ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Martin Burkert, Die Ostwissenschaften im Dritten Reich. Teil 1. Zwischen Verbot und Duldung. Die schwierige Gratwanderung der Ostwissenschaften zwischen 1933 und 1939, (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 55). Verlag Otto Harrasowitz, Wiesbaden 2000, 771 S., geb., 148 DM.

Die in den letzten Jahren intensiv geführte Diskussion um die Rolle der Humanwissenschaften im Nationalsozialismus wird durch die vorliegende Studie um mehr als 750 Seiten erweitert. Dieses beachtliche Quantum ist allerdings nur der erste Teil einer zweibändigen Darstellung über die deutsche Osteuropaforschung von 1933 bis 1945, deren baldige Fertigstellung in der Einleitung angekündigt wird. Der von Burkert gewählte Terminus "Ostwissenschaften" umfasst die Gesamtheit der auf Ostmittel- und Osteuropa bezogenen Disziplinen, die er in einer Art "Haftungsgemeinschaft" sieht: "die Osteuropaforschung, die klassische Ostforschung und die auf Osteuropa gerichtete Deutschtumsforschung" (S. 69). Zweifellos würde ein Gesamtüberblick über diesen Komplex, der Forschungsergebnisse zusammenfasst und offene Fragen benennt, die Forschung bereichern. Aber schon die angeführte Konstruktion des Untersuchungsgegenstands zeigt, dass es Burkert darum nicht zu tun ist. Vielmehr liefert er eine außerordentlich polemische Abrechnung mit der gesamten Forschungsliteratur – von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen. Im Vorwort gibt er an, dass er sich auf die Rezeption von Publikationen bis 1995 beschränken musste, die seitdem erschienen Arbeiten dann aber im zweiten Teil seiner Darstellung über die Kriegsjahre abhandeln will. Da Burkert aber durchaus auf manche später erschienene Arbeiten eingeht, muss man annehmen, dass er sich von einer vollständigen Rezeption der Forschungsliteratur, die ja gerade in den letzten Jahren umfangreich erschienen ist, keinen Erkenntnisgewinn verspricht, sondern dass er in dem kommenden Part seine Kritik im Stile des vorliegenden Bandes fortsetzen wird.

Burkert entwirft dabei eine Verschwörungstheorie, der zufolge Historiker aus der DDR und der Volksrepublik Polen die These von den Osteuropaforschern als Werkzeugen des Nationalsozialismus in die Welt setzten, bis sie schließlich "unverhofft" (S. 29) in Christoph Kleßmanns Aufsatz über "Osteuropaforschung und Lebensraumpolitik im Dritten Reich" von 1985 _(1) die Bundesrepublik erreichten, und dann insbesondere in den Arbeiten von Götz Aly_(2) und Michael Burleigh_(3) weite Verbreitung fanden. Kleßmann unterstellt er eine "für propagandistische Arbeiten so charakteristische Monokausalität" (S. 34), Burleigh "eine durch nichts zu rechtfertigende Vertrauensseligkeit bezüglich der DDR-Forschung" (S. 41). Auffallend ist, dass Burkert den ersten bundesdeutschen Ansatz zur Traditionskritik von Walther Schlesinger und Eugen Lemberg auf einer Tagung des Johann-Gottfried-Herder Forschungsrates 1963,_(4) der sich nicht in diesen holzschnittartigen Interpretationsrahmen fügt, überhaupt nicht erwähnt.

Gelten lassen will Burkert allein jüngere polnische Forschungen und vergleichende deutsch-polnische Ansätze, die er freilich einseitig auf seine Interpretation verpflichtet. Wenn er behauptet, dass sich in Polen der Begriff "polnische Westforschung" (als Pendant zu "deutscher Ostforschung") gegenüber der traditionellen Benennung "polnischer Westgedanke" durchgesetzt habe, so ist das schon deshalb unsinnig, weil eine solche sprachliche Differenzierung in der polnischen Wissenschaftssprache gar nicht existiert.

