ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Heinz Reif (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland II: Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20. Jahrhundert, R. Oldenbourg Verlag, München 2001, 300 S., geb., 77,84 DM.

Der Sammelband, der Beiträge von acht Autoren vereinigt, zeigt die seit 1890 zunehmenden und bis 1944 andauernden Versuche von Adel und Bürgertum in Deutschland, zwischen beiden Gruppen eine Brücke zu schlagen, um auf diesem Wege einen "neuen Adel" oder eine "neue Elite" zu schaffen. Am Beispiel des bürgerlichen Generals Wilhelm Groener weist Mark Stoneman auf die große Bedeutung der militärischen Professionalisierung der adligen und bürgerlichen Offiziere hin; dem gegenüber sei die Kategorie "Herkunft" in den Hintergrund getreten. Die folgenden Beiträge machen allerdings mehr oder weniger deutlich, dass diese Erkenntnis nicht generalisierbar ist. Das bürgerliche Kriterium "Leistung" spielte bei der Bewertung der Flucht Wilhelms II. nach Holland 1918 eine wichtige Rolle. Der Kaiser hatte, so Martin Kohlrausch, eine gescheiterte Leistungsprobe abgelegt, und daher richteten sich die Erwartungen von Adligen und Bürgern auf einen echten, Leistung erbringenden Führer, der Stabilität, Effektivität und Elitenkontinuität im Wandel versprach.

Die Kritik am Versagen der alten Machteliten begründete eine neue adlig-bürgerliche Gemeinsamkeit, ebenso wie die Ablehnung des "westlichen" liberalen Parteiensystems und die Furcht vor der bolschewistischen Revolution. In einer Studie zur Genese und zu den Trägern des Kapp-Putsches weist Axel Schildt auf die unterschiedlichen Wege zum Ziel der Auflösung der Weimarer Republik hin: entweder durch einen Putsch oder durch eine langfristige Veränderung mit einem Präsidenten Hindenburg. Einen Putsch befürworteten diejenigen Offiziere des militärisch ausgerichteten Kleinadels, die sich wegen der einschneidenden Heeresreduzierung in ihrer Existenz bedroht fühlten. Überhaupt gehörten die Militäradligen nach 1918 zu den Verlierern, die aber dennoch ihren Anspruch auf militärische Führungskompetenz aufrecht erhielten. Marcus Funck schildert, wie adlige ehemalige Offiziere außerhalb der Reichswehr in den zahllosen Wehr- und Veteranenverbänden ein rassistisches Konzept von Führung entwickelten und somit zur Militarisierung der Gesellschaft insgesamt beitrugen.

In der Weimarer Republik gab es Stephan Malinowski zufolge zwei wichtige "Laboratorien" adliger Neuorientierung, in denen Brücken vom Adel zum Bürgertum geschlagen wurden und in denen ein Nebel neuer, hoch ideologisierter Elitenkonzeptionen waberte: Während der deklassierte Kleinadel in der Deutschen Adelsgenossenschaft in rassistischer Manier ganz auf das "reine Blut" setzte und schon früh zur SA oder SS ging, versuchte der Deutsche Herrenklub durch kontrollierte Auslese und Vereinigung von Angehörigen vorwiegend traditional legitimierter Eliten eine neue Führungsschicht für den künftigen autoritären Staat zu schaffen, an dessen Spitze ein Führer stehen sollte. Die aus dem 19. Jahrhundert stammende Formation der "alten Machteliten" fand am Ende der Weimarer Republik zu keinem Konsens mehr, weil das adlig-konservative Lager in mehrere unvereinbare politische Richtungen zerfiel und weil der Brückenschlag zum höheren Bürgertum letztlich an den sich verschärfenden Interessengegensätzen zwischen Landwirtschaft und Industrie scheiterte. Gegen Wolfgang Zollitschs These, die Distanz sei zu groß geblieben, wendet der Herausgeber Heinz Reif ein, dass zumindest in den professionalisierten Handlungsfeldern, in denen Adel und Bürgertum zusammentrafen, die Angleichung der Milieus inzwischen weit fortgeschritten gewesen sei; typisch für die Weimarer Republik hingegen sei die nicht mehr kontrollierte und integrierbare Vielfalt adlig-bürgerlicher Brückenschläge.

Mit seiner Darstellung der Elitendiskurse in den Europabewegungen der 1920er-Jahre erschließt Guido Müller das weite Feld der nicht unmittelbar politischen Versuche adlig-bürgerlichen Brückenschlags im Rahmen von Diskursen über "neuen Adel" blieben. Süddeutscher und habsburgischer katholischer Adel, Hochadel und Diplomatie, Schriftsteller und Intellektuelle sowie Führungsgruppen der Technik, der Industrie und des Finanzwesens erstrebten ein geeintes Mittel- und Westeuropa unter starker deutscher Führung. Grundlage dieser neuen Geistesaristokratie sollte ein die nationalen Eigenarten übergreifendes, europäisch-abendländisches Kulturkonzept werden. Ein ebenfalls nicht demokratisierbares, vormodernes adliges Eliten-, Gesellschafts- und Politikverständnis erkennt Eckart Conze auch im Widerstand des 20. Juli 1944: Gemeinsam war adligen und bürgerlichen Widerständlern das Beharren auf Qualität und auf autonomer "Persönlichkeit" sowie das Festhalten an personaler Integration einer Gesellschaft durch Monarchen oder Führer.

Alle Beiträge dieses Sammelbandes zeigen ganz deutlich ein wichtiges Merkmal der "entfesselten Neuadelsdiskurse" (Reif): Der Begriff "Elite" wurde nie als deskriptive, wertfreie soziologische Kategorie gebraucht, sondern blieb stets ideologisch hoch aufgeladen. Wie auch immer der neue Adel zu schaffen war – er sollte jedenfalls eine Wertelite sein, keine Funktionselite. Typisch war die Unwilligkeit, ja Unfähigkeit, eine offene, kontrollierbare, rechenschaftspflichtige und vor allem abwählbare Leistungselite sich auch nur vorzustellen. Eine Brücke zwischen "Elite" und "Demokratie" konnte daher nicht geschlagen werden.

Volker Ackermann, Düsseldorf





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