ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Bärbel Holtz/Hartwin Spenkuch (Hrsg.), Preußens Weg in die politische Moderne. Verfassung - Verwaltung - politische Kultur zwischen Reform und Reformblockade (= Berichte und Abhandlungen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Sonderband 7), Akademie-Verlag, Berlin 2001, 454 S., geb, 80 EUR.

Die Historiographie Preußens hat in Deutschland einen schweren Stand, - genau genommen hat sie gar keinen und das wird der Geschichte dieses Staates nicht gerecht. Preußen wird vielmehr den halbseidenen Ausdeutern monarchischer Traditionsbildner in vielerlei Gestalt bis hin zum Andenkensouvenir überlassen. Was diesen Staat abseits von Sanssouci und 20. Juli 1944 ausgemacht hat, ist selbst in der Geschichtswissenschaft weitgehend unbekannt. Preußen hat so die miserable Chance auch im 21. Jahrhundert als Mythos fortzuwesen und das ist bekanntlich immer die schlechteste Lösung für eine unbewältigte Hausaufgabe der Historiker.

Rechtzeitig im Vorfeld des Preußenjubiläums 2001, des dreihundertjährigen Jubiläums eines Krönungsaktes mit unbestimmter Nachwirkung, hatte deshalb die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften die Initiative ergriffen und mit einer hochkarätig besetzten Tagung junger, nicht etablierter Historiker im märkischen Schloss Blankensee den Akzent perspektivisch versetzt. Nicht zum Gedenken der barocken Krönung, vielmehr in Erinnerung des 150. Jahrestages der ersten preußischen Verfassung vom 31. Januar 1850 fragte sie nach den Akteuren und ihren Zielen in einem "Jahrhundert der Verfassungsschöpfung und der Verfassungskämpfe" (S. IX), welches die Herausgeber zwischen 1815 und 1925 ansetzen.

Diese Fragestellung läuft quer zu den üblichen einengenden Epochengrenzen und sie setzt sich darüber hinaus mit Schwung auch über den üblichen Themenkanon hinweg. Es interessierte die Initiatoren nicht der Spagat zwischen Militär- und Sozialpolitik, der im Grunde bislang jede Auseinandersetzung mit dem Thema Preußen überlagert, sondern das Epizentrum der politischen Sozialgeschichte dieses Staates, seine Verwaltung. Wer so vorgeht, ist der Auffassung, dass ebendiese Verwaltungstradition mehr über die Staatsentwicklung Preußens aussagt als etwa die Familiengeschichte des Hauses Hohenzollern, wie sie in neurotisierender Weise beispielsweise in der monumentalen Biografie Wilhelms II. von Röhl bemüht wird.

Und in der Tat kommt man nach der Lektüre des Sammelbandes zu der Überzeugung, dass der Mitherausgeber Hartwin Spenkuch Recht haben könnte, wenn er seinen Aufsatz über die preußische Verwaltungsreform mit dem zitierbaren Satz einleitet: "Preußen als neuzeitlicher Staat existierte wesentlich durch seine Verwaltung" (S. 321). Darüber hinaus gibt Spenkuch auch gleich ein Angebot für die Erklärung des Scheiterns Preußens in seiner Überschrift, den ebenfalls zitierfähigen Satz des Frankfurter Oberbürgermeister Franz Adickes von etwa 1910: "Es wird zu viel regiert" (S. 321).

Nun wird niemand behaupten wollen, gerade das habe er vorher nicht gewusst. Als Allgemeinplatz gilt, dass Preußen an seiner eigenen etatistischen Herrschaftstradition zu Grunde gegangen ist, letztlich an seinem legalistischen Gehorsam selbst noch im Staatsstreich des präfaschistischen Reiches gegen die (sozialdemokratische) Integrität des größten Bundesstaates im Juli 1932: Ministerpräsident Otto Braun rief damals nicht zu den Waffen, sondern zum Reichsgericht. Aber diese Erklärung, Lahmlegung der demokratischen Potenziale durch Verwaltungsgehorsam, so wahr sie in Teilen auch ist, greift stereotyp zu kurz. Denn sie beantwortet die Frage nicht, wer es denn überhaupt gewesen war, der in Preußen regiert hat und mit welchen Implikationen die Akteure ihr Handeln legitimierten und durchsetzten. Über die Träger der Verwaltungsmacht in Preußen wussten wir insgesamt noch viel zu wenig, um ihr Handeln adäquat einordnen zu können und das galt auch für die politische Spitze.

