ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Armando García Schmidt, Die Politik der Gabe. Handlungsmuster und Legitimationsstrategien der politischen Elite der frühen spanischen Restaurationszeit (1876-1902) (= Forschungen zu Spanien, Band 22), Verlag für Entwicklungspolitik, Saarbrücken 2000, 202 S., kart., 21 EUR.

Die Herrschaft von Oligarchie und Kaziken, gestützt auf ein System des Klientelismus, wurde lange Zeit innerhalb und außerhalb Spaniens in Politik und Geschichtswissenschaft für die verspätete Modernisierung des Landes verantwortlich gemacht. "Die regierenden Eliten wurden für schuldig befunden, den Fortschritt aller zu verhindern [...]" (S. 80). Armando García Schmidt hat es sich hingegen in seiner theoriegeleiteten, klar gegliederten Bielefelder Magisterarbeit zum Ziel gesetzt, die positiven Wirkungen dieses Systems für die Integration der spanischen Gesellschaft herauszuarbeiten.

Nach einer ausführlichen Erörterung verschiedener Theorien des Klientelismus und einer Diskussion des Forschungsstandes analysiert García Schmidt auf der Grundlage von prosopographischen Studien spanischer Autoren das Profil der politischen Elite Spaniens im Untersuchungszeitraum, um schließlich in einer Fallstudie Struktur und Handeln der Parlamentarier aus der Provinz Soria zu behandeln. Ausgangspunkt für die Bewertung des Phänomens "Klientelismus" in Spanien ist für den Autor die These, dass es im 19. Jahrhundert dort "nicht zur Herausbildung separater sozial-moralischer Milieus (kam) [...], sondern viel eher zur Konservierung lokal-moralischer Milieus" (S. 173). Für Wahlentscheidungen spielte die Weltanschauung keine Rolle, stattdessen ging es den Wählern um größtmöglichen materiellen Vorteil für ihre Gemeinde, Region oder Provinz. Dies war ihre Forderung an die Bewerber um einen Parlamentssitz, überbracht von den örtlichen Notabeln. Wer von den Kandidaten die Wünsche am besten zu erfüllen versprach, konnte mit der Unterstützung durch die gesamte Gemeinde rechnen. Da die Durchsetzungsfähigkeit der Parlamentarier eng verbunden war mit Nähe zur Regierung, öffnete dies der Beeinflussung der Wahlen von oben weiten Spielraum. In der Regel war es die Aufgabe des Zivilgouverneurs der Provinz, im Zusammenspiel mit den Notabeln die Wahl der Regierungskandidaten sicherzustellen. "Eine ‚Fundamentalpolitisierung’ der Gesellschaft durch politische Parteien fand in der Restaurationszeit nicht statt" (S. 38). Vielmehr entsprach der personenzentrierte Klientelismus – der durchaus ein neues Phänomen war, erst in der Restauraurationszeit die Bühne betrat – "als Form sozialer Organisation [...] den [traditionellen] Identitätsmustern der Landbevölkerung" (S. 74), die sich an der Familie und am Dorf orientierte.

Die Parlamentarier wirkten als Vermittler zwischen den traditionell verfassten ländlichen Gemeinden, in denen persönliche Abhängigkeitsverhältnisse fortlebten, und dem – jedenfalls im Grundsatz – rational und bürokratisch verfassten Zentralstaat, "dessen Sprache die Gesellschaft nicht verstand" (S. 63). Dies war die positive Integrationsleistung des Klientelismus, die García Schmidt hervorhebt. Die Verbindungen der Politiker zu den lokalen Gemeinschaften basierten auf Netzwerken persönlicher Beziehungen, nicht auf Übereinstimmung in politischen Grundsatzfragen. Um die Verbindungen zu pflegen, praktizierten sie die "Politik der Gabe". Die Gabe konnte im Gunsterweis (z. B. Veranstaltung von Banketten mit lokalen Honoratioren, deren Teilnehmerlisten in Zeitungen publiziert wurden) bestehen oder – bedeutsamer noch – die Durchsetzung materieller Forderungen der Gemeinde(n) bedeuten. Zu Letzterem gehörten insbesondere verbesserte Verkehrswege. Auch die Erledigung von individuellen Bittschriften um Beförderung, Versetzung, Befreiung vom Militärdienst etc. gehörte zu den "Pflichten" der Politiker, die aus diesem System erwuchsen. "Die Befriedigung partikularer und zweckorientierter Interessen war das strukturgebende Element des Handelns und auch der Selbstdarstellung der Politiker der Restaurationszeit" (S. 175). Die Fallstudie des Autors ergibt, dass mehr als die Hälfte der auf Initiative von Parlamentariern eingebrachten und positiv beschiedenen Gesetzentwürfe "konkret auf einen Ort, einen Wahlkreis oder eine Provinz als Empfänger hin ausgerichtet" war (S. 175).

Weltanschauliche Konkurrenz unter Kandidaten für Parlamentssitze war die Ausnahme. "Im Gegensatz zu Deutschland [...] ist für das Spanien der Restaurationszeit eine die gesamte politische Klasse übergreifende Wirklichkeitsdeutung auszumachen" (S. 174). Auch die Verteilung der Parlamentarier auf die verschiedenen Parteien entsprach – jedenfalls bei den großen, sich in der Regierung abwechselnden Parteien – keinen sozioprofessionellen Unterschieden.

Abschließend versucht der Autor, aus seinen Befunden Anregungen für die Geschichtsschreibung des "liberalen 19. Jahrhunderts" abzuleiten. Er tut dies vorsichtig in Frageform. Seiner Ansicht nach sollte stärker als bisher nach den vormodernen Elementen gefragt werden, die die Modernisierungsprozesse überlagerten. Kritisch anzumerken sind nur Desiderata, die über die Fragestellung des Autors (und den Rahmen einer Magisterarbeit) hinausgehen. So wäre es interessant zu erfahren, inwieweit das hier vorgestellte System des Klientelismus auch in den wenigen damals schon industrialisierten Regionen Spaniens und in den Großstädten dominierte. Ein anderer zu vertiefender Aspekt ist der Umgang weltanschaulich geprägter Bewegungen (Sozialisten, Anarchisten, Nationalisten) mit dem System des Klientelismus: Wie versuchten sie, in den ländlichen Gegenden Fuß zu fassen?

Die exzellente Magisterarbeit bietet Historikern, die sich einen Überblick über die spanische politische und Sozialgeschichte um die Jahrhundertwende verschaffen wollen, ebenso einen schnellen Einstieg wie denjenigen, die eine klientelistisch strukturierte politische Kultur kennen lernen wollen.

Bernd Rother, Berlin



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