ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ulrich Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Akademie Verlag, Berlin 2001, 400 S., geb., 44,80 EUR.

Nicht nur militärisch, ökonomisch und gesellschaftlich erscheint dem Marburger Historiker Ulrich Sieg der Erste Weltkrieg als "erster totaler Krieg", sondern auch ideologisch. Daher verwundert es ihn zu Recht, dass in Hans-Ulrich Wehlers Artikel "Der erste totale Krieg" (DIE ZEIT Nr. 35 vom 20. August 1998) "kulturgeschichtliche Fragen nicht einmal am Rande behandelt" (bei Sieg S. 233) werden. Gegen eine solch reduktionistische Geschichtsbetrachtung setzt Sieg eine Verknüpfung von Mentalitäts-, Ideen- und Politikgeschichte, die ihrerseits sozialgeschichtliche Ergebnisse nicht ausblendet. Sieg ist für diese Aufgabe prädestiniert, hat er doch mit seiner Dissertation über den Marburger Neukantianismus wichtige Impulse für die Rehabilitierung der Ideengeschichte gegeben. Wie die Auszeichnung der vorliegenden Habilitationsschrift durch den Historikerverband zeigt, ist seinem Bemühen auch diesmal Erfolg beschieden.

Entgegen mancher Relativierung der letzten Zeit macht Sieg den mentalitätsgeschichtlichen Zäsurcharakter des Ersten Weltkrieges sehr stark. Dementsprechend zielen seine beiden Leitfragen auf die Gründe für diesen Mentalitätsbruch und auf die inhaltliche Ausgestaltung der ideellen Veränderungen bei den jüdischen Intellektuellen. In Übereinstimmung mit der neueren Forschung reduziert Ulrich Sieg die jüdische August-Begeisterung wie den innerjüdischen Burgfrieden auf die veröffentlichte Meinung, kommt jedoch nicht umhin, den überschwänglichen Patriotismus vieler deutscher Juden vornehmlich in der Ersten Kriegshälfte aufzuzeigen; anders wäre der schwarz-weiß-rote Einband seines Buches auch nicht zu erklären. Im Anschluss zeigt Sieg die Fraktionierung zwischen liberalem, orthodoxem und zionistischem Judentum detailliert auf. Besonders frappierend sind die subjektiven und objektiven Überschneidungen zwischen Zionisten und Deutsch-Völkischen, die so weit gingen, dass der Cohen-Schüler Jakob Klatzkin den Antisemitismus der Völkischen positiv würdigte. Konstellationen, die vom jungen völkischen Starautor Max Hildebert Boehm lebhaft begrüßt wurden, bei Zionisten wie Martin Buber jedoch auf deutliche Reserven stießen.

Für die Anstöße, die aus dem nicht jüdischen Diskurs in die innerjüdischen Debatten gegeben wurden, stehen die Namen von Nietzsche, Bergson, Houston Stewart Chamberlain, Werner Sombart und Ernst Troeltsch, auf die Sieg vielfach zu sprechen kommt. Manches vermisst man jedoch in Siegs Studie oder empfindet man als zu kurz abgehandelt: So das Wirken deutscher Juden in Amerika, das Engagement von Hugo Münsterberg wird nur kurz angesprochen. Auch die Debatte zwischen dem jüdischen Neukantianer Jonas Cohn und Ernst Troeltsch, die in den von Sieg verschiedentlich behandelten, wirkmächtigen Preußischen Jahrbüchern stattfand, wird nicht erörtert. Hier ging es um Kosmopolitismus und Nationalismus, Universalismus und Partikularismus, individualistischen Rationalismus und Gemeinschaft, und auch um die bei beiden Autoren festzustellenden Überschneidungen. Das hätte gut zu Siegs Betrachtungen über Troeltsch gepasst. Diesen kann der Rezensent freilich nicht immer folgen. Zu wenig berücksichtigt er die Entwicklung in Troeltschs Weltkriegspublizistik, zu wenig dessen Kritik am Neuhegelianismus à la Plenge, zu wenig dessen Bemühen, um einen – freilich nicht bedingungslosen – Anschluss der deutschen Entwicklung an den Westen. Andererseits skizziert Sieg luzide Troeltschs Auseinandersetzung mit Hermann Cohen, in welcher Troeltschs Historismus mit der neukantianischer Systematik konfrontiert wurde. Kenntnisreich und differenziert schildert Sieg auch die Gründung von Martin Bubers Zeitschrift "Der Jude" und ihres Gegenprojektes der "Neuen Jüdischen Monatshefte". Dabei wird deutlich, dass die ältere Assimilationsoption liberaler Juden wie Hermann Cohens, welche die deutsch-jüdische Kultursynthese allzu harmonisierend darstellte, zunehmend in die Defensive geriet.

Daneben thematisiert Sieg auch die Konfrontation deutscher Juden mit dem wachsenden Antisemitismus. Dabei wird der "Judenzählung" von 1916 bei aller persönlicher Verbitterung etwas von ihrem Zäsurcharakter genommen. Für viele jüdische Intellektuelle waren die Diskurse um das vielfach verklärte Ostjudentum, Zionismus und israelitisches Prophetentum wichtiger. Daneben kam der Antisemitismus vorwiegend von nichtoffzieller Seite, die amtlichen Stellen versuchten ihn im Zeichen des angestrebten Burgfriedens, auf den viele Juden ihre Hoffnungen setzten, eher einzudämmen.

Eine nahe liegende Frage wird von Sieg nicht explizit gestellt, aber doch beantwortet: Inwiefern unterschied sich der jüdische vom gesamtgesellschaftlichen Diskurs während des Ersten Weltkrieges? Mit Blick auf den fragilen innerjüdischen Burgfrieden, die Defensive des klassischen Universalismus, die Adaption völkischer Argumentationsmuster im Zionismus und die Wendung zur Existenzphilosophie scheint viel für eine relative Kongruenz des jüdischen mit dem (protestantischen) Mehrheitsdiskurs zu sprechen, wenn auch die Besonderheiten, z. B. im Blick auf das Verständnis der Propheten und des Talmud wie auch des Zionismus und des Außendrucks des Antisemitismus, natürlich nicht übersehen werden sollen. Sieg streicht zudem eine stärkere Verpflichtung des jüdischen Diskurses gegenüber der kantischen Philosophie und dem Universalismus heraus. Doch wie der allgemeine Diskurs so war auch der jüdische Diskurs im Ersten Weltkrieg von einer zunehmenden Pluralisierung und Fragmentierung gekennzeichnet. Des Weiteren drängt sich ein von Sieg (noch?) nicht durchgeführter Vergleich mit dem jüdischen Diskurs in anderen Ländern auf. Aber das ist gerade ein weiterer Vorzug der Studie von Sieg, dass sie viele Fragen und Themen anschneidet, die einer weiteren Bearbeitung harren.

Peter Hoeres, Münster





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