Hier nun schließt der Beitrag von Ludwig Richter in dem Sammelband von Bärbel Holtz und Hartwin Spenkuch eine entscheidende Lücke. Richter analysiert das Verhältnis Preußen - Reich, ausgehend von den Verfassungsberatungen 1918/19 bis zum Jahr 1925 und kann hierin das staatsloyale Handeln des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun in seiner ambivalenten Funktion zwischen Hegemonialstreben und Reichsstabilisierung eingehend darstellen, insbesondere in seiner spannungsgeladenen Interdependenz zu Reichspräsident Ebert. Dennoch: "Je mehr nach 1920 die Mehrheitsverhältnisse in den Parlamenten und damit die parteipolitische Zusammensetzung der beiden Regierungen in der Berliner Wilhelmstraße divergierten, desto schwerer waren sie zu überbrücken und desto weniger wurden sie verhüllt" (S. 427). Damit kann die verblüffende Selbstaufgabe der Demokratie am Ende der Weimarer Republik noch immer nicht zureichend erklärt werden, die nicht nur ein Ereignis der Tagespolitik war, sondern eben auch eines des strukturellen Gegensatzes zwischen Reich und Preußen, aber Richter gibt uns einen weiteren Baustein an die Hand, der das Handeln der Akteure verständlicher macht und es retrospektiv rationalisiert.

Genau das macht den (bleibenden) Wert des Sammelbandes über die "politische Moderne" Preußens aus, die Vielfalt zahlreicher wichtiger Erkenntnisse über das Innenleben des Staates, die das noch offene Mosaik vervollständigen. Aus diesem Grund sei es dem Autor der Rezension verziehen, wenn er nachfolgend noch fünf weitere Beiträge eingehender bespricht, da er der Meinung ist, dass ihre Ergebnisse unbedingt wahrgenommen werden sollten. Es handelt sich um insgesamt 14 Autoren, die von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gewonnen werden konnten, zu einem Teil (Holtz, Spenkuch, Rathgeber, Paetau, Zilch) ihr als wissenschaftliche Mitarbeiter auch angehören. Sie beleuchten in drei auf Epochengrenzen fokussierte Sektionen überaus komplizierte politische Willensbildungsprozesse im Umfeld der jahrzehntelangen Verfassungsdiskussion und nachfolgender reformabweisender Verwerfungen der Verwaltungspolitik in Preußen.

Hierbei stehen die Akteure der Verwaltungsreformen, ihre Parteigänger und Propagandisten, im Mittelpunkt der Analyse. Damit werden luzide aufeinander bezogene diskursive Entsprechungen einer politischen Sozialgeschichte vorbereitet, aber, und das ist sicherlich ein Manko des Sammelbandes, die Sektionsleiter ersparen sich eine epochenzentrierte Einleitung und auch einen Kommentar der Beiträge, sodass die Ordnung des Ganzen in die Einleitung vorverlegt wird. Die Chance, zupackend differenzierende Epochencharakteristiken vorzulegen, wurde somit leichthin vertan.

Hervorzuheben ist, dass die Autoren in einigen Beiträgen mit Hilfe des von ihnen recherchierten Quellenmaterials wesentlich über den bisherigen Forschungsstand hinausgehen. Nicht zuletzt die Protokolle des preußischen Staatsministeriums, die von einem von den Herausgebern geleiteten Editionsprojekt ediert wurden und werden, bereichern die Analysekompetenz erheblich. So gelingt Bärbel Holtz in ihrem Aufsatz über die Verfassungsdiskussionen der Staatsspitze im Vormärz der verblüffende Nachweis, dass der Monarch sich in weitaus stärkerem Maße in die Verfassungsdiskussion einmengte, als dies selbst sein jüngster Biograf David Barclay dargestellt hatte. Dies gelingt deshalb, weil Holtz die Protokolle des Staatsministeriums systematisch auswerten konnte, welche erstmals die Innensicht der preußischen Staatsspitze umfassend erschließen.

Holtz zeigt auf, dass Friedrich Wilhelm IV. bereits unmittelbar nach Regierungsbeginn "an einer kongenialen Entscheidungsfindung zur Stände- und Verfassungsfrage" (S. 112) interessiert war und zu diesem Zweck neben der damit betrauten Immediatkommission das Staatsministerium immer stärker in den Diskussionsprozess integrierte. Ihre immense Quellenkenntnis ermöglicht es der Mitherausgeberin Phasen und sensible Stimmungsschwankungen in der Verfassungsdiskussion an der Staatsspitze zu registrieren und schließlich ein sehr differenziertes Urteil über die Akteure zu fällen. Gespalten in zwei Parteien, eine reaktionäre unter der Führung des Kronprinzen Wilhelm und eine fortschrittliche, welche das Einkammersystem und das Steuerbewilligungsrecht für das Parlament befürwortete, bewegte sich das kollegial diskutierende Gremium seit 1843 immer stärker auf eine geöffnete Verfassungspraxis zu, wobei Holtz einen fortwährenden Lernprozess der Beteiligten konzediert.

