FES: Archiv für Sozialgeschichte - Online: 41. 2001 / Rezensionen

ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Christine Engel (Hrsg.), Geschichte des sowjetischen und russischen Films. Unter Mitarbeit von Eva Binder, Oksana Bulgakowa, Evgenij Margolit, Miroslava Segida, Verlag J. B. Metzler, Stuttgart etc. 1999, 382 S., geb., 78 DM.

Die Filmgeschichte eines Landes zu schreiben, kann heute nicht mehr die Leistung eines Einzelnen sein. Die Zeiten, in denen ein Georges Sadoul)(_1) oder ein Jerzy Toeplitz komplette Filmgeschichten vorlegten (Toeplitz gar eine Weltfilmgeschichte)(_2) , sind endgültig vorbei. Auch solch erstaunliches Ein-Mann-Unternehmen wie das von Jay Leyda, als Nicht-Russe die erste russisch-sowjetische Filmgeschichte zu schreiben, ist heute undenkbar.(_3) Ebenso undenkbar ist auch ein opus magnus "Der sowjetische Film", das 1969 vom Moskauer Filminstitut WGIK herausgegeben und staatlicherseits ausdrücklich als Lehrbuch empfohlen wurde, ein ideologiegesättigtes Breshnew-Zeit-typisches Produkt, das die schlichte Komparation zum Dogma hatte: Die sowjetische Filmkunst ist sehr gut und wird immer besser und immer besser.(_4)

Auch hat das 100-jährige Jubiläum des Films vor einigen Jahren allenthalben viele neue Erkenntnisse, insbesondere für die Frühzeit des Mediums erbracht, folglich wuchsen Hintergrund- und Produktionsinformationen, die für die wissenschaftliche Beschreibung und Bewertung von Filmen immer wichtiger werden. Die enormen gesellschaftlichen Veränderungen in den ehemaligen sozialistischen Ländern ermöglichten auch den Filmhistorikern jener Länder – nicht zuletzt dank der "neuen" Zugänglichkeit zu den Schriftgutarchiven – vielerlei neue Erkenntnisse über Repressionen und Zensur-Eingriffe und offenbarten tatsächliche Zuschauerzahlen anstelle ehemals geschönter Rezeptionsverlautbarungen. Zur Forschungslage noch dies: In zahlreichen europäischen Filmarchiven wurden gerade in letzter Zeit Kopien von lange verschollenen oder verloren geglaubten Filmen aufgefunden, auch dies sind enorme Bereicherungen.

Vor diesem Hintergrund nun unternahmen unter Leitung von Christine Engel russische, österreichische und deutsche Historiker den Versuch, eine Geschichte des sowjetischen und russischen Films zu schreiben. Fundament ihrer Arbeit bildete eine umfangreiche Daten- und Filmsammlung auf Video, die das Institut für Slawistik der Innsbrucker Universität (ebenfalls unter Engels Leitung) angelegt hat und dem Vernehmen nach ausbauen will.

In sieben große Kapitel ist das Buch gegliedert und folgt damit im Wesen der historischen Periodisierung und den politischen Zäsuren der Entwicklung der Sowjetunion. Diese Struktur wurde auch schon früher benutzt und ist durchaus noch brauchbar, weil ja tatsächlich die politischen Einschnitte in der sowjetischen Geschichte die konstitutiven Komponenten gerade für die sowjetische Filmkunst bildeten und auch das Ende der Sowjetunion keinen Anlass bot, diese Periodisierung in Frage zu stellen. Innerhalb der Kapitel folgen die Autoren der überlieferten Chronologie (Oksana Bulgakowa und Evgenij Margolit greifen dafür auf Forschungsergebnisse zurück, die sie bereits anderswo vorgelegt haben, wobei nur Bulgakowa rezeptive Angaben einfügt: Zuschauer- und Kinozahlen für die Tauwetter-Jahre und die End-Zeit der Sowjetunion).

Natürlich benennen die Autoren alle jene sowjetischen Filme und ordnen sie ein, die zu ihrer Zeit außerhalb der Sowjetunion bekannt wurden. Da gibt es keine Überraschung, kaum Neu-Interpretationen. Die wären wohl auch nicht nötig, denn die Leistungen der sowjetischen Kinematographie, soweit sie die Weltfilmkunst bereicherten und auf ihre Weise zur Ausprägung des Mediums beitrugen (etwa die Filmavantgarde der 1920er Jahre und nicht nur Eisensteins Filme), sind unbestritten und bleiben es. Die Autoren beziehen auch – und das ist ein großer Wert – Filme ein, die nicht "exportfähig" waren und die nur in der Sowjetunion liefen (wobei gesondert zu untersuchen wäre, inwieweit die Moskauer Zentrale den Export von Filmen als subtile Zensurmaßnahme handhabte).

