ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Thomas Welskopp, Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz (= Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 54), Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2000, 840 S., geb, 128 DM.

Der Autor beginnt sein monumentales Werk - es handelt sich um die gekürzte Fassung seiner Berliner Habilitationsschrift von 1999 - mit der überraschenden Feststellung, die Frühgeschichte der deutschen Sozialdemokratie sei "eigentümlich unbeschrieben" (S. 19). Zugleich betont er aber auch, dass die Literatur zur Arbeiterbewegung bereits Bibliotheken fülle, was sein Literaturverzeichnis mit knapp fünfzig Seiten Umfang auch eindrucksvoll belegt. Da beide Befunde nicht recht zusammenzupassen scheinen, ist man als Leser natürlich neugierig, ob man sich von dem, was man bislang zu wissen glaubte, nach der Lektüre dieses Buches verabschieden muss, oder ob Welskopp einen bereits gut bestellten Boden nur nochmals umgepflügt hat. Der methodische Schlüsselbegriff seiner Neuinterpretation heißt "Historisierung". Dessen Dimensionen definiert er aus vier Perspektiven: Die frühe Sozialdemokratie soll in ihren zeitgenössischen sozialen, politischen und kulturellen Kontext eingebettet werden, um genauer abgrenzen zu können, in welchem Maße sie Bestandteil der nationalen und demokratischen Bewegung im Zeitraum zwischen der Revolution von 1848/49 und dem Reichsgründungsjahrzehnt war; die frühe Sozialdemokratie soll nicht aus dem Blickwinkel ihrer späteren Geschichte im wilhelminischen Kaiserreich betrachtet werden, um die Merkmale von Kontinuität und Wandel präziser konturieren zu können; die frühe Sozialdemokratie soll in ihrem räumlichen Kontext verortet werden, der stärker von lokalen und regionalen Vernetzungen als von überregionalen Zentralinstanzen geprägt war; und schließlich soll der ideologische Haushalt der frühen Sozialdemokratie in seiner Vielfalt analysiert und aus dem Prokrustesbett marxistischer oder lassalleanischer Deutungsmuster herausgelöst werden. Als Angelpunkt seiner Interpretation fungiert, wie der Autor betont, der "methodologische Individualismus" (S. 28), der den handelnden Akteur als Produkt von sozialen Strukturen, als in gesellschaftliche Beziehungen eingebundenes politisches Subjekt und als Konstrukteur von Weltbildern begreift, wobei die persönliche Biographie als Scharnier zwischen individueller und kollektiver Praxis gesehen wird.

Dieses anspruchsvolle und multidimensionale Forschungsprogramm wird in drei breit angelegten Kernkapiteln konkretisiert, die jeweils den chronologischen Raum zwischen Vormärz und Sozialistengesetz überspannen. Zunächst analysiert Welskopp die soziale Substanz der Sozialdemokratie, die berufliche Zusammensetzung ihrer aktiven Mitgliedschaft in den verschiedenen lokalen Stützpunkten, die Herkunft ihres Führungspersonals und der "Milieuvernetzer", die - wie Georg von Vollmar einmal betonte - "zwar einen politisch weniger bekannten Namen haben, aber in ihren Kreisen Vertrauen genießen und eine hinreichend unabhängige Stellung einnehmen" (S. 154). Der zweite Teil rückt die frühe Arbeiterbewegung als dezentrale Vereins- und Versammlungsbewegung in den Mittelpunkt, beleuchtet die politische, gewerkschaftliche und kulturelle Praxis in diesen Kristallisationskernen der Vergesellschaftung und zeigt, wie sich im Verlauf des Konstituierungsprozesses von ADAV, SDAP und der Gewerkschaften diese Vereine zu operativen Verbänden entwickelten, um politische und soziale Lobbyfunktionen zu übernehmen. Im abschließenden dritten Teil wird die Sozialdemokratie als "Bekenntnispartei" vorgestellt, deren Ideen- und Programmgeschichte Welskopp nicht als die Widerspiegelung der Theorien von "wenigen intellektuellen Meisterdenkern" (S. 511) deutet, sondern als fortschreitende Suche und Selbstreflexion "im Streben nach einem widerspruchsfreien Weltbild" (S. 512).