Die Rolle Friedrich Wilhelms kann unter diesen Bedingungen völlig neu akzentuiert werden. Er war, Holtz folgend, "in den Zeiten der gemeinschaftlichen Erörterung mit seinen Ministern vor 1848 zumindest zeitweilig mehr sein eigener Premierminister, als es bislang wahrgenommen wurde" (S. 133). Auch die zentrale, wenngleich höchst ambivalente Rolle des Innenministers von Arnim-Boitzenburg kann erst vor dem Hintergrund der Ministeriumsprotokolle eingehend hinsichtlich seiner inspirierenden, wenngleich nicht dezidiert reformfördernden Funktion gewürdigt werden. Das Renommee des Staatsministeriums nahm auf Grund der permanenten Verfassungsdiskussion ungeheuer zu, aber auch der Einfluss der Öffentlichkeit darauf. Alle diese wesentlichen Fassetten der Regierungspolitik sind im Kontext der sich festigenden Vormärz-Stimmung dazu geeignet, die revolutionäre Dynamik der Mittvierziger Jahre neu zu grundieren.

Aber auch die Grundfesten der Verwaltungspyramide, die "Basisposten preußischer Staatlichkeit auf dem Lande" (S. 13) Ostelbiens, müssen mit dem überraschend dicht belegten Beitrag Patrick Wagners völlig neu bewertet werden. Infolge einer zunehmenden "Erosion traditional-ständischer Verwaltungsorganisation" seit den frühen 1870er-Jahren etablierte sich hier infolge der Kreisordnung von 1872 mit den hauptamtlichen Landräten eine neue Elite in der Verwaltungshierarchie, die mit den Amtsvorstehern zusammen die Interessen aller Grundbesitzer zu vertreten begannen und damit die ehedem monokratische Position der Gutsbesitzer aushöhlten. Das Stereotyp der preußischen Junker kann vor dem Hintergrund der von Wagner intelligent und spannungsvoll ausgebreiteten Empirie einer kooperativen Verwaltungswirklichkeit in öffentlicher Verantwortung nicht mehr aufrecht erhalten werden. Mögen die märkischen und ostpreußischen Niederadligen auf der Jagd noch immer den Rehbock im Gefühl des eigenen Besseren geschossen haben, - ihre quasi-absolutistische Herrschaftskompetenz war infolge dieser Gemeindereform obsolet geworden.

Die Macht der Innenpolitik in der konstitutionellen Monarchie zeigt der Beitrag von Andreas Thier in einem Feld auf, dem sich Historiker gerne entziehen, dem der Finanzpolitik. Thier charakterisiert die bahnbrechenden Veränderungen im Steuersystem in den Jahren zwischen 1879 und 1893 "als bewegliches System" (S. 285). Das Staatsministerium als "monarchisches Element" und das Abgeordnetenhaus als "parlamentarisches Element" wirkten funktional zusammen und schufen eine weit reichende "Modernisierungsleistung" (S. 319), wobei das Herrenhaus als ein "freilich sehr schwaches aristokratisches Element" (S. 319) am Rande charakterisiert wird. Es ist schön, dass in Thiers Beitrag seine ungewohnte Perspektive au den preußischen Parlamentarismus nicht nur zu einem überraschenden Ergebnis führt, - der luziden Anerkennung eines preußischen Sonderwegs der monarchisch-parlamentarischen Modernisierung -, sondern dass damit auch sehr schnell die bahnbrechenden Ergebnisse des Buches von Spenkuch über das Preußische Herrenhaus von 1998 fortgeschrieben werden können.

James Brophy zeichnet am Beispiel der rheinischen Wirtschaftsbourgeoisie in der kurzen liberalen "Neuen Ära" zwischen 1858 und 1862 das Auseinanderfallen des wirtschaftlichen und des politischen Liberalismus nach, das für Preußen unmittelbar das Scheitern im Verfassungskonflikt des Jahres 1862 nach sich zog und in den folgenden Jahren den Schwenk der Alt- zu den Nationalliberalen implizierte. Sicherlich kann dieses Erklärungsmodell nach wie vor Relevanz beanspruchen, jedoch bleibt es immer noch ein Desiderat hier eine gesamtpreußische Perspektive herzustellen, so wie sie Brophy beansprucht. Denn wenn man nichts über die schlesischen und Danziger Kaufleute weiß und wenig über die Hallenser und die Berliner, kann man guten Gewissens nicht von einer allgemeinen Entwicklung ausgehen, so begeistert konservativ die rheinischen Liberalen aus dem Wirtschaftsbürgertum schließlich geworden waren. Umgekehrt fehlen Arbeiten über rheinische Verwaltungsbeamte und ihr Handeln vor Ort. Möglicherweise lässt sich dennoch ein Trend formulieren, gewissermaßen ein Anti-Junker-Effekt, nämlich eine fortschrittlich liberalere Haltung in der Verwaltungshierarchie, je weiter man nach Osten geht.