Auch Burkerts Begrifflichkeit ruft starke Zweifel hervor. Das gilt weniger für den reaktivierten Begriff "Ostwissenschaften". Als Osteuropaforschung und Ostforschung umfassender Begriff mag er für die Jahre des Dritten Reichs durchaus Erkenntnisgewinn vermitteln, wenn man die Pläne etwa von Hans Uebersberger oder Theodor Oberländer zur Zentralisierung der Osteuropaforschung betrachtet. Erstaunen lassen aber die Begriffe "klassische Ostforschung" (S. 32) oder "genuin preußische Ostforschung" (S. 37) oder auch "Weimarer Ostforschung", die Burkert keineswegs auf die Zeit vor 1933 beschränkt. Diese Attribute haben für ihn unübersehbar einen normativen Kern: In der Ostforschung unter der Leitung von Albert Brackmann und Johannes Papritz habe sich Wissenschaftlichkeit mit Politikberatung zur Abwehr von unwissenschaftlichen Angriffen aus dem Ausland verbunden. In "einer Lenkung ‚nach großen politischen Gesichtspunkten‘" (S. 118) mag Burkert in fundamentalem Gegensatz zu der bisherigen Forschung über die deutsche Ostforschung und Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus keine Einschränkung der Wissenschaftlichkeit sehen. Insgesamt, so Burkert, habe sich die Ostforschung auf dem Wege zu einer umfassenden wissenschaftlichen Beschäftigung mit der deutsch-polnischen Geschichte befunden, bevor sie durch das nationalsozialistische Regime davon abgebracht worden sei.

Hier zeichnet sich Burkerts erkenntnisleitendes Interesse ab, in einem revisionistischen Durchgang durch die Quellen und Forschungsliteratur die "völlige Ungeeignetheit" (S. 657) der Ostforschung für das NS-Regime zu belegen, wie schon der Untertitel seiner Publikation erhellt. Mit großer Beharrlichkeit breitet Burkert auf mehr als 750 Seiten seine Argumente aus, die vor allem belegen sollen, daß die Osteuropawissenschaftler im Dritten Reich keineswegs "Vordenker der Vernichtung" waren, sondern selbst Opfer des nationalsozialistischen Regimes, das sie schikanierte, ihrer Karrieren beraubte, sie mit einem Fuß ins KZ brachte und schließlich im Zweiten Weltkrieg in großer Zahl fallen ließ (S. 37). Gewiss ließe sich an den Studien der letzten Jahre über die Ostforschung im Dritten Reich manches kritisch anmerken, aber der Mühe einer sachbezogenen Auseinandersetzung unterzieht sich Burkert erst gar nicht. Seine selektive und stellenweisen verzerrte Wahrnehmung der Forschungsliteratur prägt auch seine Präsentation des Quellenmaterials sowie der Entwicklung der Ostforschung und Osteuropa-Forschung. Burkert zufolge gab es keinen institutionellen Ausbau der Ostforschung seit 1933 (S. 38), da die Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft (NOFG) als organisatorischer Rahmen durch Hans Steinacher vom Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) aufgezwungen worden sei. Auf der Tagung der NOFG in Kahlberg im August 1934, nach dem Abschluss des Nichtangriffspaktes mit Polen, seien die Teilnehmer gedemütigt worden, daraufhin sei es zum "Widerstand" der Ostforscher (S. 171) gegen das NS-Regime gekommen. Um sich der drohenden Auflösung zu entziehen, habe man sich von dem Ziel einer – friedlichen – Grenzrevision losgesagt und sich auf Deutschtumsforschung beschränken müssen, meint Burkert. Eine volksgeschichtliche Modernisierung, wie sie etwa von Willi Oberkrome_(5) behauptet wurde, war Burkert zufolge für die Ostforschung gar nicht nötig, da "für jeden Kenner der osteuropäischen Verhältnisse [...] die Revisionsbedürftigkeit der staatlichen Ordnung Osteuropas eine Selbstverständlichkeit" war (S. 64). Hier wie auch an anderen Stellen kombiniert Burkert unbelastet von methodologischen Überlegungen die Perspektive seiner Protagonisten mit eigenen Wertungen.

