ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Jens Jäger, Photographie: Bilder der Neuzeit. Einführung in die historische Bildforschung (= Historische Einführungen, Bd.7), edition diskord, Tübingen 2000, 219 S., kart., 28 DM.

Die Welt überwuchernde Bilder trügen, so der Philosoph Günther Anders in seiner 'Antiquiertheit des Menschen', stets die Gefahr in sich, ihre Konsumenten zu verdummen. Im Unterschied zu Texten würden sie grundsätzlich keine Zusammenhänge sichtbar machen, sondern immer nur herausgerissene Weltfetzen. Kann sich der Mensch der selbst produzierten Bilderflut gewachsen zeigen?

Jens Jägers Einführung in die historische Bildforschung, die sich exemplarisch auf Fotografien konzentriert, kann hier weiterhelfen. Der Autor beleuchtet seinen Gegenstand und was zu ihm bisher geforscht und herausgefunden wurde von allen Seiten. Nach einem Überblick über den Forschungsstand zur historischen Bildkunde präsentiert Jäger eine kleine Sozialgeschichte der Fotografie und des Fotografierens. Er verknüpft dabei souverän die Grundzüge der technischen Entwicklung mit Analysen zur Rezeption und gesellschaftlichen Verbreitung. Seit Ende der 1830er Jahre wuchs sukzessive die Bedeutung der Fotografie als Medium der individuellen und familiären Erinnerung, als Aufzeichnungsmittel für (wissenschaftliche) Beobachtungen, als Kommunikationsmittel und als ökonomischer Faktor. Im Zuge dieser Entwicklung kam der Fotografie eine zunehmende Bedeutung für die individuelle und kollektive Erinnerung, für die Vermittlung und Herstellung von Wissen und damit für die Konstruktion von Identität zu. Jens Jäger zeichnet diesen Zuwachs an Bedeutung so prägnant wie facettenreich nach. Schade ist allerdings, dass die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, hier wie in dem gesamten Band, lediglich am Rande gestreift wird, da der Zeitraum vor 1914 besser erforscht sei, wie der Verfasser in der Einleitung selbst bedauert. Das kann zugleich als eine Aufforderung verstanden werden, Fotografien auch als aussagekräftige Quellen für die neueste Geschichte zu nutzen, sodass eine Neuauflage der Einführung eine solche Lücke nicht mehr zu vermerken hätte.

Im Anschluss an den Abriss der Fotografiegeschichte werden theoretische und methodische Ansätze der Bildforschung vorgestellt. Der Autor fasst die Vielstimmigkeit der Zugänge in drei "Modellgruppen" zusammen: die Realienkunde, das ikonologisch-ikonographische Interpretationsmodell und neuere kulturgeschichtliche Ansätze. Der realienkundliche Zugang ist der in der Historiographie am meisten verbreitete: Was sagen die Bilder über vergangene materielle Verhältnisse? Die Bildquellen werden hierbei, wie der Verfasser kritisch anmerkt, wie Fenster zu einer vergangenen Wirklichkeit benutzt, sie glauben also an die Objektivität ihres Tuns. Ikonologie und Ikonographie sind dem kunsthistorischen Ansatz Erwin Panofskys entliehen: Zunächst werden die Motive des Bildes erfasst (Ikonographie), dann in der Ikonologie das Thema des Bildes ermittelt, Allegorien und Anekdoten identifiziert, um in einem dritten Schritt sozialhistorische Erkenntnisse in die Interpretation einfließen zu lassen.

Das Herz des Autors der Einführung gilt den neueren kulturwissenschaftlichen Ansätzen: Fotografien werden im Kontext poststrukturalistischen und postmodernen Denkens als Produkte einer sozialen Praxis, als Medien der Weltaneignung und -konstruktion verstanden, die an der Identitätsbildung der Menschen teilhaben. Sie sind in dieser Sicht nicht zuletzt auch Instrumente der Macht, einer im Sinne Michel Foucaults zerstreuten Macht ohne Zentrum, welche sich im Diskurs manifestiert und konstituiert. Inhalt und Bedeutung von Fotografie werden ihrerseits wiederum in diskursiver Praxis geformt, und das heißt nach postmoderner Lesart eben: konstruiert. Der Foucaultsche diskursanalytische Blick auf die Macht der Bilder wird in dem sich anschließenden längsten Kapitel des Buches noch einmal vertieft und konkretisiert: "Themen, Problemfelder und Ergebnisse der Forschung". Die Frühzeit der Fotografie wird hier ebenso behandelt wie die Fotografie von Arbeit und Industrie und in einer etwas merkwürdigen Zusammenstellung "Bildjournalismus - soziale Dokumentation - Propaganda - Krieg".

Insbesondere in dem Abschnitt "Fotografie von Körpern: 'Race, Class and Gender'" entwickelt der Verfasser, mit den vorliegenden Forschungsergebnissen als Referenzboden, ein eigenes Interpretationsmodell für Fotografien und ihre sozialhistorische bzw. diskurshistorische Bedeutung: Der Fotografie kommt, so die nachvollziehbare These, eine exponierte Rolle bei der Konstruktion von ethnischer Zugehörigkeit, Klasse und Geschlecht zu. Wunschvorstellungen und Konzepte vom Menschen können gerade durch Photos mit ihrem Ruf des Dokumentarischen als real existierend vermittelt werden. Dahinter stehen in der Regel die Normen und Körperideale des weißen bürgerlichen Mannes. Das Fotografieren und Zurschaustellen von Menschen, die von dieser Richtschnur abweichen, definiert das Differierende als das Andere, das Fremde und Befremdliche, den Fotografierenden oder Schauenden in der Abgrenzung als das gewünschte Normbild: seien es Eingeborene, Delinquenten oder Geisteskranke. Fotografien werden so von Jäger als Elemente der Diskurse sozialer Kontrolle, der Geschlechterdichotomie und der ethnischen Hierarchisierung gelesen und gedeutet.

In der Entfaltung dieser Dimensionen, was denn die Historiographie mit Fotografien anfangen könnte, wenn sie sie nur erst als Quellen ernst nehmen würde, liegt die Stärke der Einführung. Was nicht in das diskursanalytische Schema der Interpretation passt, gerät allerdings leicht in die Gefahr, zu kurz zu kommen, so etwa die nur sehr kursorisch behandelte Auseinandersetzung um die Bilder der Hamburger Wehrmachtsausstellung, die sicher mehr zur historischen Bildkunde aussagen könnte, als das, was der Verfasser zu dem 'Fall' einschließlich des sich darum entwickelnden Diskurses anmerkt. Aber auch wer vielleicht der Foucaultschen Diskursanalyse ferner steht, kann sich durch diese beispielhafte Einführung in ein historiographisches Spezialgebiet zu eigenen Gedanken und Fragen über die Macht der Bilder in der Geschichte anregen lassen und einen kritischeren Blick auf die Bilderfluten werfen, die wir Menschen täglich zu bewältigen haben. Vielleicht können wir aus den Bildern dann sogar klüger, nicht dümmer werden.

Erik Eichholz, Hamburg





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