Neues – und insofern Bemerkenswertes – liefern die Autoren dort, wo sie Zensurvorgänge, personelle Eingriffe der sowjetischen Oberen, Restriktionen durch Drehbuch-Überarbeitungs- oder Nachdreh-Auflagen in ihre Darstellungen einbeziehen. Hier hatte auch schon Jay Leyda mehr gewusst, als er schreiben konnte oder durfte, besonders über Filme der 1930er Jahre, die er vor Ort als beobachtender, sympathisierender, aber letztendlich doch außenstehender Filmenthusiast begleitete. So werden Pressionen der eigenen Art erkennbar, etwa wenn die Eingriffe und autoritären "Lenkungen" durch Stalin beschrieben werden. Schon in der so genannten Tauwetter-Zeit (nach 1956) waren Details dieser Vorgänge bekannt geworden, aber vor allem als – durchaus glaubwürdige Legenden und nicht als Bestandteile öffentlicher Filmgeschichtsschreibung. Als Michail Romm in jener Zeit an seinen Lenin-Filmen "Lenin im Oktober" (1937) und "Lenin im Jahr 1918" (1938) Korrekturen vornahm und mit Umschnitten die Stalin-Figur eliminierte, war dies nicht nur eine redlich gemeinte Korrektur und ein bemerkenswerter Tribut Romms an die (zeitweilige) Entstalinisierung, sondern auch ein retrospektives Indiz für diejenigen besonderen Umstände bei der Produktion der Filme, die ein solches Stalin-Bild hervorgebracht hatten, das nun korrigiert werden musste. Auch Alexander Dowshenkos Ambivalenzen gegenüber Stalin werden beschrieben, z.B. Stalins eigene Projektionen der zur Legende stilisierten Figur des Heerführers Schtschors in dem gleichnamigen Film Dowshenkos (1939). Oder das sonderbare Gegenbeispiel "Tschapajew" (1934, Regie: Georgi und Sergej Wassilijew): Diesen Film sah sich Stalin innerhalb zweier Jahre 14-mal an; er wurde zu seinem Lieblingsfilm par excellence und damit zum Leitfilm seiner verhängnisvollen Urteile über andere Filme. Mittlerweile kann man die Wortlaute der einschlägigen Dokumente aus dem inneren Zirkel der Sowjetmacht nach- und mit NKWD-Geheimdienst-Papieren gegenlesen.(_5)

Hier ist viel wertvolles Material gelagert, das an die sowjetische Filmentwicklung angelegt werden muss und mit dessen Hilfe wirklich aufregende und nötige Differenzierungen ermöglicht werden. Gewiss gelingt dies bald auch für die Zeit nach Stalin.

Hier kann und muss ohne Frage noch weitergearbeitet, vertieft, genauer beschrieben werden, wenn – ja, wenn die Autoren ihr wichtigstes Roh- und Basismaterial, ihre vorrangige Quelle stärker einbezögen, nämlich die Filme selbst. Dies muss nämlich als hauptsächlicher Einwand gelten: Die Filme – ihre Themen, ihre Fabeln, ihr Personal, ihre Bildsprache, auch Montage und Musik – werden sträflich kleingehalten, oft nur auf Stichworte oder Anspielungen reduziert, sodass man annehmen muss, das Buch sei für Kenner der Filme, für Eingeweihte gemacht. Die hiesige potenzielle Leserschaft kennt – wenn überhaupt – bestenfalls nur die Highlights der sowjetischen Filmkunst. Und ein Blick über aktuelle Spielpläne der deutschen Kinos, auch der Programm-Kinos, zeigt, dass sowjetische Filme, ja, selbst jene Highlights, nicht eben präsent sind. So gehen auch wichtige und nötige nationale Differenzierungen unter, etwa die zeitweilig erstaunlichen Leistungen des georgischen Films und die Filme aus den baltischen Ländern.

Dieses generelle Dilemma zwischen Darstellung und Quellenaufbereitung muss gelöst werden, sonst schränkt sich jede filmhistorische Arbeit solchen Anspruchs von vornherein selbst ein – wegen geringer Nutzerfreundlichkeit.

