ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Willy Brandt – Berliner Ausgabe, hrsg. im Auftrage der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung von Helga Grebing, Gregor Schöllgen und Heinrich August Winkler

Obwohl nur 4½ Jahre Bundeskanzler, so hat Willy Brandt neben Konrad Adenauer wie kein anderer die politische Kultur und die Geschichte der Bundesrepublik geprägt. Der Bundestag tat gut daran, 1994 ihm zu Ehren eine Bundesstiftung ins Leben zu rufen, die nach ihrem Errichtungsgesetz die Aufgabe hat, das "Andenken an das Wirken Willy Brandts für Freiheit, Frieden und Einheit des deutschen Volkes, die Sicherung der Demokratie in Europa und der Dritten Welt, die Vereinigung Europas sowie die Verständigung und Versöhnung unter den Völkern zu wahren" und "damit einen Beitrag zum Verständnis des 20. Jahrhunderts und der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland" zu leisten (Geleitwort des Vorsitzenden des Stiftungsvorstandes, Gerhard Groß, zu Bd. 4, S. 11). Nun – das Wissen um die Bedeutung einer historischen Persönlichkeit setzt zunächst einmal die Kenntnis des politischen Lebensweges des Protagonisten voraus. Diese Kenntnis zu vermitteln, ist das Ziel der auf 10 Bände angelegten "Berliner Ausgabe", die sich an eine "breite historisch-politisch interessierte Öffentlichkeit" wendet. Die Reihe gliedert sich nach den unterschiedlichen Funktionen und Ämtern Willy Brandts. Die ersten beiden Bände des ambitionierten Projektes liegen nun vor. Dass zuerst die Bände 2 und 4 erschienen sind, ist nicht als Manko zu sehen, da auch die anderen Bände in einem relativ kurzen Zeitraum erscheinen werden. So ist es zumindest angekündigt.

Fundus der gesamten Edition ist im Wesentlichen der 400 laufende Aktenmeter umfassende Nachlass im Willy-Brandt-Archiv, der im Archiv der sozialen Demokratie der Bonner Friedrich-Ebert-Stiftung lagert. Angesichts der umfangreichen Papiere war erste und zentrale Aufgabe von Herausgebern und Editoren die Auswahl der Dokumente. Das gilt auch und im Besonderen für die bislang nur wenig beleuchtete Zeit des Deutsch-Norwegers im schwedischen Exil (Bd. 2). In den abgedruckten Briefen, Manuskripten und Auszügen aus Broschüren und Büchern der Jahre 1940 bis 1947 steht die deutsche Frage im Zentrum. Mit gutem Grund hat der Herausgeber auf Brandt-Beiträge zum norwegischen Freiheitskampf verzichtet, da sie, obwohl sie im Wirken Brandts in diesen Jahren einen zentralen Platz einnahmen, für das deutsche Publikum weniger von Interesse sind. Einhart Lorenz gibt in seiner umfassenden Einleitung zu den Dokumenten (29 an der Zahl) ein einprägsames Bild der Stationen von 1940 bis 1947, als Brandt nach dem Überfall auf Norwegen das gerade zu seiner zweiten Heimat gewordene Land in Richtung Schweden verlassen musste. Hier profilierte sich Brandt, der in der schwedischen Emigration zum norwegischen Staatsbürger wurde, als führender Teil des norwegischen Exils im skandinavischen Nachbarland und hatte entscheidenden Anteil an der Formulierung der norwegischen Nachkriegspläne, wenn er auch aufgrund seines Lebensweges eher als ein Außenseiter zu gelten hat. Seine Stockholmer Jahre standen ganz im Zeichen journalistischer und schriftstellerischer Arbeit für Norwegen, doch richtete sich sein "Gesicht" auch und mit der Zeit immer stärker "nach Deutschland": "Ich arbeitete für ein freies Norwegen und für ein demokratisches Deutschland."

Im November 1947 entschied sich Brandt dann endgültig für Deutschland, aber die Jahre in Skandinavien prägten den späteren Politiker in entscheidendem Maße; hier hatte er eine andere Staats- und Regierungsform erlebt, eine tolerante politische Kultur erfahren, eine Arbeiterbewegung mit dem Charakter einer Volksbewegung und – besonders wichtig – wohlfahrtsstaatliche Sozialpolitik aus allernächster Nähe betrachten können. Diese Erfahrungen hatten ihn gelehrt, den "engen nationalen Standpunkt" zu überwinden. So gesehen hatte er im Nachkriegsdeutschland eine Art Vorsprung vor den anderen sozialdemokratischen Funktionären, die in der "inneren Emigration" oder in den Konzentrationslagern und Zuchthäusern Hitler-Deutschland überlebt hatten und nun an den Neuaufbau einer stabilen zweiten Republik gingen. Und Brandt wollte dabei sein.

