ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Gerhard Botz/Gerald Sprengnagel (Hrsg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker (= Ludwig-Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft, Band 13), Campus, Frankfurt/Main u.a. 1994, 586 S., kart., vergriffen.

Dieses Sammelwerk geht auf eine Salzburger Tagung von 1987 zurück. Der Band erschien leider erst sieben Jahre später und auch diese Rezension tat es nicht besser. 39 Beiträge, teils überarbeitet, teils aktualisiert, sind in diesem wissenschaftsgeschichtlich immer noch interessanten Band enthalten. Den Herausgebern ging es um eine Bestandsaufnahme der österreichischen Zeitgeschichtsforschung, wobei die Debatte um die Kriegsvergangenheit des 1986 in der Stichwahl mit absoluter Mehrheit gewählten und heftig umstrittenen Bundespräsidenten den Auslöser bildete. Der Band bietet eine gelungene Zusammenstellung der wichtigsten Thesen zur Thematik, die heute längst ein Stück Geschichte der Zeitgeschichtsschreibung in Österreich darstellt.

Im Wesentlichen kreisten die Kontroversen um die "Krise der Zeitgeschichte", die Verdrängung der NS-Vergangenheit und die Identitäts- und Nationsbildung in Österreich, die Zielrichtung und Bewerkstelligung der "Bewältigung" sowie die wissenschaftliche bzw. wissenschaftspolitische Relevanz von "Antifaschismus" und Widerstandsforschung. Versucht man die Dinge pointiert auf den Punkt zu bringen, so lässt sich sagen, dass dank Kurt Waldheims persönlichem Unvermögen im Umgang mit der NS-Vergangenheit viele Zeitgeschichtler erst die Unzulänglichkeit ihres Fachs erkannten, v.a. den Mangel an breitenwirksamer Vermittlung der mühsam errungenen Erkenntnisse. Würden sie ihre Träume aussprechen, so "müssten sie gewahr sein, des Größenwahns geziehen zu werden", so der Grazer Soziologe Christian Fleck über die Kollegen (S. 550). Der viel beschworene "gesellschaftspolitische" und "aufklärerische Auftrag" der Zeitgeschichte wurde angesichts einer virulenter werdenden "(paranazistischen) Populartradition" (so Botz, S. 26) fraglicher denn je. Für Karl Stuhlpfarrer waren die Zeitgeschichtler angesichts dieser öffentlichen Debatte "in Konkurs gegangen". Abgekoppelt von der Gesellschaft hätten sie sich selbst belogen (S. 182 f.), weil ihre Forschungen in Wirklichkeit nicht wahrgenommen worden seien (S. 188). Helene Maimann, die die NS-Zeit nicht für bewältigbar hält (S. 422), mahnte das Verlassen der quasi-juristischen Position von Verbot und Schuld der Zeitgeschichte an, will sie neue Zugänge zum öffentlichen Geschichtsbewusstsein finden. Allein mit moralischer Empörung, Betroffenheit und Schuldzuweisung könne dem Fortwirken der NS-Vergangenheit in der Gegenwart nicht begegnet werden. Es müssten darüber hinaus "Wege der Aneignung" eröffnet werden (S. 426 f.). Erika Weinzierls Beitrag deutete darauf hin, dass die Diskussion um die "Krise der Zeitgeschichte" in Österreich auch als generationenspezifischer Konfliktaustrag zu begreifen ist (S. 145). Der Nachfolger der "grande dame" der österreichischen Zeitgeschichte, Gerhard Botz, diagnostizierte auch, dass es sich ab 1986 im Bewusstsein der meisten Zeithistoriker um eine "wissenschaftssoziologische" und persönliche Krise handelte (S. 57).

Ein wesentliches inhaltliches Ergebnis der kontroversen Debatten in Österreich war die Infragestellung der "Opferthese", die so genannte "Lebenslüge" der Zweiten Republik, die konstituierend für Österreichs Nachkriegsidentität gewesen sei, so die meisten Zeithistoriker - mit expliziter Ausnahme von Erika Weinzierl und dem Neuzeitler Gerald Stourzh, die nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wissen wollten und mit guten Gegenargumenten von "der neuen Lüge von der so genannten 'Lebenslüge' der Zweiten Republik" (S. 141; Anm. 37, S. 148) sprachen. Sie befanden sich als Repräsentanten der älteren Historikergeneration hier allerdings in der Rolle von Defensoren und – unübersehbar - in einer Minderheitenposition.

