ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

In der Rückschau auf die britische Parteiengeschichte des 20. Jahrhunderts erscheint die Labour Party, die sich seit den 1920er Jahren mit den Konservativen in der Regierung abwechselte, als fest etablierter Bestandteil des britischen Parteiensystems. Dieser Eindruck wird durch den überwältigenden Wahlsieg von 1997 bekräftigt. Doch die Labour Party hatte neben ihren Erfolgen stets auch tiefe Krisen zu überstehen. War bei der Gründung des Labour Representation Committee 1900 und dessen Umwandlung in die Labour Party 1906 noch keineswegs abzusehen, ob der Neuankömmling sich unter den Bedingungen des britischen Wahlsystems durchsetzen könnte, so fanden sich noch vor 10 Jahren Stimmen, die den Niedergang der Partei zur Bedeutungslosigkeit vorhersagten. Insbesondere das Wahlprogramm von 1983 bot wegen seiner extrem "linken" Positionen so geringe Erfolgsaussichten, dass es als "the longest suicide note in history" in das politische Gedächtnis der Briten einging.

Auch die Historiographie, die die Geschichte der Partei seit deren Anfängen kommentierend begleitete, schwankte in ihrer Einschätzung der Notwendigkeit einer "Arbeiterpartei". Gingen frühe, häufig der Partei nahestehende Historiker von einem ständigen Anwachsen der Arbeiterklasse und einem daraus resultierenden unaufhaltsamen Forward March of Labour aus, so suchten "revisionistische" Historiker die Vorstellung, die Labour Party könne auf eine gleichsam natürliche Basis in einer homogenen working class bauen, durch Hinweis auf den fragmentierten Charakter dieser Klassenbasis auszuhöhlen. Verzwickte historiographische, aber auch politisch relevante Debatten konnten sich daraufhin an der Frage entzünden, ob der von vielen seit den 1970er Jahren konstatierte Niedergang der Partei ein neues Phänomen sei, das aus dem Bedeutungsverlust der produzierenden Industrie folgte, oder ob die Partei überhaupt niemals wirklich in der Wählerschaft verankert war.

Angesichts des Auf und Ab in der Bewertung der Bedeutung der Partei versagt sich zu ihrem hundertjährigen Jubiläum selbstzufriedenes Schulterklopfen ebenso wie ein Abschreiben der Labour Party vor dem Hintergrund des Niedergangs des Sozialismus. Vielmehr verschärfen sich durch die Selbstdarstellung als New Labour die Fragen nach der historischen und gegenwärtigen Identität der Partei. Ist die Partei noch sozialistisch? War sie es je? Bleibt sie eine Arbeiterpartei? War sie je eine?

Die beiden zu besprechenden Bücher widmen sich in dieser Situation auf unterschiedliche Weise einer umfassenden Würdigung der Geschichte der Partei im 20. Jahrhundert. Andrew Thorpes Überblicksdarstellung, die in der von Jeremy Black herausgegebenen "British Studies Series" erschienen ist, bietet eine gut lesbare, chronologisch angelegte Parteigeschichte, die stets die Einordnung der Einzelaspekte in übergreifende Fragestellungen sucht. Demgegenüber stehen einzelne Kernprobleme der Parteientwicklung im Mittelpunkt des von Tanner, Thane und Tiratsoo herausgegebenen Sammelbandes, der Aufsätze von 12 Autoren - allesamt namhafte labour oder social historians, vielfach "revisionistischer" Ausrichtung - vereinigt. Dabei wird Labours Haltung in zentralen Politikbereichen betrachtet, von der Wirtschafts- und Sozialpolitik über die Gestaltung der britischen Verfassung bis hin zur internationalen Politik. Daneben werden einzelne Punkte der Parteientwicklung analysiert, insbesondere das Verhältnis zu Wählern, Mitgliedern und Gewerkschaften. Besonders hervorzuheben sind auch die Einordnung der Labour Party in die internationale Entwicklung "linker" Parteien sowie die Auseinandersetzung mit den politischen Mythen, die Selbstverständnis und Motivation der Parteimitglieder prägten.