Die Jahre in der Emigration, die Annahme der norwegischen Staatsbürgerschaft, das Exil in Schweden, die Arbeit als Presseberichterstatter für skandinavische Zeitungen nach 1945 im besiegten und besetzten Deutschland, u. a. beim Nürnberger Kriegsverbrechertribunal, die Arbeit als Presseattaché bei der norwegischen Militärkommission in Berlin, wo er die norwegische Uniform zu tragen hatte – all dies sollte in seiner späteren Karriere immer wieder zum Anlass für schäbige Unterstellungen und Verleumdungen werden. Da scheuten sich bei den Bundestagswahlen 1961 selbst Symbolfiguren der jungen Bundesrepublik wie Adenauer ("Herr Brandt alias Frahm") und Strauß ("Was haben Sie zwölf Jahre lang draußen gemacht?") nicht, sich durch dumpfe Anspielungen in die Reihe der Verleumder gegen den sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten einzureihen. Diese Verunglimpfungen – "unsinnige und böswillige Gerüchte", wie Brandt 1967 schrieb (Bd. 4, S. 396) – bilden gewissermaßen eines der inneren Bindeglieder zum hier vorzustellenden weiteren Band (4), der "Brandt und die SPD 1947 bis 1972" zum Thema hat: Er dokumentiert jenen steinigen Weg Willy Brandts vom Berlin-Beauftragten der SPD bis zum Sieger in den Bundestagswahlen 1972, dem Höhepunkt seiner politischen Karriere. Daniela Münkels konzentrierte Einführung bietet einen profunden Überblick über politische Stationen, Politikverständnis, Amtsführung und Führungsstil Brandts. Die in den 103 Dokumenten (darunter auch Interviews und Briefe an Brandt sowie Auszüge aus Tagebuchaufzeichnungen, die allerdings keine Einblicke in das persönliche Beziehungsgeflecht in den Führungszirkeln der Partei gewähren) zum Ausdruck kommenden Vorstellungen Brandts von einem neuen Deutschland, geprägt im Exil und durch die Erfahrungen in der norwegischen und schwedischen Sozialdemokratie, waren andere als die des ersten Nachkriegsvorsitzenden Kurt Schumacher, zu dem Brandt vor allen Dingen unter außenpolitischen Gesichtspunkten ein kritisch-distanziertes Verhältnis besaß, und die der in der Weimarer Sozialdemokratie geprägten Traditionalisten, die zunächst in der Partei dominierten. Brandt zählte zu den Erneuerern wie Fritz Erler, Carlo Schmid und Herbert Wehner. Brandt ging es um eine Partei des demokratischen Sozialismus. Demokratischer Sozialismus war für ihn ohne Freiheit und Demokratie nicht denkbar, so wie er es wohl am prägnantesten zunächst auf dem Berliner SPD-Parteitag 1949 formulierte (und später 1954 bei gleichem Anlass wiederholte). Diese beiden Reden bilden die zentralen parteiprogrammatischen Dokumente der Edition.

Demokratischer Sozialismus blieb konstantes Denken und Leitmotiv Brandtscher Politik, war auch Grundlage seines Reformkurses nach Übernahme der Regierungsverantwortung 1969. Dass die Partei ihn (vor allem dank seiner Popularität als Regierender Bürgermeister von Berlin) zum Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl 1961 nominierte, wird zu Recht neben dem Godesberger Programm als ein Meilenstein der bundesrepublikanischen Sozialdemokratie auf dem Weg zur modernen Volkspartei und schließlich auf die Regierungsbank in Bonn bewertet. Das war der steile Aufstieg eines Mannes, der sich 1948 "parteiorganisatorisch" noch zwischen den Stühlen sitzend wähnte (S. 90). Als Vorsitzender der Partei (1964–1987) war er – wie er 1976 bekannte – von dem Leitgedanken beseelt, sich vom "Gruppendenken frei zu halten und die SPD als moderne Volkspartei zu formen, ohne ihre grundsätzliche Orientierung verblassen zu lassen" (Einleitung, S. 60). Er verstand es, Traditionsbindung und Aufbruch nach vorn miteinander zu verquicken, wie er das in seiner Rede als stellvertretender Parteivorsitzender zum 100. Jubiläum der Sozialdemokratie 1963 auf den Punkt brachte: "Man muss eine Vergangenheit haben, um aus dieser Vergangenheit für die Zukunft lernen zu können." (S. 289). Dass diese Erneuerung nicht ohne parteiinterne und persönliche Konflikte und Dissonanzen ablaufen konnte, zeigt auch die Edition. Die Dokumente offenbaren zum einen den Politiker, der an seinen Grundsätzen festhielt und im "innerparteilichen Kleinkrieg" nicht resignierte, sondern "den Helm fester" schnallte (Brief von 1954, S. 176), zum anderen den Parteiführer, der in seiner Gradlinigkeit doch bemüht war, diejenigen Parteifunktionäre, die nicht mit seiner Politik übereinstimmten oder sich von der Partei allein gelassen fühlten, in ihrer Kritik und ihren Befindlichkeiten ernst zu nehmen, sie wieder in die Partei einzubinden und so "bei der Stange zu halten"; es sei ihm viel lieber, so schrieb er 1952 an einen Abgeordneten, dass mal jemand aufbegehre, als dass eine Tendenz zur Resignation um sich greife (S. 145). Sein kollegialer Führungsstil grenzte sich von dem autokratischen Schumachers ab, was ihm bisweilen den Vorwurf der Führungsschwäche einbrachte. Karl Schiller mahnte ihn 1969, die Führung fester in die Hand zu nehmen, ebenso Helmut Schmidt, der Brandt daran erinnerte, dass derjenige, der die Hauptverantwortung trage, innerhalb des "Führungsteams notfalls" die Entscheidung treffen müsse (S. 465). Es bleibt dabei jedoch einigermaßen auffällig, dass die Dokumente nur wenig von den ganz persönlichen, ja privaten Beziehungen, den Konflikten und Reibungen zwischen den führenden Köpfen der Partei offenbaren.

