ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online


Urs Altermatts Studie bedeutete für die Erforschung des Antisemitismus in der Schweiz einen Durchbruch. Schon seit einiger Zeit ist das lange gehegte Bild, die Schweiz sei, mit wenigen Ausnahmen, aufgrund ihrer feiheitlich-humanistischen Tradition weitgehend immun gegenüber antisemitischen Ideologien geblieben, ins Wanken geraten. Forschungen zur Geschichte der Judenfeindlichkeit haben gezeigt, dass es einen spezifischen schweizerischen Antisemitismus gab: Indem sich Behörden und Teile der Öffentlichkeit gegen eine »Überfremdung« und im Besonderen gegen eine »Verjudung« der Eidgenossenschaft wandten, legitimierten sie ihre Haltung als Beitrag zur Verhinderung des Antisemitismus: Die zuwandernden Juden, namentlich die Ostjuden, würden diesen provozieren und damit etwas der Schweiz Unwürdiges ins Land holen. Auch die nicht eben humane Flüchtlingspolitik während des Nationalsozialismus wurde damit begründet. Eine differenzierte Analyse dieser Mechanismen gerade unter der katholischen Bevölkerung stand aber noch aus. Dass der renommierte Zeithistoriker und Katholizismusforscher an der Universität Fribourg diesen Bereich bislang ausgespart und dafür heftige Kritik eingesteckt hatte, war in der Medienberichterstattung als entscheidend dafür angesehen worden, dass Altermatt nicht, wie erwartet, zum Vorsitzenden der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg berufen wurde, sondern seine Kandidatur zurückzog.

Gestützt auf eine breite Quellengrundlage, zeigt nun Altermatt in seinem umfassenden Werk auf eindringliche Weise, wie der traditionelle christliche Antijudaismus weiterwirkte und den Boden für den modernen Antisemitismus bereitete. Karfreitagsliturgie, Passionsspiele und Volksbräuche bildeten ein »Lernfeld der Judenfeindschaft« (S. 93). Im Folgenden geht er dann auf das »ambivalente Koordinatensystem des katholischen Antisemitismus« (S. 97) ein. Schon im »Kirchlichen Handlexikon« von 1907 war von einem »doppelten Antisemitismus« gesprochen worden, einem »christlichen« und einem »widerchristlichen«. Dieser Ansatz wurde in den zwanziger und dreißiger Jahren ausgebaut. Verboten war demnach jede Form eines biologistisch-rassistischen Antisemitismus, »erlaubt« (S. 101) hingegen der Kampf gegen »schädliche« Einflüsse der Juden im kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Leben. In der Schweiz ordnete sich die katholische Judenfeindschaft damit in antimodernistische und fremdenfeindliche Bestrebungen ein, sie stützte ganz wesentlich die spezifisch schweizerische Variante des Antisemitismus. Altermatt belegt diese Haltung mit zahlreichen Beispielen aus dem öffentlichen Diskurs, mit den widersprüchlichen Äußerungen zur nationalsozialistischen Judenverfolgung – hier setzte immerhin partiell ein Nachdenken ein – und mit den »Judenbildern« im katholischen Alltag. In den untersuchten Familienzeitschriften wurden Klischees und Vorurteile gepflegt, die »zu Ablehnung und Geringschätzung des Judentums« führten (S. 299). Von einer »christlichen Gewissensbildung für die verfolgten Juden« (S. 297) konnte keine Rede sein.

Zusammenfassend stellt Altermatt fest, dass auch der »erlaubte« Antisemitismus fließende Übergänge zum rassistischen aufwies. Im Kern sei er jedoch ein »Kulturalismus« (S. 306), der »von der religiösen und kulturellen Differenz zwischen Katholizismus und Judentum« ausgegangen sei (S. 307). Nachdrücklich plädiert er als Katholik wie als Historiker dafür, diesen lange Zeit ausgeblendeten, schmerzlichen Teil der Vergangenheit in das öffentliche Bewusstsein, in die Erinnerung zurückzuholen, denn: »Keine normale Gesellschaft kann ohne Erinnerung leben« (S. 317).