Aus der geschilderten Konstellation resultierte die "Erkenntnis" der überbetonten "Opfergeschichte" und die Einsicht in eine notwendige Ergänzung um die bislang "tabuisierten Täter", so der jüngere Zeithistoriker Hans Safrian (S. 527-535). Die Mittäter-These setzte sich dann auch im offiziellen Geschichtsbild durch, die Frage einer Bewertung der Täterschaft während des autoritären Regimes (1933/34-1938) blieb allerdings weiterhin randständig. Die zeithistorische Konzentration auf die NS-Zeit leistete der historiographischen Marginalisierung des Ständestaates somit weiter Vorschub. Dieser Befund findet sich durch zwei an sich konträr argumentierende Historiker bestätigt: Wie der britische Historiker Robert Knight kritisch anmerkte, war die Erinnerung an den Februar 1934, als Dollfuß auf Österreicher schießen ließ, für viele traumatischer als die an den März 1938 (S. 83) - was bisher in der Zeitgeschichte keinen adäquaten Niederschlag gefunden hatte. Für den Münchner Politikwissenschafter Gottfried-Karl Kindermann ist hingegen unverständlich, wie die Leistung "des österreichischen Staatswiderstandes" von 1933 bis 1938 gegen den Nationalsozialismus immer noch eine "Tabu-Zone" der österreichischen Zeitgeschichte (S. 480-493) sein konnte. Er machte u.a. parteipolitische Egozentrik hierfür verantwortlich.

Methodisch-theoretisch wie inhaltlich relativ fruchtlos erschien die in diesem Band sehr breit dokumentierte, von zeitgenössisch-aktuellen Gesichtspunkten ausgegangene und dennoch anachronistisch anmutende, nicht identitätshistorisch angelegte, sondern v.a. aus identitätspolitischer Bedenklichkeit motivierte "Erdmann-Kontroverse" (S. 194-370), benannt nach dem verstorbenen Kieler Historiker Karl-Dietrich Erdmann, nämlich ob Österreichs Geschichte nach 1866 neben oder in der deutschen Geschichte einzuordnen und zu schreiben sei. Wirkte dieser Disput wie der Streit um des Kaisers Bart, so machte die Waldheim-Debatte allerdings auf eigentümliche Weise deutlich, dass Österreich, insbesondere nach 1938, selbstverständlich Teil der deutschen Geschichte war - die Destruktion der Opferthese mit dem Verweis auf Österreichs Verantwortung für die NS-Gesamtgeschichte lief auf diesen Umstand ja geradezu hinaus! Interessant erschien in diesem Zusammenhang auch der Umstand, dass sich weder am deutschen Historikerstreit noch an der Goldhagen-Debatte ein österreichischer Zeithistoriker beteiligte. Norbert Lesers Beitrag "Um die Revision des Geschichtsbildes" (S. 473-479) konnte hingegen als eine ausnahmsweise Solidarisierung mit Ernst Nolte begriffen werden. Unabhängig davon sind die historisch-objektiven, d.h. personellen und strukturellen Zusammenhänge der österreichischen und deutschen geschichtlichen Entwicklung außer Frage wie auch Österreichs Rolle in Europa eine andere war. So gesehen nimmt es auch nicht Wunder, wenn Fragestellungen, wie "die Spur Österreichs in der deutschen Geschichte" oder dessen Platz im "gesamtdeutschen Schicksalszusammenhang" (Karl-Dietrich Erdmann) für die heutige österreichische Zeitgeschichtsforschung kein Thema mehr sind und wohl auch in den Achtzigerjahren kaum mehr waren. Georg Schmid monierte hingegen die seiner Auffassung gemäß nach wie vor bestehende starke Deutschorientierung der österreichischen Historiographie. Es fehlten seiner Auffassung nach vergleichend angelegte Studien mit anderen Staaten und Kulturräumen, die zu einer Perspektivenerweiterung beitragen würden. Das ist fast bis zuletzt so geblieben.

Trotz aller Bemühungen um fachliche Auseinandersetzungen wurde und wird nach Lektüre des inhaltlich heterogenen Bandes deutlich, dass der um die Geschichtsbilder wogende "Historikerstreit der Alpenrepublik" Mitte und Ende der Achtzigerjahre zu einem guten Teil politisch-symbolische Kampfgebärden darstellte. Es ging primär um persönlich-politische Positionierungen und Profilierungen einerseits, aber auch um einen latenten Generationenkonflikt unter älteren und mittleren/jüngeren Zeithistorikern andererseits - mit zunächst jedoch relativ kargem wissenschaftlichen Ertrag. Die Waldheim-Diskussion entwickelte sich zu einer rechthaberischen Personaldebatte, in der viel aneinander vorbeigeredet wurde, nicht nur in der Öffentlichkeit. Sie zeigte hinsichtlich der Wissenschaftsdisziplin die inhaltlich-methodischen Schwächen der österreichischen Zeitgeschichtsforschung auf: Die Kritik am Staatsoberhaupt schoss in einer Unverhältnismäßigkeit zu anderen relevanten zeithistorischen Fragestellungen und in einer gigantischen Selbstüberschätzung teilweise weit über das Ziel hinaus. Die "Zeithistorikerzunft" verstand es nicht, sich vom medial-politisch "tabu brechenden" Diskurs zu lösen und sich auf Grund ihrer fachlichen Eigenständigkeit selbstbewusst und zukunftsorientiert zu artikulieren. Anstatt in der hysterischen Stimmung ruhig zu analysieren und "kompetent"-ausgewogen zu interpretieren, erfolgte ein regelrechtes Wettrennen in der Öffentlichkeit, den Rücktritt des ungeliebten Staatsoberhauptes zu erzwingen. So war es nur zu verständlich, dass angesichts des Kampfes gegen die "Lebenslügen" kein österreichischer Zeithistoriker für die Historikerkommission zur Klärung der "Kriegsverbrecher"-Anschuldigungen Waldheims infrage kam, von den "staatskonformen" Vertretern der Zunft gar nicht zu reden. Ein jüngerer Kollege meinte in Analogie zum Habermas-Diktum des deutschen Historikerstreits, dass Österreichs staatstragende Mythen von der Wiederaufbaugesellschaft "mit einem konspirativen Augenzwinkern goutiert", einem Zeithistoriker "die Schamröte ins Gesicht steigen lassen müssten" und "als Lügen" zu entlarven seien (Walter Manoschek, S. 537).