Schnell wird klar: Selbst in Zeiten, als das Bekenntnis zum Sozialismus das offizielle Selbstverständnis der Partei bestimmte, gestaltete Labour teils notgedrungen, teils in klarem Kalkül eine eher als "sozial-demokratisch" zu bezeichnende Politik. Dies lag zum einen daran, dass Labour-Politik seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts von der Grundannahme ausging, dass eine sozialistische Gesellschaft nicht durch einen revolutionären Akt, sondern nur durch allmählichen sozialen und politischen Wandel auf der Grundlage ökonomischer Prosperität herbeigeführt werden könne. Die Wirtschaftspolitik der Labour-Regierungen richtete sich daher in der Regel auf eine ökonomische Stabilisierung, die die Voraussetzungen aller weiteren sozialen oder "sozialistischen" Maßnahmen schaffen sollte. Gerade in wirtschaftlichen Krisenzeiten schienen daher allerdings die Gemeinsamkeiten mit der Wirtschaftspolitik liberaler oder konservativer Regierungen die eigenständigen Ansätze zu überlagern (Jim Tomlinson). Hinter diesem Vorgehen traten auch ureigenste Labour-Anliegen zurück: So erhielt in der "Stagflationsphase" der 1970er Jahre statt des traditionellen Labour-Ziels der Vollbeschäftigung die Bekämpfung der Inflation wirtschaftspolitische Priorität. Ökonomische Erwägungen prägten auch die konkrete Ausgestaltung des welfare state durch die Attlee-Regierungen (1945-1951), auch für die Autoren des Sammelbandes die beachtenswerteste Leistung der Partei in ihrer Regierungsgeschichte. Wie aber Pat Thane zu Recht hervorhebt, blieb gerade dieser größte Erfolg der Labour Party fragmentarisch: Ein aufeinander abgestimmtes System sozialer Sicherung, wie es der Begriff "des" Wohlfahrtsstaats suggeriert, schuf Labour letztlich nicht (S. 103).

Die konzeptionellen Probleme der Labour-Regierungen ergaben sich nicht zuletzt aus Ambiguitäten innerhalb der theoretischen Grundlegung ihrer Politik. In die Gesetzgebung zur Schaffung der Sozialversicherungssysteme flossen zum Teil widersprüchliche Ansätze ein; so wurde das Ziel der universalen Versorgung unterlaufen durch moralisierende Elemente, die den Anspruch auf Leistungen an den Nachweis individueller Gemeinschaftstauglichkeit (z. B. Arbeitswilligkeit) banden. Jose Harris zeigt zudem, in welchem Ausmaß das soziale und politische Denken der Labour Party von ungeklärten Widersprüchen durchsetzt war. So brachen sich die Initiativen, eine Modernisierung der Wirtschaft durch die Nationalisierung wichtiger Industriezweige - also eine Stärkung zentraler Lenkung - zu erreichen, immer wieder an dem Ideal einer dezentralen Kontrolle des Produktionsprozesses durch die Arbeiter selbst. Immerhin zeigte das Bestreben um "Modernisierung", "Reformen", "Rationalisierung", "Effektivitätssteigerung" und "Planung", dass die Partei stets aufs Neue in der Lage war, aktuelle gesellschaftsplanerische Entwicklungen aufzugreifen und in ihre Programmatik zu integrieren - häufig unter Anpassung der Begrifflichkeit an neue Gegebenheiten. Wurde beispielsweise in den 1950er Jahren mit dem Begriff "Modernisierung" in erster Linie eine zentrale Wirtschaftslenkung verbunden, so rückt unter New Labour gegenwärtig die Erziehungspolitik ins Zentrum des Modernisierungsdiskurses. Selbst das Nationalisierungsprogramm der Attlee-Regierungen wurde nur sekundär als Umsetzung sozialistischer Ideale präsentiert; im Vordergrund stand die Überzeugung, nationalisierte Schlüsselindustrien seien das geeignete Instrument zur Schaffung einer rationalen, effektiv organisierten Wirtschaftsordnung.