Mit seiner Untersuchung erhebt Altermatt den Anspruch, »so etwas wie eine Anatomie des katholischen Antisemitismus« zu beschreiben und »ein kohärentes Interpretationsmuster vorzulegen«, das »neu« sei (S. 24) und »den internationalen Vergleich« erleichtere (S. 25). Darüber ist es zu einer erbitterten Kontroverse gekommen. Altermatt wurde vorgeworfen, im Grunde den Deutungsrahmen, den Olaf Blaschke in seiner Dissertation »Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich« (Göttingen 1997) entwickelt hatte, übernommen zu haben, ohne darauf angemessen hinzuweisen. Ja, es ist sogar auf eine verdächtige Nähe mancher Formulierungen aufmerksam gemacht worden, die ebenfalls nicht in den Fußnoten gekennzeichnet sei. Altermatt konnte zu Recht geltend machen, dass er nicht nur eine andere Periode und eine andere Gesellschaft behandele sowie teilweise unterschiedliche methodische Zugänge wähle, sondern gerade auch in der Analyse spezifisch schweizerischer Ausprägungen des katholischen Antisemitismus Neuland betreten habe. Darüber hinaus gehe die These vom »doppelten« katholischen Antisemitismus, nämlich dem »erlaubten« und dem »unerlaubten«, auf eine lange Tradition zurück und sei nicht von Blaschke erfunden worden; er werde im Übrigen durchaus zitiert. An anderer Stelle setze er sich dezidiert kritisch mit einem Teilbereich von Blaschkes Interpretation auseinander. Sinnvoll wäre es wohl gewesen, wenn Altermatt seine (allgemeine) »Anatomie des katholischen Antisemitismus« genauer in den Forschungskontext gestellt und davon abgehoben die Besonderheiten des schweizerisch-katholischen Antisemitismus ausgeführt hätte. Im Heft 2 des Jahrgangs 50 (2000) hat die Redaktion der »Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte« im Übrigen beiden Historikern Gelegenheit gegeben, ihre Argumente auszutauschen (S. 204-236). Alle interessierten Leserinnen und Leser können sich dort ein eigenes fundiertes Urteil bilden.

Den angestrebten internationalen Vergleich zum »Katholischen Antisemitismus im 19. Jahrhundert« versuchen insgesamt elf Autorinnen und Autoren voranzutreiben. Dabei erweist sich das Deutungsmuster des »doppelten Antisemitismus« für sämtliche untersuchten Länder – neben Deutschland und der Schweiz Frankreich, Italien, Österreich, Polen und die Niederlande – als tragfähig, wenngleich mit unterschiedlichen Akzenten und unterschiedlichem Gewicht. Deutlich wird darüber hinaus, dass sich eine allgemeine aversive Einstellung gegenüber Juden als Grundzug des Katholizismus herausschält, der selbstverständlich individuelle Ausnahmen nicht ausschließt. Erst unterhalb dieser Ebene setzt die Ambivalenz gegenüber dem modernen Antisemitismus ein, nämlich die Scheidung in einen »erlaubten« oder »unerlaubten«.

Olaf Blaschke fasst die Ursachen des katholischen Antisemitismus zusammen und betont, dass eine »Kombination verschiedener Ansätze notwendig« sei (S. 103). Als besonders ergiebig haben sich nach seiner Meinung die Fragen nach den Traditionen der christlichen Judenfeindschaft, nach dem Dualismus des Ultramontanismus, nach sozialgeschichtlichen Zusammenhängen und lokalen Gründen, nach der Funktion als Ersatzkonflikt erwiesen. In Krisen boten sich die Juden als »Sündenböcke« an. Auf sie als »Blitzableiter« oder Ventil konnten sich ungelöste Probleme oder Minderwertigkeitsgefühle entladen. Komplexe, undurchschaute Vorgänge ließen sich auf deren Schuld reduzieren, Ängste und Misserfolge kompensieren. Das erklärt, warum Juden für Kapitalismus wie Sozialismus gleichermaßen, für die bedrohliche Modernisierung insgesamt verantwortlich gemacht wurden. Ebenso stabilisierte der gemeinsame Code des Antisemitismus das Milieu. Dass dieser erfolgreich gegenüber konkurrierenden Kräften, namentlich in Wirtschaft und Politik, eingesetzt werden konnte, versteht sich. Die judenfeindliche Einstellung schlug vor allem in Konfliktsituationen und angesichts konkreter lebensweltlicher Befürchtungen leicht in aktives, aggressives Handeln um, wie mehrere Beiträge in dem Band belegen. Insofern hatte der spezifisch katholische Antisemitismus in der Praxis dem Rassenantisemitismus wenig entgegenzustellen. Wer die Vorbedingungen von gewaltsamen Ausschreitungen – sei es in der Schweiz oder in Polen – untersucht oder gar die »Vorbedingungen der Shoah« (S. 46), muss deshalb auch nach der Verantwortung des Katholizismus fragen.

