ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Richard Faber/Christine Holste (Hrsg.), Der Potsdamer Forte-Kreis. Eine utopische Intellektuellenassoziation zur europäischen Friedenssicherung, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2001, 243 S., kart., 35 EUR.

Der von dem holländischen Dichter und Lebensreformer Frederik van Eeden inspirierte, geistesaristokratisch ausgerichtete Forte-Kreis erhob den Anspruch, eine übernationale und bundhafte Selbstorganisation der Intelligenz, einen Lebensbund, aufzubauen mit dem Ziel, gerade in einer Atmosphäre eskalierender Spannungen zwischen den europäischen Großmächten politische Grenzen vorurteilslos zu überwinden. Acht Intellektuelle sehr unterschiedlicher politischer, ästhetischer, weltanschaulicher Anschauungen fanden sich ab 1910 neben van Eeden zusammen: der Berliner Privatgelehrte Erich Gutkind, der Theologe Martin Buber, der Anarchist Gustav Landauer, der schwedische Psychologe Poul Bjerre, der preußische Regierungsrat Florens Christian Rang, der niederländische Sinologe und Kolonialbeamte Henri Borel und der Dichter Theodor Däubler. Romain Rolland, Walther Rathenau, Wassily Kandinsky und andere gehörten zu den Inspiratoren und zum Freundschaftskreis dieser lockeren Intellektuellenvereinigung, die sich ab 1910 formierte, sich erst zu Pfingsten 1914 in Potsdam offiziell konstituierte und sich in Vorwegnahme ihres für September 1914 im italienischen Fischerhafen Forte die Marmi geplanten Folgetreffens Forte-Kreis nannte. "Fortiter", kühn und mutig zu handeln, beschrieb zugleich das aktivistische Ideal dieser Intellektuellenassoziation – ein Anspruch freilich, der von den Mitgliedern nur unzulänglich eingelöst wurde. Die Bedeutung jedes Intellektuellen für sich, zudem das weit verzweigte Beziehungsgeflecht zu renommierten Geistesgrößen der Zeit, begünstigt durch eine zwar verwirrende, aber recht gute Quellenüberlieferung, macht es prinzipiell lohnend, sich mit dem Plan einer zivilen, überstaatlichen geistigen Organisation trotz ihres frühen Scheiterns zu beschäftigen, zumal man sich Einblicke in die konfligierenden Mentalitäten von 1914 versprechen kann.

Die Berliner Kultursoziologin Christine Holste hat bereits 1991 an der FU Berlin eine Dissertation über den Forte-Kreis eingereicht [ Christine Holste, Der Forte-Kreis (1910-1915). Rekonstruktion eines utopischen Versuchs, Verlag M & P/Verlag für Wissenschaft und Forschung, Stuttgart 1992.] und zusammen mit Richard Faber einen Sammelband über moderne Intellektuellenassoziationen herausgegeben. [ Richard Faber/Christine Holste (Hrsg.), Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziationen, Königshausen & Neumann, Würzburg 2000. ] Ihre Dissertation hat sie mit dem Untertitel "Rekonstruktion" versehen, um offensichtlich auf das Unfertige und Vorläufige ihrer soziologisch-historischen Recherchen und ihres meist biografischen Zugangs zu verweisen. Für den hier vorliegenden Sammelband, an dem 15 Autoren mitgearbeitet haben, gilt dies in gleicher Weise. Eine umfassende, das Themenfeld weitgehend abschließende Monografie ist nicht zu erwarten, vielmehr sind die fassettierten Suchbewegungen der einzelnen Beiträger, z.T. die Vorläufigkeit ihrer Thesen und Darstellungen, spürbar. Angesichts eines lockeren Bundes von Individualisten mit weit verzweigten persönlichen Kontakten ist dies wohl auch nichts anders zu erwarten. Ohnehin war ein Puzzle aus verschiedenartigen Quellen über einen Bund divergierender Intellektuellentypen mit widerstreitenden Konzepten von progressiv bis konservativ zusammenzufügen, der über seinen Gruppenbildungsprozess nur unwesentlich herausgekommen ist und an seinem Versuch der Selbsterhaltung nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges scheiterte.

Der vorliegende mosaikartig zusammengestellte Band ist Ergebnis einer Tagung des Moses Mendelssohn Zentrums an der Universität Potsdam 1997. Er beleuchtet zum einen die Zeiterfahrung von herausragenden Intellektuellen vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, erkennt in dem gesinnungsethischen tolstoianischen Pazifismus eine Wurzel des Bundes, untersucht Vorläufer und Parallelaktionen zur Bundesgründung, beschreibt dann schwerpunktmäßig Aspekte der Biografie von Mitgliedern des Bundes wie solchen, die eher an der Peripherie dieser Vereinigung anzusiedeln sind. Mit diesen Beiträgen, die mitunter bedauerlicherweise den Vortragscharakter beibehalten haben, wird die breite Palette von intellektuellen Anregungen, die von den einzelnen Mitgliedern ausgingen, recht instruktiv deutlich. Zugleich wird die Überspanntheit dieser Intellektuellen erkennbar, die zu politischer Ekstase und Schwärmerei neigten.

Es ist bedauerlich, dass Christine Holste als entscheidende Sachverständige für den Forte-Kreis einen sehr kursorischen, fast thesenhaften Beitrag liefert, dem es nur in Ansätzen gelingt, über Organisation und Leistung des Bundes zu informieren, und die notwendigerweise sehr unterschiedlichen Aufsätze zu integrieren, zuzuordnen, zu interpretieren und auf die Kernaussage zu reduzieren. Die Zusammenstellung des Bandes erscheint recht beliebig. Der Sammelband liefert, ganz anders als es der Titel verspricht, keine dichte Organisations- und Ideengeschichte des Forte-Kreises. Eine historische Anthologie im üblichen Sinne wird nicht vorgelegt. Die Darstellung franst mitunter aus, weil nicht nur solche Persönlichkeiten im Mittelpunkt stehen, die zum Kern des Kreises gehörten, sondern auch solche, die nur zur Peripherie gehörten wie der deutsch-jüdische Arzt, Soziologie und Nationalökonom Franz Oppenheimer.

Der Kreis zerbrach, kaum gegründet, an den inneren Widersprüchen zwischen den Bundesmitgliedern, an der Friedensfrage, an der Frage der Kriegsauslösung und Schuld am Friedensbruch. Rang und andere huldigten einem weit verbreiteten Hurra-Patriotismus, der z. B. Landauer veranlasste, sich vom Forte-Kreis zu distanzieren. Ideologische Differenzen zwischen den Mitgliedern, überzogener Individualismus und widrige Zeitumstände, die den Intellektuellen bestenfalls im Kreis Rückzugsmöglichkeiten, einen Gegenort zur gesellschaftlichen Wirklichkeit boten, ließen den Bund sehr rasch zerfallen. Auf der Folie der Diskussionen und Aktivitäten des Forte-Kreises können ideengeschichtliche, mentalitätsgeschichtliche, soziologische Problemlagen von Intellektuellen vor dem Ersten Weltkrieg gut verdeutlicht werden, ganz ohne Zweifel. Dennoch: Vermutlich werden viele Leser eher verstört diesen Sammelband zur Seite legen, u. a. weil die eigentliche Klammer für die sehr unterschiedlichen Beiträge fehlt. Mitunter fragt sich der Rezensent, in welcher Weise die Mitarbeiter des Bandes über das hinausweisen, was Christine Holste in ihrer Dissertation bereits grundlegend erarbeitet hat.

Reinhold Lütgemeier-Davin, Kassel





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