Zu Schlüsselereignissen für seine zentrale These der "völligen Ungeeignetheit" werden für Burkert die "Beraubung" des Breslauer Osteuropa-Institutes (S. 216), dessen Bibliothek 1937 in das sogenannte "Wannsee-Institut" überführt wurde, die Absetzung Theodor Oberländers in Königsberg (1937) und die Zwangspensionierung Albert Brackmanns (1936), der aber dennoch Leiter der NOFG blieb, wie Burkert am Rande erkennen lässt. Dass der Durchgang durch die Institutionengeschichte, abgesehen vom Bestand der Dahlemer Publikationsstelle, quellenbedingt fragmentarisch bleiben muss, räumt Burkert ein. Allerdings unterlässt er es, etwa Angaben über Mitarbeiter und den Umfang und Inhalt der Forschungs- und Publikationstätigkeit zusammenzustellen, was durchaus möglich gewesen wäre. Stattdessen überspielt er die Lücken im Material durch zahlreiche und zudem häufig wiederholte Hypothesen und rhetorische Fragen. Deutlich wird dies etwa an dem Danziger Archivdirektor Walther Recke, zu dem es stereotyp heißt, daß er wegen wichtiger Aufgaben für den Danziger Senatspräsidenten Hermann Rauschning unabkömmlich war (S. 299), ohne dass diese wichtigen Aufgaben näher belegt werden. Burkerts Darstellung des von Recke geleiteten Ostland-Institutes macht zudem deutlich, dass er es für nicht notwendig hielt, die in den Akten der Ministerien ermittelten Informationen etwa mit der Publikationstätigkeit des Instituts in Beziehung zu setzen. So bleibt die Aussage, das Institut habe "an der Spitze der mit der deutsch-polnischen Auseinandersetzung befassten Einrichtungen" gestanden (S. 298), konturlos.

Auch in anderen Fällen finden sich Urteile über Publikationen, die nur in Unkenntnis ihres Inhalts entstanden sein können, etwa zu dem Band "Deutschland und Polen", der in Polen keineswegs als Angebot zur deutsch-polnischen Verständigung rezipiert wurde. Unzutreffend sind auch die Aussagen, es habe nur wenige in offiziellem Auftrag erstellte wissenschaftliche Publikationen im Rahmen der Ostforschung in den zwanziger Jahren gegeben.

Ein weiterer eklatanter Schwachpunkt der Studie ist die Tatsache, dass sich Burkert wiederholt auf die polnische Westforschung als Pendant zur Ostforschung beruft, seine Angaben über sie aber fast ausschließlich den Quellen der Ostforschung entnimmt. So analysiert er nicht die Wechselwirkungen zwischen deutschen und polnischen Wissenschaftlern, sondern übernimmt ungeprüft die interessengeleitete deutsche Darstellung insbesondere des Ostsee-Instituts (Instytut Ba³tycki) in Thorn bzw. Gdingen, das Burkert – dem antiquierten Sprachgebrauch der Zwischenkriegszeit folgend – als "Baltisches Institut" bezeichnet. Über dessen Tätigkeit und Personal repliziert er zwangsläufig falsche und verzerrte Angaben; so wird dessen Direktor z. B. zu einem früheren preußischen Beamten etc. Er übersieht, dass es – wie das Ostland-Institut – zunächst ein Ein-Mann-Unternehmen war, und lässt es zehn Jahre vor dem Danziger Institut, also 1917 (statt 1925) entstehen (S. 294).

Erstaunen muss schließlich auch Burkerts Interpretation des deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes vom Januar 1934, den er stereotyp als Hitler-Pi³sudski-Pakt bezeichnet. Von einem taktischen Kalkül in der Polenpolitik Hitlers will Burkert nichts wissen, er vermutet sogar eine mündliche Aufteilung der Interessenssphären in Osteuropa zwischen Hitler und Pi³sudski und sieht dann Deutschland und Polen gemeinsam aus dem Völkerbund austreten. Gegipfelt habe diese Politik in einem Verrat Hitlers an der nationalsozialistischen Bewegung (S. 735), da die deutsche Minderheit in Polen dem Vertrag geopfert worden sei. Nach der Kündigung des Vertrags im Frühjahr 1939 seien auf deutscher Seite schließlich kompromittierende Dokumente vernichtet worden.

Aus diesen Interpretationen leitet Burkert dann eine "Koalition" von NS-Staat und polnischer Westforschung gegen die deutsche Ostforschung ab (S. 347). Beide hätten eine ethnozentrische Politik verfolgt und damit die Absicht der deutschen Ostforscher verhindert, die, ausgehend vom französischen Modell des freien nationalen Bekenntnisses (S. 239), die deutsche Nationalität der Kaschuben, Masuren und Schlonsaken bei slavischer Haussprache erhärten wollten (S. 152). Damit hätten sie die Grundlage für eine friedliche Grenzrevision auf der Selbstbestimmungsrecht der Völker schaffen wollen.

