ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, Verlag C. H. Beck, München 2000, 250 S., brosch., 28 DM.

Bei "Nation, Nationalismus, Nationalstaat" handelt es sich um eine Sammlung von insgesamt neun Beiträgen, die der Tübinger Neuzeithistoriker Dieter Langewiesche seit Beginn der 1990er Jahre teils an prominenten, teils an abgelegeneren Orten zu diesem großen Themenkomplex veröffentlicht hat. Die meisten Aufsätze beschäftigen sich primär mit Deutschland bzw. der Entwicklung der deutschen "Nation" im 19. Jahrhundert. Das im Titel des Buches angekündigte "Europa" wird erst in dem abschließenden und sehr anregenden Aufsatz über "Historische Wege nach Europa" explizit angesprochen, ist aber auch bei den übrigen Beiträgen zumindest mitgedacht: einmal als die "Außenseite" der deutschen Nation, als Folie, vor der die deutsche Nationalbewegung sich und die deutsche "Identität" definierte; daneben natürlich auch als interessierter Beobachter der deutschen Zustände, der von den Versuchen, eine deutsche "Identität" zu konstruieren und einen nationalen Staat zu konstituieren nicht unberührt bleiben konnte. Für den Neuabdruck wurden die Texte überarbeitet, eine in sich geschlossene Gesamtdarstellung zum Thema, die der Titel erahnen lässt und die man sich aus Langewiesches Feder nur wünschen kann, bietet der Band jedoch nicht.

Sachlich sind die neun Beiträge in drei Blöcken gruppiert. Während sich Langewiesche in den ersten drei Aufsätzen grundlegenden Fragen der neueren Debatten um Nation und Nationalismus widmet, geht es ihm im Mittelteil um Aspekte der kulturellen Nationsbildung (konkret: die Rolle der Sänger und Turner bei der Formierung eines deutschen Nationalbewusstseins), bevor er sich abschließend der staatlichen Dimension der nationalen Frage zuwendet – in der deutschen, dann auch in der europäischen Geschichte. Drei Fragenkomplexe, präzise skizziert und in der allgemeinen Nationalismusdebatte verortet, ziehen sich durch den gesamten Band: 1. die Frage nach dem Verhältnis von "vormoderner" und "moderner" Nation und ihren jeweiligen Charakteristika; 2. die nach der Bedeutung von "Partizipation" und "Aggression" in den modernen nationalen Bewegungen; 3. die nach der föderalen Struktur der deutschen Nationalbewegung. Zu allen diesen Fragen vertritt Langewiesche dezidierte Positionen. So plädiert er dafür, den spezifischen neuzeitlichen Nationalismus klar von vormodernen Formen nationaler Diskurse und nationaler Identifikationen zu trennen. Das heißt nicht, dass die "Nation" in Mittelalter und Früher Neuzeit keine Rolle gespielt hat, im Gegenteil: Langewiesche nimmt die vielfältigen neueren Forschungen zur "Nation vor dem Nationalismus" ernst, die gezeigt haben, dass auf verschiedenen Feldern deutliche Kontinuitätslinien bestanden. Aber er insistiert doch, dass seit der Französischen Revolution die Verbindung zwischen Souveränitätsgedanken und "Nation", mit der Letztere zur "obersten Legitimationsebene", zum "Letztwert" und zum Massenphänomen wurde, eine völlig neue Konstellation geschaffen habe.

