ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Günther Schulz (Hrsg.), Vertriebene Eliten. Vertreibung und Verfolgung von Führungsschichten im 20. Jahrhundert (= Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit, Band 24), Harald Boldt Verlag im R. Oldenbourg Verlag, München 2001, 292 S., kart., 34,80 EUR.

In der originellen Verbindung von Migrations- und Elitenforschung liegt der besondere Reiz der zehn Beiträge dieses Sammelbandes, in dem es um die Wirkung von Vertreibung und Verfolgung seit dem Ersten Weltkrieg auf gesellschaftliche, intellektuelle, kulturelle und administrative Führungsschichten in Deutschland geht. Auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen sich die Ergebnisse allerdings nicht; berichtet werden gleichermaßen Erfolgs- wie Misserfolgsgeschichten, und manche Autoren sehen den Sinn ihres Beitrages eher darin, Fragen überhaupt erst einmal zu stellen, ohne sie schon endgültig beantworten zu können. Jedenfalls lohnt sich ein Blick in die Werkstätten.

Mit dem Begriff ‚Elite’ sei keine Wertung verbunden, betont Hans Hecker einleitend; es gehe um soziale Oberschichten mit Führungsaufgaben im weitesten Sinn, also um Positions- bzw. Funktionseliten. Ein Beispiel für Elitenwechsel in der Region führt Wolfgang Kessler an: Nach den Gebietsabtretungen in Posen-Westpreußen und Oberschlesien 1920-1922 konnten die verdrängten Eliten – anders als die restliche deutsche Bevölkerung – meist ohne größere Probleme von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft des Deutschen Reiches aufgenommen werden. Ähnlich positiv fällt auch die Bilanz aus, die Claus-Dieter Krohn über das Schicksal der vertriebenen intellektuellen Eliten aus NS-Deutschland zieht: Die deutschen Wissenschaftler hätten genau in dem Moment für einen "brain drain" gesorgt, als die USA sich auf dem Weg zur "intellektuellen Großmacht" befanden. In Politikwissenschaft, Soziologie sowie Wirtschafts- und Geschichtswissenschaften hätten sie wichtige Impulse gegeben. Einen geschlechtsspezifischen Blick richtet Hiltrud Häntzschel auf die vertriebenen Eliten. Frauen hatten sich in der Weimarer Republik in Presse, Literatur, Wissenschaft und in akademischen Berufen profilieren können; ihre Vertreibung nach 1933 bedeutete, dass die deutsche (bzw. nach 1945 die westdeutsche) Wissenschaftslandschaft praktisch frauenlos blieb.

Im Vergleich zur Emigration war die Remigration kein Massenphänomen. Marita Krauss zeigt, dass in beiden deutschen Staaten Remigranten zur politischen Elite aufstiegen: Es gelang sowohl der Moskauer KPD-Exilgruppe für die DDR wie den SPD-Remigranten, über längere Zeit leitende Funktionen zu monopolisieren. Zu rechnen hatten sie dabei allerdings mit der Abwehr der Dagebliebenen, die sich durch die Gegenwart der Remigranten an ihr eigenes Versagen während der NS-Zeit erinnert fühlten. Für die Vertriebenen boten sich im öffentlichen Dienst der SBZ/DDR berufliche Chancen, die weit über die entsprechenden Möglichkeiten in der Bundesrepublik hinausgingen. Das lag Michael Schwartz zufolge an der Personalexpansion des öffentlichen Dienstes und an der personellen Umschichtung im Zuge der Entnazifizierung und Säuberung der Verwaltungen. Allerdings gelang nur ganz wenigen Vertriebenen der Aufstieg in wirkliche Elitepositionen, die immer stärker einer SED-konformen ‚roten Clique‘ vorbehalten blieben. Auch in der frühen Bundesrepublik hatten die Flüchtlinge und Vertriebenen einen hohen Anteil an der politisch-administrativen Elite, wie Mathias Beer zeigt; im Bereich der obersten Bundesbehörden lag ihr Anteil deutlich über dem an der Gesamtbevölkerung. Dennoch gelang es dieser Personengruppe langfristig nicht, entsprechenden politischen Einfluss zu gewinnen, zu groß waren die landsmannschaftlichen Unterschiede, und zu schnell schritt ihre Eingliederung fort.

Die Flucht der Intelligenz aus der DDR - Reinhard Buthmann zufolge 150.000 Personen - bedeutete zugleich das endgültige Aus für die nach 1945 noch verbliebenen Reste der bürgerlichen Gesellschaft im ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat. Der Mittelstand, das Bildungsbürgertum und die als ‚bürgerlich‘ diskreditierten Wissenschaftler sahen sich Repressionen und dem Abbau ihrer bürgerlichen Rechte ausgesetzt; das Ministerium für Staatssicherheit zerschlug das "resistente bürgerliche Wissenschaftlerpotenzial", und 1974 war etwa in der Akademie der Wissenschaften "das bürgerliche Potenzial endgültig gebrochen" (S. 241 f.). Hans-Werner Rautenberg schließlich zeigt, wie ostdeutsche Schriftsteller Flucht, Vertreibung und Aufnahme in Westdeutschland zum Thema ihrer Bücher machten; gerade erst begonnen hat die Erforschung vergleichbarer Erfahrungen bei der ‚Umsiedlung‘ in die DDR.

Die Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte befassen sich ausdrücklich nur mit deutschen Führungsschichten in der Neuzeit. Lediglich Arnd Bauerkämper nimmt mit den Kulaken eine nicht-deutsche Elite in den Blick und weist zugleich auf eine wichtige Dimension der Herrschaftspraxis und Gesellschaftspolitik in stalinistischen Diktaturen hin: die Vertreibung als gewaltsame soziale Exklusion. Sowohl in der frühen Sowjetunion als auch in der frühen SBZ/DDR wurde ein Elitenwechsel in der ländlichen Gesellschaft erzwungen; dort bedeutete die Vertreibung zugleich Vernichtung der Kulaken, hier bedeutete sie Verdrängung der Großbauern. Vertriebene Eliten im internationalen Vergleich - ein lohnendes Thema wäre das allemal.

Volker Ackermann, Düsseldorf





DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | Juli 2002