ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Dahlia S. Elazar, The making of fascism. Class, State, and Counter-Revolution, Italy 1919-1922, Praeger, Westport/London 2001, 173 S., kart., 46,95 £.

Bis heute ungebrochen zieht der Aufstieg des italienischen Faschismus die Forschung in seinen Bann. Geistes- und Sozialwissenschaftler bemühen sich mit stetig neuen Interpretationen um die adäquate Erklärung eines für viele unbegreiflichen Phänomens. Auch Dahlia S. Elazars soziologische Untersuchung "The making of fascism" versucht sich erneut an einer alten Frage. Die Autorin bewegt sich bei ihrer Untersuchung der gewalttätigen Interaktion zwischen Faschisten, Großgrundbesitzern und Sozialisten aus der Sicht der Geschichtswissenschaft auf eher ausgetretenen Pfaden. In vollem Bewusstsein dessen zieht sie nach dem Motto "was in der einen Disziplin für selbstverständlich gilt, ist es in der anderen noch lange nicht" (S. XI) gegen die gängigen sozialwissenschaftlichen Theorien zum Aufstieg des Faschismus zu Felde. Ob Klassenkampf-, Modernisierungskrisen- oder Totalitarismustheorie – allen sei gemeinsam, die entscheidende Phase der Machtergreifung von 1919 bis 1922 zu vernachlässigen.

Aber eben in diesen Jahren finde sich der Schlüssel zum Verständnis des italienischen Faschismus und seines Aufstiegs. Im brutalen Zerschlagen der Organisations-strukturen der sozialistischen Partei Italiens und der ihr nahestehenden Gewerkschaften habe die faschistische Bewegung ihre eigentliche Sozialstruktur, ihr Programm und ihre politische Strategie erhalten. Die faschistische Partei, die nach zwanzigmonatigem gewaltsamem Kampf im Oktober 1922 die Macht übernahm, war nicht mehr dieselbe Organisation, mit denselben Mitgliedern, derselben Struktur, derselben Ideologie und denselben politischen Zielen, die sie zu Beginn dieses Kampfes gewesen war. Der historische Ursprung der Bewegung könne daher keine Erklärung für den italienischen Faschismus abgeben, wie von einigen Sozialwissenschaftlern behauptet.

Elazar verneint nicht die große Bedeutung des spezifischen Verhältnisses der norditalienischen Großgrundbesitzer zum italienischen Staat und ihren traditionellen Hang, mit Gewalt auf die Proteste ihrer Taglöhner zu reagieren. Die Allianz der Faschisten mit einer derartigen Klasse von Großgrundbesitzern und das stillschweigende Einvernehmen großer Teile des Staatsapparates mit den faschistischen "squadre" (eine Art Freikorps), sei zwar eine entscheidende Voraussetzung für den Aufstieg des Faschismus gewesen, erkläre aber die Entwicklung nicht ausreichend.

Elazar zeigt, sich auf historische Grundlagenforschung und statistische Auswertungen stützend, dass die gewaltsamen Strafexpeditionen der faschistischen "squadre" eindeutig der illegalen Bekämpfung der sozialistischen Partei und Gewerkschaft gegolten haben. In den Regionen, in denen die Interessen der Großgrundbesitzer und auch der Industrie noch nach den Wahlerfolgen der Sozialisten politisch vertreten wurden, kam es kaum zu Übergriffen und vor allem zu keinen faschistischen Machtübernahmen auf lokaler Ebene. Die Auseinandersetzung zwischen Faschisten und Sozialisten im weitesten Sinne wird bei Elazar trotz ihrer theoretischen Kritik als Klassenkampf beschrieben. Die Autorin verschweigt die aggressive und kompromisslose Haltung der italienischen Sozialisten nicht, die zur Eskalation der Gewalt beigetragen habe. Aber keinen Zweifel lässt sie entstehen, dass es letztendlich die Faschisten waren, die die politische Arena in ein Schlachtfeld verwandelten. Die massive direkte Unterstützung durch die Großgrundbesitzer, die finanzielle Zuwendungen der zunächst zögernden Industrie, die logistische Unterstützung durch große Teile des Militärs, die stillschweigende Aufgabe des staatlichen Gewaltmonopols und die militärische Erfahrung der Squadristen selbst hätten die Faschisten den Sieg auf eben diesem Schlachtfeld davon tragen lassen.

In diesem Kampf der Squadristen in Allianz mit den besitzenden Klassen veränderte sich auch die faschistische Bewegung – ab 1921 Partei – selbst: Von nun an drückten die gewaltgewöhnten Anführer der lokalen faschistischen Organisationen der Partei ihren Stempel auf, und fast alle sozialrevolutionären Ansätze verschwanden aus dem faschistischen Parteiprogramm. Mussolini, dem Elazar allgemein wenig Platz einräumt, erhält fast das Gesicht eines Opfers dieser omnipotenten Diktatoren auf lokaler Ebene. Wie Mussolini das Vorhandensein dieses radikalfaschistischen Flügels in seiner Politik gegenüber den bürgerlichen Politikern Italiens nützte, bleibt bei Elazar unerwähnt. Mussolinis Doppelstrategie zwischen Gewalt und politischer Verhandlungsbereitschaft hätte aber gerade in einer Arbeit, die vom Primat der Politik ausgeht, berücksichtigt werden sollen. Die in sich plausible Interpretation bringt dem mit der schon existierenden historischen Literatur vertrauten Leser keine Erweiterung des Wissenstandes. Elazar bestätigt vielmehr von soziologischer Seite die Erkenntnisse, welche die historische Wissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten schon gewonnen hat.

Steffen Prauser, Florenz





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