Das Streben nach "Reformen" beinhaltete für Labour auch eine Umgestaltung des britischen politischen Systems, von der Ausweitung des Wahlrechts über eine Oberhausreform bis hin zur größeren Unabhängigkeit der einzelnen Landesteile (devolution). Während aber Thorpe den Attlee-Regierungen dezidiert das Fehlen eingehender Wahl- und Oberhausreformen vorhält, geht Miles Taylor fast schon zu weit in seinem Versuch, die unter Blair eingeleiteten Verfassungsänderungen als wesentliches Anliegen der gesamten Labour-Geschichte zu präsentieren. Immerhin gelingt es ihm aber, den unausgesetzten Diskussionsprozess über entsprechende Fragen nachzuweisen, wobei in einzelnen Fragen durchaus keine Einigkeit im Hinblick auf die angestrebten Ziele bestehen musste. Wie Taylor ist auch Alistair Reid bestrebt, von einer aktuellen Problemlage ausgehend historische Perspektiven zurechtzurücken: Trotz des deutlichen Niedergangs der Bedeutung der britischen Gewerkschaften seit der Thatcher-Ära spricht er den unions weiterhin eine wichtige Rolle für den zukünftigen Erfolg der Labour Party zu. Allerdings zeigen seine historischen Rückblenden, dass das Verhältnis zwischen den auf Tarifautonomie bestehenden Gewerkschaften und der auf eine planned economy abzielenden Labour Party häufig alles andere als unproblematisch war. Gerade das sich im winter of discontent offenbarende Versagen der Partei bei der Aufgabe, die Gewerkschaften auf politische Vorgaben zu verpflichten, trug wesentlich zum Wahlsieg der Konservativen 1979 und der Popularität der gewerkschaftsfeindlichen Politik Thatchers bei.

Auch das Verhältnis der Partei zu ihren Mitgliedern war alles andere als konfliktfrei; berüchtigt sind vor allem die Grabenkriege zwischen linksorientierten Teilen der Parteibasis und moderater Parteiführung in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren. Duncan Tanner geht es demgegenüber in seinem Beitrag darum, das weitgehend konstruktive Miteinander dieser Ebenen herauszustellen. Allerdings waren es gerade die aufsehenerregenden Eskapaden unverantwortlich wirkender Parteiaktivisten, die immer wieder den Erfolg der Labour Party in der breiten Wählerschaft untergruben. Nick Tiratsoo sieht darin nicht nur einen der Gründe für den insgesamt eher mäßigen Erfolg der Partei bei Parlamentswahlen, sondern auch eine Ursache für den innerparteilichen Kontrollfetischismus der Blair-Führung.

Im Verhältnis zu den Wählern ist grundsätzlich festzuhalten, dass Labour nie die Partei aller Arbeiter war. Noch 1924, als sie ihre erste (Minderheits-)Regierung unter Ramsay MacDonald stellte, handelte es sich bestenfalls um "the party of a section of the working class, with a limited ability to appeal even to further members of the working class" (Thorpe, S. 56). Ihre ersten eigenständigen Wahlerfolge verdankte sie nicht zuletzt dem im Ersten Weltkrieg offenkundig gewordenen Scheitern der Liberal Party. Diese spaltete sich nicht nur in Flügel um Lloyd George bzw. Asquith, sondern vor allem ihre politischen Ideale, die ein friedliches Miteinander der Nationen durch steten Handelsaustausch und Rüstungsreduzierung versprachen, waren durch den Krieg grundlegend diskreditiert. Im Gegensatz zur traditionellen Labour-Historiographie, die den Aufstieg einer Arbeiterpartei wegen wirklicher oder angeblicher Klassenbildungsprozesse seit dem späten 19. Jahrhundert für gleichsam unvermeidlich hielt, betont die gegenwärtige Forschung die Bedeutung "kontingenter" politischer Entwicklungen, die gerade im Gefolge der Weltkriege zur Durchsetzung der Labour Party beitrugen. Doch auch in Zeiten des Erfolges sah sich die Partei mit einem grundlegenden Problem konfrontiert: Das Ziel der Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums, das viele Parteiaktivisten beflügelte, war eigentlich obsolet geworden, als der Aufstieg der Partei gerade erst richtig begann. Es setzte die volkswirtschaftliche Prosperität des 19. Jahrhunderts voraus. Stattdessen fiel die politische Durchsetzung der Labour Party mit dem ökonomischen Niedergang Großbritanniens im 20. Jahrhundert zusammen. Immer wieder hatten die gesellschaftlichen Umgestaltungspläne hinter der Aufgabe zurückzutreten, die Folgen des Niedergangs zu bewältigen. Die Autoren der beiden Bände stellen den Labour-Regierungen dabei insgesamt ein eher positives Zeugnis aus, indem sie die Zwangslagen hervorheben, unter denen alle sozialen Fortschritte überhaupt erst erzielt wurden. Damit widersprechen sie Deutungen, die gerade den Attlee-Regierungen unterstellen, fast schon wider besseres Wissen an der Weltmachtstellung Großbritanniens und am Ziel des Wohlfahrtsstaats festgehalten und darüber die dringend erforderliche industrielle Modernisierung versäumt zu haben. (_1) Allerdings wird die "Dialektik" jeglicher Sozialpolitik nicht in Rechnung gestellt: Dass aus den Sozialprogrammen selbst neue Probleme erwachsen, könnte ausführlicher diskutiert werden, zumal diese Erfahrung nicht zuletzt im Hintergrund der Programmatik von New Labour steht.

