ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ute Frevert, Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, Verlag C.H. Beck, München 2001, 458 S., geb., 34,90 EUR.

Wie Ute Frevert zu Beginn ihrer Darstellung der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert fest hält, ist diese Institution der Schnittpunkt zweier möglicher analytischer Perspektiven. Zum einen lässt sich die Wehrpflicht, von den Anfängen der Volksbewaffnung in den Kriegen des revolutionären Frankreich ausgehend, als Motor der gesellschaftlichen Mobilisierung für die kollektive Gewaltanwendung nach außen im Zeitalter des Volkskrieges betrachten. In dieser Perspektive steht zur Debatte, inwiefern die kontinuierliche militärische Ausbildung eines großen Teils der jungen Männer die Chancen einer sozialen Mobilisierung für den Krieg und während eines Krieges erhöht, was bereits Friedrich Engels am Beispiel der erfolglosen preußischen Mobilmachungen von 1850 und 1859 diskutiert hat. Diese Frage hat große historische Relevanz, wenn man an die starken Tendenzen zur "Vergesellschaftung der Gewalt" (Michael Geyer) denkt, die sich in den Mobilisierungsprozessen der deutschen Gesellschaft während der beiden Weltkriege abzeichnen und seit etwa einer Dekade Gegenstand intensiver historiographischer Debatten sind. Zum anderen lässt sich der Militärdienst im Hinblick auf die Auswirkungen untersuchen, welche die Einhegung des Potenzials an physischer Gewalt im Binnenraum der militärischen Organisation auf die zivile Gesellschaft hatte. Dieses Problem wird, mit enormen Folgen für die historiographische Diskussion, in der deutschen Zeitkritik seit den 1860er-Jahren unter dem Rubrum "Militarismus" geführt. Mit guten Gründen meidet die Autorin diesen Terminus. Denn diese semantische Innovation hat lange die Frage verdeckt, ob das damit bezeichnete Problem nicht bereits vor der Heeresreform der 1860er-Jahre und der Reichsgründung virulent gewesen sein könnte. Weiterhin fraglich bleibt zudem, wie Ute Frevert zu Recht betont, ob die mit dem Schlagwort des "preußisch-deutschen" Militarismus in der Regel verbundenen Kontinuitätsannahmen einer differenzierten und vergleichenden Analyse standhalten.

Man mag die Unterscheidung zwischen kriegerischer Entgrenzung und institutioneller Einhegung der Gewalt, zwei gerade auch symbolisch zumeist aufeinander bezogenen Prozessen, etwas künstlich finden. Fakt ist jedoch, dass Ute Frevert sich explizit auf die zweite Perspektive konzentriert (S. 14 f.). Dies ist insbesondere gegen jene Rezensenten fest zu halten, die in diesem Buch eine detaillierte Gewalt- und Gesellschaftsgeschichte der beiden Weltkriege vermisst haben und deshalb den erklärtermaßen eher kursorischen Charakter des Kapitels 5 (S. 302-356) bemängeln, das die Gewaltorganisation seit 1918 bis hin zur Gegenwart behandelt. Die Frage nach den Wirkungen der Wehrpflicht auf die zivile Gesellschaft wird von der Autorin in drei Richtungen aufgefächert. Erstens geht es um die Verknüpfung von Wehrpflicht und aktiven staatsbürgerlichen Rechten. Zweitens steht der Zusammenhang zwischen dem Militärdienst und der inneren Nationsbildung, also der Verdrängung oder Überformung lokaler und regionaler politischer Identitäten, zur Debatte. Schließlich geht es um die Wehrpflicht als einen exklusiv männlichen Ort der Vergesellschaftung und deren Rückwirkungen auf die Geschlechterverhältnisse.