Ähnlich dezidiert bezieht Langewiesche in einer zweiten Kontroverse Position: Gegen Otto Dann und andere, die versuchen, strikt zwischen einem liberalen, emanzipatorischen und tendenziell friedlichen, weil toleranten und von der prinzipiellen Gleichwertigkeit der Nationen ausgehenden Patriotismus und einem nach innen konservativen, nach außen aggressiven Nationalismus zu trennen, betont Langewiesche die "Janusköpfigkeit" jeder nationalen Bewegung. Partizipationsverheißung und Aggression seien zwei Seiten ein und derselben Medaille: So könne die frühe deutsche Nationalbewegung, die in der Tat politisch eng mit dem Liberalismus verbunden war, nicht verstanden werden, wenn man nicht gleichzeitig ihre exklusiven territorialen Ansprüche (beispielsweise gegenüber Frankreich oder Polen) und ihre Gewaltbereitschaft zur Kenntnis nehme. Die Koexistenz beider Tendenzen im Denken eines Friedrich Ludwig Jahn oder eines Ernst Moritz Arndt erscheinen Langewiesche typischer als der (kurzlebige) "Völkerfrühling" 1848. Umgekehrt warnt er davor, im radikalen Nationalismus der Jahrhundertwende und des frühen 20. Jahrhunderts ausschließlich "reaktionäre" Kräfte am Werk zu sehen: Die Berufung auf den zur einzigen Richtschnur des politischen Handelns erhobenen Wert der "Nation" konnte langfristig nicht ohne Auswirkungen auf die Partizipationschancen derer bleiben, die sich der "Nation" zugehörig fühlen durften. Dies bedeutete nicht (zwangsläufig) Demokratie, aber doch ein Aufbrechen der hergebrachten Hierarchien und eine Neuverhandlung der politischen Machtchancen.

Bleibt der dritte Fragenkomplex: Überzeugend plädiert Langewiesche für eine "Entborussifizierung" der deutschen Nationalgeschichte und dafür, den, wie er schreibt, "föderativen Grundzug der deutschen Geschichte" stärker als bisher geschehen ins Licht zu rücken. Zu sehr, so Langewiesche, beherrsche auch heute noch die Vorstellung einer zwangsläufigen Entwicklung zum kleindeutschen, preußisch dominierten Nationalstaat die Historiographie. Zweierlei gerate dadurch aus dem Blick: Erstens die "deutsche" Rolle Österreichs, die doch wenigstens bis 1866 zentral gewesen sei (das vergessen zu machen bemühte sich im Übrigen auch die neue österreichische "National"geschichte seit 1945). Der komplexe sozialgeschichtliche, politische und ökonomische Prozess, der das Ausscheiden Österreichs aus der deutschen Geschichte möglich gemacht hat (welches auch nach der Schlacht von Königgrätz nicht so selbstverständlich war, wie es in vielen Darstellungen erscheint), sei noch viel zu wenig erforscht. Zweitens die föderativen Alternativen zum nationalen Einheitsstaat, die gerade aus dem "Dritten Deutschland" bis 1871 entwickelt wurden: Ein "Nationalstaat" französischer oder auch englischer Prägung war auch bei den meisten Anhängern der "nationalen" Bewegung gerade nicht das Ziel, auf das man hinarbeitete, und in ihren Augen schloss Loyalität zum eigenen Territorialstaat ein "nationales" Bewusstsein und Hoffnung auf nationale "Einheit" nicht aus. Hier gibt es in der Tat noch gehörigen Forschungsbedarf, denn die Wandlungen, die der Nationalismus in Deutschland im Gefolge der Reichs- und damit der Nationalstaatsgründung durchgemacht hat, sind gerade bezüglich des Verhältnisses von "Region" (oder Territorium) und "Nation" noch viel zu wenig bekannt.

Anders als zu Beginn der 1990er Jahre, als die ersten dieser Beiträge entstanden, dürfte Langewiesche heute mit vielen seiner Thesen zumindest in der "scientific community" offene Türen einrennen; die Anregungen sind auf fruchtbaren Boden gefallen. Die Stärke des Buches liegt deshalb auch weniger in provozierenden Einsichten als vielmehr in der souveränen Verarbeitung und Präsentation der vielfältigen und für den Einzelnen kaum mehr überschaubaren Forschung der letzten Jahre. Wie schon in seinem großen Literaturbericht von 1995 [ Nation, Nationalismus, Nationalstaat. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Neue politische Literatur 40, 1995, S. 190-236.] zeigt sich Langewiesche als ein zuverlässiger Wegweiser im unübersichtlichen Feld der Nationalismusforschung. Schon das rechtfertigt die vorliegende Publikation.

Daniel Mollenhauer, Erfurt





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