Von einem solchen neu-aufklärerischen, austrozentriert-moralisierenden Standpunkt war die Debatte angegangen und entsprechend einseitig geführt, d.h. weder die (partei-)politisch-instrumentelle Funktion der Waldheim-Debatte problematisiert, noch ihre internationale Dimension erkannt und in das Urteil miteinbezogen worden. Der deutsche Historiker Peter Steinbach hielt daher mit ungetrübtem "Blick von außen" (S. 120-129) fest, dass die wissenschaftliche Zeitgeschichtsforschung Österreichs in den Bann dieser "politischen Personaldebatte" geraten und diese dazu geeignet war, sie in den Schatten zu stellen. Das Verhängnis nahm so seinen Lauf. Bevor es rechtzeitig erkannt wurde, räsonnierte man noch larmoyant über die fachinternen Gravamina. Fehlende Internationalität wurde v.a. daran deutlich, als eine Analyse ausblieb, wonach die viel zitierten "Lebenslügen" der Zweiten Republik nicht nur durch individuelle Verdrängungsleistungen à la Waldheim, sondern "mehr noch durch die Entwicklungen der 'Großen Politik' begünstigt" wurden, wie es bei Steinbach (S. 122) anklingt. Angesichts einer "drohenden" neuerlichen Viktimisierung Österreichs erschien es inopportun aufzuzeigen, dass erstens die für österreichische Interessen erfolgte Indienstnahme des "Opferstatus" (Moskauer Deklaration vom 1. November 1943) überhaupt nur mit Duldung und unter dem Schutzschirm der Siegermächte im Kontext des Ost-West-Konflikts möglich war und zweitens erst vor dem Hintergrund des ausklingenden Kalten Krieges in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre die Waldheim-Debatte mit Blick auf Österreichs veränderte Rolle im internationalen Kontext geführt werden konnte. Zugespitzt formuliert: Erst nach "Konsolidierung" der Zweiten Republik wurde die "Waldheim-Affäre" möglich, zu einem früheren Zeitpunkt wäre sie wohl nicht denkbar gewesen, hätte sie doch unweigerlich zu einer "Destabilisierung" der noch jungen österreichischen Demokratie und Staatlichkeit geführt.

Trotz aller kritischen Einwände ist die Zeitgeschichte Österreichs aus dem öffentlichen Bewusstsein heute nicht mehr wegzudenken und in Schulen und Universitäten fest institutionell verankert. Die Waldheim-Debatte führte zu einer Standortbestimmung, wie sie Gerhard Botz und Gerald Sprengnagel verdienstvollerweise vorgenommen haben. Langfristig gesehen ergaben sich aus der staatspolitisch zur "causa prima" hochstilisierten Affäre viele Wachstumsimpulse für neue innovative Forschungen. Daher ist für die mittlere und jüngere Generation der Zeitgeschichtler von einer "produktiven Krise" zu sprechen. Seit 1986 ist vieles in Österreichs Zeithistoriographie in Bewegung geraten. Monographische Standardwerke erschienen, z.B. zur Geschichte von Politik und Kultur (Ernst Hanisch), Wirtschaft (Roman Sandgruber) und Identität (Ernst Bruckmüller), während Junghistoriker (z.B. Bertrand Perz, Florian Freund, Walter Manoschek, Hans Safrian u.a.) die Täterforschung ein beträchtliches Stück weitergebracht haben. Ein alle zwei Jahre etablierter "Zeitgeschichte-Tag" wurde 1993 in Innsbruck und 1995 in Linz abgehalten. 1997 folgten "Zeitgeschichtetage" in Wien unter dem Motto "Zeitgeschichte im Wandel - Österreichische Zeitgeschichte im internationalen Paradigmenwechsel". 1999 war Graz an der Reihe und 2001 folgte Klagenfurt. Junge Historiker, vor allem aus dem nicht institutionalisierten Bereich, drängten nach, nahmen bisher unbeachtete Themenfelder in Angriff und stellen eine Herausforderung für die Altvorderen dar. Auch wenn noch viel aufzuarbeiten ist - so fehlt z.B. eine Geschichte der Neutralität, die mit Blick auf die umstrittene NATO-Beitrittsfrage des Landes so wichtig wäre -, braucht die österreichische Zeitgeschichtsforschung internationale Vergleiche heute nicht mehr zu scheuen.

Michael Gehler, Innsbruck





DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | Juli 2002