Das Buch verfolgt die Ideen der Militärreformer und Militärschriftsteller, die soziale Praxis von Offizieren und Soldaten sowie die populären Repräsentation des Militärs in Liedern, Briefen und Parlamentsreden. Es fußt auf einer sehr breiten Quellengrundlage, die neben der Fülle des gedruckten Materials auch die Bestände der Militärarchive der drei nicht-preußischen Kontingente sowie – als Ersatz für die verlorene preußische Überlieferung – des Geheimen Staatsarchivs in Berlin umfasst.

Die chronologisch gegliederte Darstellung zeichnet zunächst die Triebkräfte für die Einführung der Wehrpflicht in Preußen und den eher steinigen Weg bis zur tatsächlichen Umsetzung dieses Vorhabens in den Konskriptionsgesetzen des Jahres 1813 nach. Gegen das in älteren Darstellungen gesungene Hohe Lied des patriotischen Aufbruchs von 1813 wird eindringlich gezeigt, dass insbesondere die bislang von der Rekrutierung ausgenommenen bürgerlichen Schichten die Inanspruchnahme des eigenen Körpers oder desjenigen ihrer Söhne für die Nation mit Zurückhaltung betrachteten. Auch die symbolische Aufwertung des Soldaten zu einem Rollenmodell für den zivilen Mann kam erst durch die Idealisierung der Befreiungskriege in Gang. Abschnitt II zeichnet die enormen sozialen (und auch finanziellen) Hindernisse auf, die der flächendeckenden Durchsetzung der Konskription im Preußen des Vormärz entgegenstanden. Auch die von den Liberalen als Hort des Bürgersinnes aufgewertete und idealisierte Landwehr konnte sich nur begrenzt auf die praktische Dienstbereitschaft und das Engagement der Bürgersöhne stützen. Angehörige der unterbürgerlichen Schichten konnten die Landwehr jedoch dazu nutzen, um mit ihrem militärischen Status Anerkennung und soziale Ehre im zivilen Leben einzufordern. Dieser Charakter der Wehrpflicht als eines Vehikels der Artikulation von Partizipationsansprüchen hatte auf politischer Ebene auch die Bereitschaft jüdischer Männer zur Folge, durch die Zugehörigkeit zur Armee staatsbürgerliche Rechte einzufordern. Den erfolgreichen Einsatz der Linienarmee bei zahlreichen Unruhen und Protesten im Vormärz sowie deren Immunität gegen die militärpolitischen Forderungen der Revolution von 1848 wertet die Autorin als sicheres Indiz für die Durchsetzung militärischer Normen bei den direkt Betroffenen, wenngleich die habituelle Distanz des Bürgertums noch bestehen blieb.

Den Alternativen und Abweichungen vom Modell der allgemeinen Wehrpflicht außerhalb Preußens geht Kapitel III nach. So behielten die süddeutschen Staaten bis zu den seit 1866/67 mit Preußen abgeschlossenen Militärkonventionen die in Frankreich gebräuchliche Möglichkeit bei, einen Stellvertreter für die Ableistung des Wehrdienstes zu bezahlen. Diese praktische Exklusion des besitzenden Bürgertums aus der Wehrpflicht forcierte seit etwa 1850 die Euphorie demokratischer Kräfte über das Projekt einer allgemeinen Volksbewaffnung. Dabei hatte man eher verschwommene Vorstellungen von Milizkonzepten vor Augen, die mal mit dem Schweizer Modell, mal mit der preußischen Landwehr assoziiert wurden. Die lokalen Bürgerwehren, die insbesondere 1848 intensiv als mögliches Vorbild einer die zivilen Kontexte nicht sprengenden Bewaffnung der Bürger diskutiert worden waren, schieden wegen ihrer rasch sichtbar werdenden praktischen Insuffizienz als Modell bald aus. In dem Ziel einer "fundamentalmilitarisierten Gesellschaft" (S. 191) stimmten die oppositionellen Demokraten und die Militärs überein, auch wenn diese das Modell der kasernierten Linienarmee favorisierten. Der dem Kaiserreich gewidmete Abschnitt (IV) blendet zunächst auf die mit der Heeresreform seit 1862 vollzogene Weichenstellung zurück. Dabei argumentiert die Autorin überzeugend, und mit Konsequenzen für die künftige Einschätzung des preußischen Verfassungskonflikts, das die von Pathos getragene liberale Verteidigung der eigenständigen Landwehr letztlich von Beginn an illusionär war. Die seit dem Vormärz und erst Recht in der Revolution erkennbaren Mängel dieser Institution hatten etwa Johann Jacoby bereits 1848 dahin geführt, eine innige "Verschmelzung" von Soldaten- und Bürgertum nicht mehr von der Landwehr zu erwarten (S. 196, 205).

