ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Jürgen John (Hrsg.), "Mitteldeutschland". Begriff – Geschichte – Konstrukt, Hain Verlag, Rudolstadt/Jena 2001, 478 S., kart., 49,80 DM.

Im Zuge der politischen Umbrüche der Jahre 1989/90 und der Wiederbegründung von fünf Ländern auf dem Gebiet der ehemaligen DDR erfuhr auch der "Mitteldeutschland-Gedanke" eine kräftige Neubelebung. Vor 1989 war der Mitteldeutschland-Begriff im Grunde nur noch von landsmannschaftlichen Gruppen in der Bundesrepublik entweder als Bezeichnung für die gesamte DDR oder für die heute zu den Bundesländern Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt gehörenden Gebiete benutzt worden. Als nach der Wende über die politische Neugliederung diskutiert wurde, griff man teilweise wieder auf mitteldeutsche Großraumpläne zurück, wie sie in den Zwanzigerjahren schon einmal entwickelt worden waren. Auch wenn sich solche Neugliederungsvisionen bislang nicht durchsetzen konnten und sich das entsprechende Gebiet heute auf drei Bundesländer verteilt, so hat das Etikett "mitteldeutsch" in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur inzwischen wieder eine breite Verwendung gefunden. Am bekanntesten ist der "Mitteldeutsche Rundfunk", der seit 1996/97 auch eine groß angelegte Fernsehserie "Geschichte Mitteldeutschlands" begonnen hat.

Dieses Projekt zeichnet sich aber dadurch aus, dass es nicht unkritisch an ältere und politisch belastete Mitteldeutschland-Begriffe anknüpft, sondern sich um eine kritisch-analytische Auseinandersetzung mit der Real- und Konstruktgeschichte der "mitteldeutschen" Länder und dem gesamten "Mythos-Mitteldeutschland" bemüht. Letzteres ist auch das Ziel des vorgelegten Bandes, der die Beiträge einer 1999 in Leipzig vom wissenschaftlichen Beirat des Fernsehprojektes veranstalteten und interdisziplinär ausgerichteten Tagung enthält. Der zum Beirat gehörende Herausgeber des vorliegenden Bandes ist einer der besten Kenner der Geschichte Mitteldeutschlands und hat selbst drei fundierte Beiträge verfasst, die allein etwa ein Drittel des gesamten Bandes umfassen.

Das mit zahlreichen Karten ausgestattete Buch gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil geht es zum einen um grundsätzliche Aspekte von Regionalismus und Identitäts-Stiftung. L. Niethammer fasst in seinem Beitrag "Historisches Gedächtnis und Identität" noch einmal seine kritischen Positionen gegenüber dem inflationär gewordenen Identitätsbegriff zusammen. H. Siegrist weist in seinem Beitrag über Region und Regionalismus aus europäischer Perspektive am Beispiel Mitteldeutschlands nach, wie Regionen und Regionalbewusstsein im Zuge politischer Umbrüche und wirtschaftlichen und sozialen Wandels ständig neu etabliert werden können. M. Dreyer befasst sich mit der politikwissenschaftlichen Konstruktion von Begriffen wie Land, Region, Großraum und Föderalismus. Im ausführlichsten Beitrag dieses ersten Teils geht der Herausgeber J. John in einem breiten und instruktiven Überblick auf die seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts entstandenen Mitteldeutschland-Bilder ein. Er hebt in diesem Zusammenhang die Bestrebungen ganzer Historikergenerationen hervor, die Kontinuität eines mitteldeutschen Kultur- und Geschichtsraumes zu konstruieren, und betont die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts immer enger werdende Verknüpfung von Raumkonstruktionen und wirtschaftlichem Strukturwandel. Vor allem aber stellt er ebenso wie J. H. Ulbricht in seinem Beitrag über mitteldeutsche Mythen- und Symbolorte die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt hervortretenden völkischen Elemente im Mitteldeutschland-Denken und die Instrumentalisierung der aus ihm abgeleiteten kulturellen und historischen Deutungsmuster durch den Nationalsozialismus heraus. Da bestimmte Elemente dieser problematischen Mitteldeutschland-Bilder auch nach 1945 weiterlebten, warnen beide Autoren eindringlich vor jedem unkritischen Umgang mit dem Begriff Mitteldeutschland.