In allen drei Hauptkapiteln orientiert sich die umfangreiche Untersuchung konsequent am Konzept der Historisierung, das sich sprachlich durch eine nuancenreiche deskriptiv akzentuierte Darstellung auszeichnet und inhaltlich stets die ganze Breite und Vielfalt der frühen Sozialdemokratie ins Blickfeld rückt. Als Synthese der Ergebnisse einer Fülle von Fallstudien, die deren Einzelbefunde sorgfältig sichtet und gewichtet, ist Welskopps Werk zweifellos für lange Zeit eine nicht mehr zu überbietende Zusammenschau von bereits vorliegenden Forschungsbefunden. Zugleich ist diese Monographie aber viel mehr als eine Bilanz der bisherigen Historiographie zur Frühgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung, weil sie sich ebenso plausibel wie konsequent jedem Interpretationsansatz verweigert, der diese Frühgeschichte nur als Vorgeschichte der klassischen Arbeiterbewegung im Kaiserreich behandeln will. Der Zeitspanne zwischen Revolution und Sozialistengesetz, in der die politische und gewerkschaftliche Arbeiterbewegung in Deutschland zwei organisatorische Gründungsperioden in den Jahren 1848/49 und 1863/69 durchlief, wird als eine eigenständige Epoche charakterisiert. Damit rückt Welskopp - wie auch schon andere Autoren vor ihm - zum einen davon ab, ausschließlich die sechziger Jahre als Inkubationsphase der Arbeiterbewegung zu sehen und schließt sich dem in der heutigen Sozialdemokratie immer noch nicht richtig wahrgenommenen Plädoyer der Historiker für eine Korrektur der parteioffiziellen Jubiläumsdaten an; zum anderen macht er darauf aufmerksam, dass die von Gustav Mayer auf den Zeitraum von 1863 bis 1869 datierte These der "Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie" den Tatbestand überdeckt, dass die Arbeiterbewegung sich bereits 1848/49 als radikaldemokratische und revolutionäre Volksbewegung formierte und schon zu diesem Zeitpunkt ein eigenes Profil und eine große Mobilisierungskraft besaß (S. 204 ff.). Die Sezession der sechziger Jahre sieht er als vom Liberalismus forcierte Ausgrenzung der sozialdemokratischen Konkurrenz, die aber "als alternative Sammlungsbewegung" weiterhin im demokratischen Spektrum bündnisfähig blieb (S. 615). Diese These hätte sicherlich noch stärker gemacht werden können, wenn Welskopp das Neben- und Miteinander von Sozialdemokraten und Demokraten in den süddeutschen Verfassungsstaaten intensiver ausgeleuchtet hätte. Hier wurden nämlich in der Zeit des Deutschen Bundes geknüpfte Verbindungslinien auch in der Bismarckzeit nicht restlos gekappt, hier hatte der sozialdemokratische Reformismus bekanntlich dann im späten Kaiserreich seine Hochburgen und hier entschlossen sich die Liberalen nach der Jahrhundertwende zur politischen Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie in den Landtagen.

Der von Welskopp verwendete Begriff Volksbewegung ist natürlich umfassender und damit zugleich auch unschärfer als der auf die abhängigen Lohnarbeiter zielende Begriff Arbeiterbewegung. Weil Welskopp aber mit vielen Beispielen zeigt, dass die sozialdemokratische Vereinswelt im Milieu der kleinen Produzenten, der Handwerker und Gesellen angesiedelt war, wo es durchaus organisatorische Schnittflächen und programmatische Übereinstimmungen mit der bürgerlich-demokratischen Emanzipationsbewegung von 1848/49 gab, ist seine Verortung der frühen Sozialdemokratie als Volksbewegung zutreffend. Relativiert und auch widerlegt wird von ihm die Vorstellung, dass die frühe Sozialdemokratie anfangs allenfalls im Windschatten des Linksliberalismus existierte und sich erst Schritt für Schritt von der politischen Bevormundung durch das Bürgertum befreite. Aus sozialgeschichtlicher Perspektive untermauert Welskopp seine Befunde, indem er die in der Forschung bereits des öfteren freigelegten vorindustriellen Fundamente der deutschen Arbeiterbewegung und ihre handwerkliche Basis in verschiedenen Berufsgruppen, in denen zwischen Kleinmeistern und Handwerksgesellen fließende Übergänge bestanden, auch tabellarisch für einzelne lokale Mitgliedschaften dokumentiert (S. 122 ff., 183 ff.). Dieser im Grenzbereich zwischen Selbständigkeit und Abhängigkeit angesiedelte Sozialtypus wird aus biographischer und politischer Perspektive als eine prekäre Zwischenexistenz charakterisiert. Deshalb verwob sich in seiner Vorstellungswelt die Erfahrung von Unsicherheit und Abhängigkeit mit Deutungsmustern, die den Solidaritätsgedanken und genossenschaftliche Assoziationsprojekte als Königsweg in eine nachzünftige Gesellschaft gleichberechtigter Produzenten propagierte. An der Spitze des Wertekanons dieser in handwerklichen und nicht in klassengesellschaftlichen Kategorien zu erfassenden Volksbewegung stand die soziale Demokratie und nicht die Diktatur des Proletariats.