New Labour selbst allerdings ist stets als Bezugspunkt der Sammelband-Essays präsent. Steven Fielding zeigt zudem in einem eigens New Labour gewidmeten Beitrag, in welchem Maße auch die Blair-Programmatik bei aller rhetorischen Distanzierung von angeblichen alten Labour-Praktiken den Parteitraditionen verpflichtet ist. So betonen auch Tony Blair und Gordon Brown die Labour-typische Gemeinschaftssolidarität, der sie aber die ihrer Meinung nach häufig vernachlässigte Gemeinschaftsverpflichtung jedes Einzelnen zur Seite stellen wollen. Auch in ihrem außenpolitischen Programm erscheinen sie traditionellen Labour-Themen verpflichtet. Zwar gelang es der Labour Party im Laufe ihrer Geschichte nie, eine kohärente, aus sozialistischen Prinzipien abgeleitete Außenpolitik zu begründen, doch die aus älteren radikalen Traditionen übernommene Forderung nach einer ethisch motivierten Außenpolitik spielte stets und bis in die gegenwärtige Labour-Politik hinein eine wesentliche Rolle (Stephen Howe). Diese internationalistische Dimension erlaubt es neben der Betonung von Klassensolidarität und Chancengleichheit auch, die Labour Party als Vertreterin eines nordwesteuropäischen Typus von Arbeiterpartei zu interpretieren. Stefan Berger leugnet dementsprechend die landesspezifischen Entwicklungsfaktoren der Parteigeschichte nicht, erteilt aber Versuchen, die Labour Party von den übrigen kontinentaleuropäischen Arbeiterparteien abzusetzen, eine klare Absage.

Eigenständige Beiträge zum Verhältnis der Labour Party zu kulturpolitischen, bildungspolitischen oder europapolitischen Fragen fehlen in dem Sammelband leider. Gerade kulturelle Faktoren bestimmen aber die Interpretationslinie in den Beiträgen von Martin Francis und Jon Lawrence. Während der erste in seinem Beitrag über das problematische Verhältnis der von Männern dominierten Partei gegenüber Frauen auf die Rolle maskuliner Identitäten im Selbstverständnis der Partei eingeht, arbeitet Lawrence in seinem auch methodisch anregenden Beitrag die Bedeutung heraus, die sinnstiftende Darstellungen der Vergangenheit für das emotionale Engagement der Parteimitglieder spielten. Zu diesem Zweck untersucht er zentrale "Mythen", wie die Behauptung vom "Verrat" der Partei durch Ramsay MacDonald 1931 oder die Gründungsmythen der Partei, im Hinblick auf ihre innerparteiliche Identitätsbildungsfunktion.

Mit dem international vergleichenden Aufsatz Bergers und Lawrences Beitrag geht die Essaysammlung thematisch über die Parteigeschichte Thorpes hinaus. Insgesamt aber ergänzen sich beide Bände in idealer Weise: Die in den Einzelessays häufig vorausgesetzten historischen Zusammenhänge sind bei Thorpe übersichtlich und differenziert präsentiert. In beiden Fällen bleiben zwar die Charaktere der handelnden Personen in der Regel blass, doch dies tut der Qualität der sorgfältigen Analysen keinen Abbruch. Beide Darstellungen erlangen ihren Wert nicht zuletzt aus der Tatsache, dass es ihnen gelingt, durch den Blick auf die (wirklichen oder vorgeblichen) Neuorientierungen der Labour Party unter Tony Blair die Parteigeschichte unter einer Perspektive zu betrachten, die über die herkömmlichen Positionen der traditionellen und der "revisionistischen" Labour-Historiographie gleichermaßen hinausweist. Allerdings bringt das Bestreben, neue Sichtweisen auf bekannte Probleme zu etablieren, manchen Autor des Sammelbands dazu, die eigenen Thesen fast schon übertrieben zuzuspitzen. Eine anregende Lektüre ist damit aber allemal garantiert.

Detlev Mares, Darmstadt



1 - Vgl. Correlli Barnett: The Lost Victory. British Dreams, British Realities 1945-1950, Basingstoke / London 1995.


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