.

Viele Städte stellten nach Erlass dieser antijüdischen Verordnung vom November 1938 die Fürsorgeleistungen ungeachtet der Tatsache ein, dass die Kapazitäten der jüdischen Wohlfahrtspflege bei weitem nicht ausreichten und die "Reichsvereinigung" erst im Aufbau begriffen war. Dieser "chaotische Zwangstransfer der Fürsorgepflicht" (S. 177) führte zunächst zu einem konfliktreichen Nebeneinander von öffentlicher und jüdischer Wohlfahrtspflege, bei dem die hilfsbedürftigen Juden die Leidtragenden waren. Regional verlief der "Zwangstransfer" unterschiedlich. Während man in Bayern im Frühjahr 1939 nur noch 82 Juden öffentliche Fürsorgeleistungen gewährte, wurde in Berlin die Unterstützung von über 2.800 bedürftigen Juden bis zum Abschluss des "Zwangstransfers" im Januar 1941 fortgesetzt. Kurzfristig trug seitdem die "Reichsvereinigung" die gesamte offene Fürsorge für Juden allein, ehe seit Herbst 1941 die Massendeportationen einsetzten, die für viele Juden den Tod bedeuteten. Allerdings war es bereits im Verlauf des Jahres 1940 zur Ermordung von 4.000 bis 5.000 jüdischen Patienten in Heil- und Pflegeanstalten des "Reiches" gekommen.

Gruner rundet seine detaillierte und überzeugende Untersuchung mit einer "Schlußbetrachtung", zehn Tabellen über Juden in der öffentlichen Fürsorge, Quellen- und Literaturverzeichnis sowie Personenregister und Ortsverzeichnis ab. Wenige Einzelheiten sind zu berichtigen: die "Arbeiterwohlfahrt" gehörte in der Weimarer Republik der "Liga der freien Wohlfahrtspflege" nicht an (S. 29), "Sozialhilfeempfänger" gab es in der NS-Zeit noch nicht (S. 35, 102, 136), einen Rechtsanspruch auf Fürsorge sah die "Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht" vom 13. Februar 1924 nicht vor (S. 35, 103, 315, 330) und die Tabelle "Laufend in Offener Fürsorge bar unterstützte Parteien am 31. März 1939" (S. 200) ist fehlerhaft. Die dortigen Zahlenangaben in Spalte fünf können sich nicht allein auf jüdische Fürsorgeempfänger, sondern nur auf die Gesamtzahl aller Fürsorgeempfänger bzw. der Parteien in Deutschland beziehen (vgl. Tabelle 6, S. 336). Der Einbau eines Sachverzeichnisses wäre wünschenswert gewesen. Eine Bündelung der zahlreichen Exkurse – von denen besonders diejenigen zur Situation der jüdischen Fürsorgeempfänger in Wien höchst aufschlussreich sind – hätte die Geschlossenheit der Darstellung erhöhen können.

Ungeachtet der genannten Kritikpunkte hat Gruner eine wertvolle Studie vorgelegt, die vor allem durch die Verwendung umfangreicher Aktenbestände aus insgesamt 27 Archiven imponiert. Auf dieser Basis gelingt es ihm, die Fürsorgeaktivitäten der lokalen Ebene nahezu lückenlos zu dokumentieren und den Nachweis zu führen, dass der Deutsche Gemeindetag als Repräsentant der Kommunen nicht selten radikalere Positionen vertrat als die NS-Führung. Die Verantwortung lokaler Behörden an der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung wird somit zukünftig stärker zu gewichten sein, als dies bislang oftmals der Fall war. Bemerkenswerter Weise befanden sich unter den involvierten Bürokraten vor Ort auch Fachleute, die nicht der NSDAP angehörten. Die Motive für ihre aktive Beteiligung waren vielschichtig und sind nicht leicht zu erfassen, doch scheint die vergleichsweise geringe Zahl der Fürsorge beziehenden Juden dafür zu sprechen, dass es diesen lokalen Größen weniger um das Einsparen von kommunalen Mitteln ging, sondern dass sie die rassistische Nazi-Ideologie teilten und sie aus innerer Überzeugung die Verfolgung jüdischer Mitbürger guthießen.

Matthias Willing, Bamberg





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