Während sich der erste Teil des Bandes somit durch innovative Fragestellungen und Diskussionsbeiträge auszeichnet, fordert der zweite Teil, in dem imaginäre und reale mitteldeutsche Geschichtswege aus geographischer, sprach- und volkskundlicher, wirtschaftlicher, kirchlicher und kultureller Sicht behandelt werden, doch etwas zur Kritik heraus. Zum einen sind die einzelnen Beiträge sowohl vom Umfang als auch von den wissenschaftlichen Ansätzen her recht ungleichgewichtig. Mehrere Autoren haben sich offenbar damit begnügt, ihre mündlichen Tagungsbeiträge ohne große Überarbeitung zum Druck zu geben und teilweise auch auf einen ausführlicheren Anmerkungsapparat verzichtet. Inhaltliche Bedenken kommen hinzu, wenn etwa M. Straube in seinem Beitrag über den Wirtschaftsraum Mitteldeutschland die neuere und besonders intensiv geführte Diskussion über Industrialisierung und Region oder die Folgen regionaler Industrialisierung für die Herausbildung von Regionalbewusstsein völlig ausblendet. Vor allem aber hätte man sich gewünscht, dass die im ersten Teil aufgeworfenen Grundsatzfragen auch stärker in die Beiträge des zweiten Teils eingeflossen wären. Am meisten ist dies noch bei J. Johns zeitlich weit ausgreifenden Überblick über die politisch-administrative Geschichtslandschaft Mitteldeutschland und bei K. Rudolphs Beitrag zum "mitteldeutschen Format der demokratischen Bewegung in Sachsen, Thüringen und Anhalt" zwischen 1848 und 1933 der Fall.

Der dritte Teil des Bandes behandelt schließlich die Großraum- und Neugliederungspläne nach den politischen Umbrüchen von 1918/19, 1945 und 1989/90. K.-J. Matz stellt in seinem knappen, die Ergebnisse einer größeren Untersuchung zusammenfassenden Beitrag den deutschen Neugliederungsdiskurs in größere internationale Zusammenhänge. J. John liefert in Auseinandersetzung mit der breiten neueren Literatur einen Überblick über die Reichsreform-bestrebungen in der Weimarer Republik, die durch M. Tullners Beitrag zu den Mittel-deutschlandplänen jener Jahre und O. Lemuths Beitrag zur thüringischen Landesgründung von 1920 ergänzt werden. Weitere Beiträge thematisieren Länderneugliederungspläne nach 1945 (R. Schiffers) und Landesgründungen (D. von Reeken am Beispiel Niedersachsens). W. Rutz widmet sich auf außerordentlich knappem Raum der Neugliederungsdebatte der Bundesrepublik nach 1990, und W. Oberkrome untersucht Heimat- und Großraumpläne aus der Sicht mittel- und westdeutscher Heimatschutzbewegungen. Manche der Beiträge des dritten Teils wie der von Lemuth vermitteln durch die Auswertung von Archivmaterial und die kritische Diskussion der Forschung wertvolle neue Einsichten, andere wiederholen freilich manch Bekanntes. Man hätte angesichts der Zielsetzungen des Bandes eigentlich erwartet, dass die Neugliederungsdebatten der jeweiligen Umbruchsjahre möglichst gleichgewichtig berücksichtigt worden wären. Einem eindeutigen Übergewicht der Weimarer Republik stehen dann aber nur allzu knappe Ausführungen zurzeit nach dem Zweiten Weltkrieg und vor allem zur Wende 1989/90 gegenüber, die ja die gesamte Diskussion überhaupt wieder erst entfacht hat.

Es wäre insgesamt nützlich gewesen, die Beiträge der einzelnen Blöcke stärker auf die leitenden Fragestellungen zu verpflichten, die der Herausgeber auf überzeugende Weise vorangestellt hat, und es wäre auch für den Benutzer sehr hilfreich gewesen, zu jedem der Blöcke eine Einführung voranzustellen, in der die Kernfragen noch einmal umrissen sowie Ergebnisse und Defizite der Tagungsdiskussionen deutlich gemacht worden wären. Trotz dieser Kritik bleibt freilich fest zu halten, dass der vorgelegte Band eine wichtige Bestandsaufnahme der neuen "Mitteldeutschland-Diskussion" bietet. Jeder, der sich künftig mit dieser Thematik auseinander setzen will, wird an diesem inhaltsreichen, durch ein Personenregister auch gut zu erschließenden und mit gutem Kartenmaterial ausgestatteten Band nicht vorbeikommen.

Hans-Werner Hahn, Jena





DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | Juli 2002