Von der Fragwürdigkeit dieser Thesen einmal abgesehen, korrelieren Burkerts Aussagen auch nicht mit den von ihm befragten Quellen und der herangezogenen Forschungsliteratur. Seine Thesen über die zentrale Rolle des deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes in Hitlers Ostpolitik basieren vor allem auf dem Zitieren von Presseberichten und nicht auf einer Analyse der nationalsozialistischen Außenpolitik. Und für sein häufig wiederholtes Argument, die deutsche Ostforschung habe sich der polnischen Westforschung erwehren müssen, hätte er diese genauer betrachten müssen. Stattdessen gibt er unkritisch die Ansichten der deutschen Wissenschaftler wider, und er stützt sich auch nur auf die von der Dahlemer Publikationsstelle bereitgestellten Übersetzungen polnischer Texte. Und ein weiterer Punkt verdient Beachtung: So einfühlsam Burkert die Probleme der Osteuropaforschung mit den staatlichen und Parteiämtern wiedergibt, so unscharf bleiben in seiner Darstellung die Institutionen, die er als Opponenten der Ostforschung ausmacht: das NS-Regime, innerhalb dessen er divergierende Interessen kaum wahrnimmt; die SS, die eine eigene Ostforschung organisierte, von der der Leser aber kaum etwas erfährt; sowie die polnische Westforschung, über deren Umfang und Struktur kaum etwas verlässliches gesagt wird, obwohl sie doch in einem "unlösbaren Zusammenhang" (S. 33) mit der Ostforschung bei Burkert erscheint.

So repliziert er die Äußerungen der Protagonisten der deutschen Ostforschung und Osteuropaforschung, ohne die Begrenztheit und Interessengebundenheit ihrer Wahrnehmung überhaupt zu reflektieren. Dies schien ihm auch nicht nötig, da er sich allenthalben mit ihren Ansichten identifiziert. Dieses Vorgehen lässt keinen anderen Schluß zu, als dass es ihm allein um eine Reinwaschung Albert Brackmanns, Johannes Papritz’ und Theodor Oberländers und anderer von den Vorwürfen der Ostblock-Propaganda ging. So versetzt Burkert den Leser noch einmal in die Grabenkämpfe des Kalten Kriegs.

Hier liegt ein Werk von über 750 Seiten vor, das von eben dem "manichäischen Furor" (S. 23) geprägt ist, den der Verfasser der DDR-Forschung attestiert. Zusammen mit zahlreichen, ermüdenden Wiederholungen und einer unausgegorenen Gliederung des Buches werden so die in ihn enthaltenen Sachinformationen, etwa über das Institut für osteuropäische Wirtschaft in Königsberg und das Schneidemühler Institut für Heimatforschung von den geschilderten eklatanten Schwächen der Publikation überlagert. Selbst als Ansatz zu einem kritischen Durchgang durch die bisherigen Forschungen wird man Burkerts Studie kaum gebrauchen können.

Jörg Hackmann, Greifswald


1 - Christoph Kleßmann, Osteuropaforschung und Lebensraumpolitik im Dritten Reich, in: Peter Lundgreen (Hrsg.), Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt/Main 1985, S. 350-383.

2 - Götz Aly/Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Frankfurt/Main 1993.

3 - Michael Burleigh, Germany turns eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1988.

4 - Deutsche und europäische Ostsiedlungsbewegung. Referate und Aussprachen der wissenschaftlichen Jahrestagung des Johann Gottfried Herder-Forschungsrates vom 7.-9. März 1963, Marburg 1964. Diese Tagungsdokumentation erschien freilich nur zur internen Verwendung, ist aber in Bibliotheken zugänglich. Der wichtige Vortrag von Walter Schlesinger „Die mittelalterliche deutsche Ostbewegung und die deutsche Ostforschung„ wurde 1997 in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 46, 1997, S. 427-457, veröffentlicht.

5 - Willi Oberkrome , „Volksgeschichte„. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918 - 1945 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 101), Göttingen 1993.



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