ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Claudia Weiss, Das Russland zwischen den Zeilen. Die russische Emigrantenpresse im Frankreich der 1920er Jahre und ihre Bedeutung für die Genese der "Zarubeznaja Rossija".(= Hamburger Veröffentlichungen zur Geschichte Mittel- und Osteuropas, Bd. 7), Dölling und Galitz Verlag, Hamburg, München 2000, 312 S., brosch., 72 DM.

Das Ende der Sowjetunion, die Öffnung vieler bis dahin verschlossener Archive, die Versuche, die Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert noch einmal zu denken – das sind wohl die wichtigsten Anlässe für den regelrechten Forschungsboom in Sachen russischer Emigration. Darin meldet sich ein starkes Nachholbedürfnis zu Wort und die Einsicht, dass ein dramatisches Kapitel russischer und europäischer Geschichte bislang zu wenig beachtet wurde. Diese Forschungen kreisen – immer noch stark chronologisch und datensichernd – um die geographischen, politischen und kulturellen Zentren "Russlands jenseits der Grenzen", um spezielle Aspekte – politische Parteien, Verhältnis Emigration/Heimat/Gastländer u.a. –, und so entsteht nach und nach ein komplexes und reiches Bild dieser bedeutenden Massenemigration nach 1917. Kennzeichnend für den Stand der Arbeit ist wohl, dass noch immer die empirische Rechenschaftslegung dominiert und die Arbeiten vorwiegend deskriptiv verfahren. An diesem Stand der Dinge setzt die Untersuchung von Claudia Weiss über die russische Emigrantenpresse in Frankreich an. Sie kann sich auf einige Vorarbeiten und parallel entstandene Bestandsaufnahmen beziehen, vor allem die Arbeit von C. Klein-Goussef, die Chroniken von M. Beyssac und L. Mnuchin. Weiss hat aber etwas anderes vor als nur eine Erfassung und Beschreibung der Emigrantenpresse in Frankreich. Sie will die Rolle der Presse für die Konstitution, ja Konstruktion eines spezifischen Bewusstseins der russischen Kolonie von sich selbst nachzeichnen. Der Titel "Russland zwischen den Zeilen" bezeichnet das Anliegen sehr genau. Es geht der Verfasserin um die Produktion des ideellen und kulturellen Raums, in dem sich die Russen im Ausland als "imagined communities" konstituierten – mit allen Konsequenzen, die diese Konstitution via Wille und Vorstellung eben hat. Es geht bei der Analyse der Presse also nicht um eine pressegeschichtliche Untersuchung, sondern um ein diskursanalytisches Verfahren. Die Autorin hat gewiss Recht, wenn sie meint, dass es längst Zeit gewesen sei, von der bloßen Deskription, die die Emigration nur passiv abbildet, überzugehen zu einer Methode, die Emigrantengemeinde in ihrer Binnenverfassung und Selbstbewegung zu erfassen. Claudia Weiss skizziert dieses Verfahren mit knappen und plausiblen Darlegungen zu Methode und Kulturbegriff; überhaupt ist die begriffliche Präzision eine Stärke dieser Hamburger Dissertation, denn hier wird aus der Diskursanalyse kein Fetisch, sondern ein brauchbares analytisches Instrument.

Die Untersuchung hat drei Teile. Zuerst wird, die bisherige Forschung referierend, eine Übersicht über Geschichte, Umfang und Profil der russischen Emigration in Frankreich gegeben. Dann wird die Struktur der russischen Emigrantenpresse erläutert mit Grundinformationen über Zeitungen und Zeitschriften, Journalisten und Journalismus im Exil, die Funktion der Presse als "Forum" in und für die Emigration dargestellt. Schließlich wird die Rolle der Presse für die Entstehung der Idee der "Zarubeznaja Rossija" und für die Konstruktion der kollektiven Identität analysiert. Dies geschieht entlang zentraler politischer Themen jener Zeit und in einer Analyse der Inhalte und der formalen Aspekte der Berichterstattung, Analysen und Polemiken. Für die Verfasserin ist "Russland jenseits der Grenzen" nicht Ausdruck einer Mission oder eines Projektes, sondern die schwierige Suche nach einer Identität jenseits der Grenze und unter den Druck- und Zugverhältnissen des Exils. Die Autorin hat dazu unveröffentlichte Quellen aus den Archiven der Polizeipräfektur Paris eingesehen, vor allem aber - auf bewunderungswürdig vollständige Weise - die russische Presselandschaft durchgearbeitet – das Verzeichnis nennt 195 Titel. Umfangreich ist auch das corpus zeitgenössischer Periodika, Monographien und Memoiren, einschließlich belletristischer Werke, das herangezogen wurde, um die konstitutive Arbeit der Welt der Exilpresse anschaulich und begreiflich zu machen.

Was sind die Ergebnisse dieser gründlichen Untersuchung? Sie war anders als die "normale Presse", für die die Wirtschaftlichkeit im Zentrum stehe, vor allem ein politisches und kulturelles Forum der community: zur Information über Sowjetrussland, zur Verhandlung der emigrantischen Auseinandersetzung, Medium der Bewältigung des schwierigen Emigrantendaseins. Kommunikation, Selbstverständigung war entschieden wichtiger als Information und Lebenshilfe – so das Fazit (S. 263). "Forum", "Bühne", Schaffung eines "diversifizierten Mikrokosmos" lauten die zusammenfassenden Charakterisierungen. Schlüssig ist die These dargelegt, dass dieses Forum wesentlicher Schauplatz für die wenigstens rhetorische Selbstdarstellung, für die Ausarbeitung einer Vorstellung von "Zarubeznaja Rossija" werden konnte. Die Suchbewegung der Exilgemeinde, die Selbstverständigung, der "Diskurs" wird selber zum Kitt für die wirkliche und imaginäre Emigranten-Community. Erstaunlich ist dieses Ergebnis eigentlich nicht, aber es ist gründlich und einleuchtend vorgeführt. Die Autorin macht am Ende auf einige Desiderate der Forschung aufmerksam: Unterbelichtung der Alltagsgeschichte, Vernachlässigung des ganzen Nationalismus-Komplexes, Ausstehen einer "Sozialgeschichte der intellektuellen Eliten". Es ist fürwahr viel zu tun. Naheliegend nach der Lektüre dieser Arbeit wäre allerdings, die Emigrantenpresse, die doch a priori nicht national, sondern übernational, ja global organisiert war, als solche ins Auge zu fassen – als grenzüberschreitendes Netzwerk, als System der Zirkulation von Nachrichten und Nachrichtenmachern, als Forum einer eben weltweiten Diaspora.

Karl Schlögel, Berlin, Frankfurt/Oder





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