Evgenij Margolit, der über die russische und sowjetische Filmentwicklung bis 1945 schreibt, dampft seinen brisanten, umfangreichen und so sehr entdeckungsträchtigen Stoff sogar so weit ein, dass er weit mehr Filme erwähnt, die abgebrochen oder vernichtet oder verhindert wurden als realisierte Werke, also Filme und Projekte, die ohnehin keiner kennt (und oft nicht mal er selbst). Und da wird sein Vorgehen problematisch, denn eine Filmgeschichte kann man nur anhand vorhandener Filme schreiben, die Darstellung "ungeborener Kinder" kann nur als – gewiss wichtige – Ergänzung, als Auffüllung dienen.(_6)

Noch dies zu seinen Texten, die immerhin die runde Hälfte der sowjetischen Filmentwicklung abdecken: Margolit lehnt sich sehr an Bachtins Theorien von der Lachkultur, an dessen plausible Gegenüberstellung von Gegenläufigkeiten und Überwindungen "hoher" durch die Lachkultur des Volkes über Jahrhunderte hinweg. Margolit schließt jedoch Bachtins Konstrukt bezüglich der Filmkunst insofern kurz, als er nur Bachtins Sicht gelten lässt, hingegen die soziale Grundierung der sowjetischen Filme, die unabdingbar zu ihrer Konstituierung gehören, ignoriert, wie er auch weithin die ästhetischen und medialen Dimensionen der Filme, z.B. als Spezifika von Bild- und Filmsprache, wegschneidet. Mit der Übertragung Bachtins als Raster, mit der Beschwörung seiner Theorie allein jedenfalls ist nicht zu fassen oder mindestens höchst einseitig, was die russische/sowjetische Filmkunst ausmachte. Wenn man eine Ideologie durch eine andere ersetzt, ist nichts gewonnen.

Dieses Filmgeschichtsbuch ist ein Gewinn, ohne Frage, und ihm sind viele Leser zu wünschen, auch wenn es – infolge der genannten Film-Reduzierungen – wie im Schnellgang, beinahe atemlos geschrieben wirkt. Als erster wichtiger Versuch in neuerer Zeit fordert es zur weiteren, tieferen Erkundung der sowjetischen Filmgeschichte auf und kann – vielleicht – einen kleinen Druck erzeugen, mehr und andere und unbekannte Filme jenes Landes in die deutschen Kinos zu bekommen.



Günter Agde, Berlin



1 - Georges Sadoul , Historie de l’art du Cinema des origines à nos jour, Paris 1955, dt. Geschichte der Filmkunst, Wien 1957.

2 - Jerzy ToeplitzGeschichte des Films, Warschau 1955 ff., dt. Berlin/DDR 1975 ff.

3 - Jay Leyda Kino. A History of the Russian and Soviet Film, Princeton 1960.

4 - Kratkaja Istorija Sowetskowo Kino, dt. Der sowjetische Film, 2 Bände, Berlin/DDR 1974.

5 - Die vorzügliche Quellensammlung „Wlast i chudoshestwennaja intelligenzija„ (Macht und künstlerische Ingelligenz), Moskau 1999, versammelt über 500 Dokumente von 1917 bis zum Tode Stalins ausschließlich aus der Partei- und Geheimdienstführung. Auch die Notizen Boris Schumjazkis, des Leiters der Hauptverwaltung Film bis 1937, in denen er die Bemerkungen von Stalin und den Seinen nach den nächtlichen Filmvorführungen im Kreml notierte, sind nun im Archiv zugänglich. Schließlich gibt es auch die wortgetreue Veröffentlichung der Tagebücher/Arbeitshefte von Dziga Vertov, dem wichtigsten Dokumentarfilmregisseur jener Jahre, einen tiefen intimen Einblick in innere Produktions-und Zensurvorgänge, und dies strikt aus der extrem subjektiven Sicht eines Filmaktiven. Vgl. Dziga Vertov , Tagebücher/Arbeitshefte, hrsg. von Thomas Tode und Alexandra Gramatke , Band 14 der Reihe Close Up, Schriften aus dem Haus des Dokumentarfilms Stuttgart, Konstanz 2000.

6 - Margolit nutzt hier vor allem seine sehr verdienstvolle, fundierte Auflistung aller nicht-realisierter und verbotener Filme: Evgenij Margolit (und V’atscheslaw Schmyrjow), Iz’jatoe Kino, Moskau 1995.




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