Im Folgenden werden längst überfällige Differenzierungen und Revisionen an dem monolithischen Bild eines populären "Gesinnungsmilitarismus" vorgenommen, der insbesondere die wilhelminische Gesellschaft bis in den letzten Winkel durchdrungen haben soll. Am Beispiel der Kriegervereine und der Einjährig-Freiwilligen werden die Schwierigkeiten, die sich bei der Einfügung militärischer Habitusmuster in die zivile Biographie auftaten, aber auch die Chancen verdeutlicht, die sich wiederum gerade den Unterschichten auf Grund des staatsbürgerlich egalitären Prestiges der Militärzeit boten. Die Bedeutung der Wehrpflicht für die innere Nationsbildung wird dagegen weiterhin sehr hoch, nach Eindruck des Rezensenten vor allem in ihrer sozialen Reichweite zu hoch bewertet. Zu Recht betont Ute Frevert jedoch den Preis, den die Armee dafür bezahlte, dass ihre Wertvorstellungen und Habitusmuster sukzessive in die zivile Gesellschaft eindrangen. Insbesondere seit der Fundamentalpolitisierung der 1890er-Jahre stand jede militärische Einrichtung - ungeachtet der konstitutionellen Vorbehalte - auf dem Prüfstand der öffentlichen Erörterung und Kritik, im Reichstag, der Presse und in den Gegenöffentlichkeiten der politischen Opposition. Und dies galt nicht nur im Hinblick auf notorische Missstände wie die Duellpraxis der Offiziere oder Übergriffe und Misshandlungen, sondern auch für die technische Seite einer möglichst effizienten Gewaltorganisation in der sozialdemokratischen Kritik am "Dekorationsmilitarismus". Zudem blieb die gebrochen-positive zivilgesellschaftliche Aneignung der Wehrpflicht blind gegenüber der dann seit 1914 aktuellen Tatsache, dass die Verbindung von Nation und Militär im Kern die Verpflichtung zum Töten enthielt. Schließlich wird (V) nach einem gerafften Aufriss der mit der Wehrpflicht im "Dritten Reich" verbundene Exklusionspraxis die Entkoppelung von Wehrpflicht und Militarisierung in der Bundesrepublik im Vergleich mit der DDR konturiert.

Vor dem Hintergrund ihres langen Durchganges durch die Geschichte der Volksbewaffnung zeigt die Autorin hier, dass die Wehrpflicht infolge der vor allem im "Zivi" symbolisierten, praktischen Trennung von Staatsbürgerschaft und Militärdienst zu einer leeren Hülse geworden ist. Dieses durchaus tagespolitisch gemeinte Argument ist aus dem isolierten Blickwinkel der heute um "Sicherheit", "Souveränität" und "Strategie" kreisenden Diskurse nicht zu verstehen. Es ist aber in der vorliegenden, breit angelegten und differenzierten Darstellung historisch wohl fundiert. Die militärgeschichtliche Forschung in Deutschland hat mit dieser gerade als Langzeitstudie innovativen Monographie einen markanten Ansatzpunkt für internationale Vergleiche wie für weitere Detailforschungen gewonnen.

Benjamin Ziemann, Bochum





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