Dieses Selbstverständnis arbeitet der Mittelteil des Buches, der tief in das Vereinsmilieu der frühen Sozialdemokratie eindringt, mit großer Anschaulichkeit heraus. Hier wird, wie noch nirgendwo sonst, das breite Spektrum des Organisationslebens in den Versammlungslokalen, bei Festveranstaltungen und Jubiläen, in kultischen Feiern und bei öffentlichen Wahlkundgebungen facettenreich nachgezeichnet. Die sozialdemokratische Bewegung präsentierte sich hier beim Kräftemessen mit den politischen Konkurrenten als eine Gemeinschaft "gediegener Männer" (S. 416), wie ihre Presse immer wieder betonte. Die Artikel über Versammlungen wurden nicht müde, die rhetorische Überzeugungskraft, den kämpferischen Mut und das intellektuelle Feuer der Volksredner aus den eigenen Reihen wortreich zu rühmen und deren Charisma begeistert zu feiern. Frauen blieben in dieser männerbündischen Gesellschaft im Hintergrund und hatten höchstens bei der geselligen Abendunterhaltung mit Tanz, Theater und Gesang ihren eigenen Platz.

Welskopp porträtiert anhand von zeitgenössischen Quellen, die er in den überlieferten archivalischen Beständen sorgfältig erschlossen hat, auch die Heroen der Sozialdemokratie: Lassalle, der stundenlang redete und dabei der Lust an der eitlen Selbstinszenierung frönte; Wilhelm Liebknecht, bei dem Hass und Liebe flammend heiß waren und des öfteren mit seinen eigenen besseren Einsichten durchgingen; Bebel, der hingegen einem Sachlichkeitspathos huldigte und mit würdigem Ernst seine moralische Überlegenheit ausdrückte; Johann Most, der nach eigenem Bekunden "lauter und lauter" wurde, wenn er ebenso drastisch wie demagogisch agitierte (S. 384 ff.). Aber auch die "bodenständigen Milieuführer" (S. 403), die sich bei ihren Auftritten im Tabaksqualm, Stimmengewirr und Bierdunst der Versammlungslokale Gehör verschafften, werden als Volksredner vorgestellt.

In der sozialdemokratischen Debattenkultur, in der es emotionsgeladen und kontrovers zuging, in einem Milieu, in dem Politik und Geselligkeit, Agitation und Pathos, Bildung und Verbrüderung zu Hause waren und der Diskurs als eine Form der sozialen Praxis und der politischen Identitätsfindung zu deuten ist, findet Welskopp das organisatorische Zentrum der frühen Sozialdemokratie und den Ort ihrer demokratischen Gegenwelt im Obrigkeitsstaat. Als "Volksbewegung der kleinen Produzenten" (S. 767) orientierte sie sich im politischen Alltag nicht an den Meistererzählungen des Marxismus, sondern konstruierte ihre Identität in einem eigenen Erfahrungshorizont, der von den sich überlagernden nationalen und sozialen Konfliktlagen sowie von der bis zur Reichsgründung noch nicht entschiedenen Verfassungsfrage geprägt und begrenzt war. Das "Banner der Brüderlichkeit", das zunächst vielfarbig und bunt war, verfärbte sich aber - auch dies macht Welskopp deutlich - zu einem ideologischen Banner, als das Ideal des freien Volksstaates nach der Reichsgründung von oben zu einem vorerst utopischen Politikziel wurde und als eine Verbots- und Verfolgungswelle schon vor 1878 vier Fünftel der sozialdemokratischen Vereine im Deutschen Reich mundtot machte.

Nach der Lektüre dieses monumentalen Werkes ist man als Leser erschöpft, bestätigt und beeindruckt: Erschöpft, weil man den Autor auf einem langen Weg begleitet hat, der in zahlreichen Schritten und vielen Kehren durch drei Jahrzehnte verläuft und dabei in bester Bernsteinscher Tradition stets die Bewegung und nicht das Ziel im Auge hat; bestätigt ist man, weil die in der sozialhistorischen Forschung in den letzten Jahrzehnten immer wieder formulierte These, dass die Arbeiterbewegung im vorindustriell-handwerklichen Vereinsmilieu ihren Ausgangspunkt besaß und erst in einem langen und widersprüchlichen Entwicklungsprozess zur hochindustriellen Klassenbewegung wurde, in diesem Buch eindrucksvoll und endgültig untermauert wird; beeindruckt wird man durch die Erkenntnis, dass man an einer "alten Bekannten", wie der Autor die frühe Sozialdemokratie am Beginn seiner Darstellung nennt, bislang noch unbekannte Züge entdeckt hat, wenn man sich darauf einlässt, vertraute Forschungsmethoden und Interpretationsmuster bei der erneuten Annäherung an sie zu überdenken und dabei auch begrifflich mit ihr etwas anders umgeht als bisher. Ganz am Ende, in seiner knappen Schlussbetrachtung, die einen Blick auf die Entwicklung in Frankreich, England und den USA wirft, macht Welskopp noch darauf aufmerksam, dass das Thema Arbeiterbewegung in seinen verschiedenen nationalstaatlichen Ausprägungen und vergleichbaren internationalen Konfigurationen längst noch nicht befriedigend erforscht ist. Dies wäre aber der Gegenstand einer eigenen Untersuchung, die zu klären hätte, ob der deutsche Fall wirklich ein Sonderfall gewesen ist und die ebenso souverän wie das Werk von Welskopp ihren Gegenstand behandeln müsste.

Klaus Schönhoven, Mannheim





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