Einige der vielfältigen Themen und Ergebnisse sollen stichwortartig erwähnt werden. Herausgearbeitet wird, inwieweit die sich entwickelnde geschlossene katholische Ideologie eine Reaktion auf Emanzipation und Nationalismus darstellte (Helmut Berding). Johannes Heil zeigt die Zusammenhänge zwischen dem Konfessionskrieg während des Kulturkampfes in Deutschland und der Entfaltung des Rassenantisemitismus. In Frankreich waren sie schwächer, weil dort der Katholizismus hegemonial blieb. Zugleich konnten sich Katholiken im Zeichen des Nationalismus als »Franzosen« gegen Juden profilieren (Pierre Sorlin). Ähnlich verband der Nationalkatholizismus im 19. Jahrhundert sämtliche Gebiete des dreigeteilten Polen, und zunehmend fand hier die Auffassung Anklang, dass »Fremde«, nämlich Nichtkatholiken, nicht der polnischen Nation angehören könnten (Victoria Pollmann). Die Besonderheiten der Niederlande (Theo Salemink) und Italiens (Carlo Moos) bei der Ausformung des »doppelten Antisemitismus« werden nicht zuletzt aufgrund der – von den übrigen untersuchten Ländern verschiedenartigen – Traditionen des Katholizismus sichtbar gemacht.

Christoph Nonn geht Ritualmordgerüchten als einer Form popularen Antisemitismus nach. In vielen Fällen wurden die »mittelalterlichen« Vorwürfe im 19. Jahrhundert von Katholiken wiederbelebt, doch lässt sich dies nicht verallgemeinern. Soziale Gründe spielten oft eine wichtige Rolle. So setzten »christliche« Dienstmädchen die »Blutbeschuldigung« als Waffe gegen ihre »jüdische« Herrschaft ein. In den Kontext der Rekatholisierung ordnet Aram Mattioli die Entwicklung im Kirchenstaat ein, wo bis zu dessen Auflösung 1870, nur kurzfristig unterbrochen, ein Ghetto für Juden bestand und gerade in den letzten Jahrzehnten zuvor die Bedingungen für die jüdische Bevölkerung immer drückender wurden. 1858 erschütterte der Skandal um den heimlich getauften, seinen jüdischen Eltern entführten und katholischer Kuratel unterstellten Edgaro Mortara die Welt. Dieser von Papst Pius IX. gebilligte Vorgang fand die Zustimmung der Ultramontanen. Auch in den Kantonen der Ur-Schweiz führte der zugespitzte Dualismus zu einem Kampf gegen die »Verjüdelung« (S. 349 ff., Josef Lang). In Vorarlberg verstärkte dieses Denken den »Agrarantisemitismus«, der den Juden die Verantwortung an der Überschuldung der Bauern zuschrieb (Hans Gruber). Ebenso war es ein wichtiger Faktor für die judenfeindlichen Aktionen im Großherzogtum Baden wie im Kanton Thurgau (Aram Mattioli).

Die Fruchtbarkeit des Ansatzes, das katholische Milieu im Hinblick auf den Antisemitismus zu untersuchen, hat sich erwiesen. Weitere Einzelstudien dürften durch beide Bände und wohl ebenfalls durch die – produktiv gewendete – Kontroverse zwischen Altermatt und Blaschke angeregt werden. Besonders weiterführend scheint mir die mehrfach geäußerte Einsicht zu sein, dass der Antisemitismus vor allem dann wirksam werden konnte, wenn er an lebensweltlichen Umständen der Menschen anknüpfte. Gerade diese Mechanismen gilt es zu erforschen, weil so nicht nur neue Zusammenhänge hervortreten werden, sondern auch am ehesten die Möglichkeit eröffnet wird, über Information und Aufklärung hinaus unmittelbar auf heute noch vorhandene Einstellungen, Gefühle, Vorurteile und Stereotypen einzugehen.

Heiko Haumann, Basel





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