Brandts Amtsführung und -stil waren neu, und neu war auch, dass sich der Vorsitzende um den intensiven Kontakt zur Parteibasis bemühte. Exemplarisch hierfür stehen die in Auswahl abgedruckten Briefe des Vorsitzenden "An die Mitglieder der SPD", in denen er zentrale Problemfelder erläuterte und Entscheidungen zu rechtfertigen und zu begründen versuchte, um so die Mitglieder mit auf den Weg zu nehmen, wie etwa bei der doch heftig umstrittenen Entscheidung für die Große Koalition 1966. Das Regierungsbündnis mit der CDU, auf das Brandt, der zunächst eine SPD/FDP-Koalition bevorzugt hatte, erst spät eingeschwenkt war, bezeichnete er mit vollem Recht "als einen wichtigen Schritt für die Partei" (S. 392), wobei er sich der Risiken einer solche Zweckehe durchaus bewusst war. Besonders beachtenswert sind weiterhin die Dokumente über den Wahlkampfstil, der ganz auf die Person Brandt zugeschnitten war: Der vor allem 1965 zunehmende Einsatz von Künstlern und Intellektuellen für die SPD schlägt sich im Briefwechsel zwischen Brandt und Günter Grass nieder. Dem Schriftsteller musste Brandt nach der Entscheidung für die Große Koalition erst einmal die Angst nehmen, mit seinen Freunden in eine linke Ecke gedrängt und zum "bloßen, obendrein politisch machtlosen Widerpart der NPD" degradiert zu werden (S. 390). Mit einer Erklärung zum Ausgang der Bundestagswahl 1972 schließt der erste Teil des Komplexes über Brandt und seine Partei, dem ein zweiter für die Jahre 1972 bis 1992 unter dem Titel "Die Partei der Freiheit" folgen wird.

Über Auswahl der Dokumente und die Präsentationsform lässt sich bei Editionen immer streiten. Die Auswahl der präsentierten Dokumente hier ist in sich schlüssig und wohlbegründet; die Entscheidung, die konsequenterweise knapp gehaltenen unabdingbaren Anmerkungen geschlossen im hinteren Teil und nicht direkt bei den Schriftstücken zu präsentieren, erscheint bei der Lektüre des Bandes bisweilen etwas hinderlich. Um das Blättern kommt man oft nicht herum. Das trübt das Lesevergnügen doch ein klein wenig. Dagegen erweisen sich die Kurzbiographien im Personenregister als besonders nützlich.

In der vorangestellten Chronik "Willy Brandt – Stationen eines Lebens" hätte auch die persönliche Seite, Heirat und Kinder, hineingehört, jedenfalls mit der gleichen Berechtigung wie die Nennung der Wahl zum "Mann des Jahres" durch "Time" und "L’Express" 1970. Dieser Aspekt, diese persönliche, gleichwohl für die Entwicklung doch wichtige Seite des Politikers fällt zu knapp aus: In Band 2 findet man über Brandts erste Frau Carlota und Tochter Ninja, die ihm im Mai 1941 ins Exil nach Schweden folgten, nur wenige Worte in Anm. 1 zu Dok. 1 sowie einige knappe Hinweise in der Einleitung; Fragen bleiben: Fand die Heirat 1941 noch in Norwegen oder schon im schwedischen Exil statt? Aber das sind Kleinigkeiten, die die vorzügliche Leistung der Bearbeiter und den Wert der Edition nicht schmälern. Insgesamt bleibt zu resümieren: Die Berliner Ausgabe wird ihrem eigenen Anspruch voll gerecht. Die ersten beiden Bände lösen das ein, was der Vorstandsvorsitzende dem Eröffnungsband mit auf den Weg gegeben hat: Sie ermöglicht den Zugang zu Leben und Werk Willy Brandts und bietet Anreiz zur Auseinandersetzung mit jener Epoche der deutschen Geschichte, die mit seinem Namen eng verwoben ist. Ein großes Projekt ist gelungen gestartet worden

Walter Mühlhausen, Heidelberg





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