Hartwin Spenkuch zeigt in seinem Beitrag über die Verwaltungsreformversuche in den Jahren zwischen 1908 und 1918 die vergeblichen Bemühungen auf, "die langwierige, nicht weniger als 30 Arbeitsvorgänge umfassende Erledigung eines Schreibens in einem Regierungspräsidium" (S. 330) zu vereinfachen. So uneingeschränkt modernisierungsfreudig wie die preußische Verwaltung sich nach außen gerne darstellte und allgemein wahrgenommen wurde, war sie eben doch nicht. Trotz des allgemeinen Konsenses über die zentralen Reformaspekte: Die Beschleunigung, die Dezentralisierung und die Vereinfachung der Verwaltung, wurden in dieser Dekade keinerlei Fortschritte erzielt. Ursache dessen war die tief gehende "Reformskepsis der Ressortspitzen", welche das "enorme Eigengewicht der historisch legitimierten Verwaltungsstrukturen wie der damit verknüpften argumentativen Diskurse" (S. 355) bloß legten. Oder, wie es der reformwillige Unterstaatssekretär Holtz 1908 plastisch beschrieb: "Die Meinungen über das Erstrebenswerte und Erreichbare gehen weit auseinander. Schon die Herbeiführung einer Übereinstimmung unter den verschiedenen Ministerien hat eine Selbstverleugnung, einen Verzicht auf Ressortinteressen zur Voraussetzung, wie er nur als Ergebnis langwieriger Verhandlungen in Erscheinung zu treten pflegt" (S. 354).

Spenkuch überschreitet in seinem Beitrag die Schwelle zur Diskursgeschichte und damit gleichzeitig auch diejenige zur neueren Kulturgeschichte, ähnlich wie es auch die Autoren Ursula Fuhrich-Grubert, Magdalena Niedzielska, Martin Friedrich, Volker Stalmann und Markus Llanque in ihren Beiträgen tun. Damit erweist sich der hier entfaltete Ansatz einer diskursiven politischen Sozialgeschichte als eminent fruchtbar, da er unser Preußenbild tatsächlich nachhaltig verändern kann. Die Preußen in der Verwaltungshierarchie und in den politischen Entscheidungsspitzen waren zwar tatsächlich eminent verwaltungsmachtverliebt, so wie es in der Historiographie bislang bereits als Gemeinplatz gilt, aber, und das ist der entscheidende Unterschied, sie waren es auf eine andere Art und Weise als bis dato angenommen. Die Verwaltungsbeamten in Ostpreußen waren liberal und reformwillig, jedoch in den Grenzen ihrer altständischen Zukunftsvorstellungen immobil, und die rheinischen Wirtschaftsbürger wurden national-reaktionär, weil die Kasse stimmte, aber sie waren im Grunde unkommunikativ. An der Spitze des Staates agierten sensibel auf Lernprozesse reagierende Diskurszentren, die schwerfällig und scharfsinnig ein schlingerndes Staatsschiff zu stabilisieren versuchten, bevor der Bismarck-Autokratismus diese diskursive Tradition unterbrach und zu charakteristischen Versteinerungsprozessen in Politik und Verwaltung führte.

Es ist zu wünschen, dass dieses Bild zukünftig aufgefächert wird. In ihrer Einleitung haben die beiden verdienstvollen Herausgeber die zahlreichen elementaren Defizite einer Preußen-Forschung aufgelistet, die von der vergleichenden Landes- und Regionalgeschichte bis hin zur Diskursgeschichte der Eliten reichen. Die weißen Flecken auf der historischen Karte dieser vernichteten Großmacht im Zentrum Europas sind noch zu groß, als dass ein Gesamtbild entstehen könnte, das sich endlich von der noch heute allfälligen Monarchen-Fixierung löst. Es ist daran zu erinnern, dass sich diese die altborussische Selbstdarstellung ursprünglich selbst geschaffen und im monströsen Friedrich-Kult des Wilhelminismus zur faulig-duftenden Blüte gebracht hatte. Sie hat letztlich ebenso zum Untergang des Staates Preußen beigetragen wie das Nichterkennen seiner großen, verschütteten demokratischen Traditionen.

Georg Wagner-Kyora, Halle/Bielefeld





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