ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Felix Philipp Ingold, Der große Bruch. Russland im Epochenjahr 1913: Kultur – Gesellschaft – Politik, C. H. Beck Verlag, München 2000, 644 S., 231 Abb., Leinen, 98 DM.

Der Schweizer Schriftsteller und Professor für russische Kultur- und Sozialgeschichte Felix Philipp Ingold hat seinem umfangreichen Werk eine reizvolle These zu Grunde gelegt: Vielschichtige kulturelle, politische, soziale und wirtschaftliche Prozesse des ausgehenden Zarenreiches sollen sich in einem "großen Bruch", den der Autor in den Ereignissen des Vorkriegsjahres 1913 sieht, verdichtet haben. Ingold begreift dieses Jahr oder, genauer gesagt, den Zeitraum von Ende 1912 bis Anfang 1914 als "Epochenschwelle" (S. 9), als "Schlüsseljahr der russischen Moderne" (S. 12) und nähert sich ihm mit drei unterschiedlichen Herangehensweisen. Der erste Teil des Buches bietet eine historische Gesamtdarstellung mit zahlreichen zwar schönen, aber leider oft nicht in den Text eingebundenen Bilddokumenten, der zweite eine Chronologie des Jahres 1913 zur Kunst-, Musik- und Theaterwelt und schließlich der dritte eine bemerkenswerte Auswahl an zeitgenössischen Texten mit Ausschnitten aus Manifesten und Traktaten, aber auch aus Tagebüchern und anderen persönlichen Aufzeichnungen. Im Anhang finden sich ein Glossar einschlägiger Begriffe, weiterführende Literatur, ein hilfreiches Personenregister und knappe biografische Angaben zentraler Akteure.

Der Bruch des Jahres 1913 soll sich, so Ingold, in weit reichenden gesellschaftlichen Bereichen abgezeichnet haben, doch erklärt der Autor seltsamerweise den künstlerisch-kulturellen Sektor zum gesamtgesellschaftlichen Leitsektor. Möglicherweise liegt diese Entscheidung außerhalb des Gegenstandes im Bereich der Arbeits- und Interessenschwerpunkte Ingolds begründet. Kenntlich gemacht wird sie dem Leser indirekt durch die quantitative Gewichtung und die fragwürdige These, dass sich der "’Zeitgeist’ einer Epoche am differenziertesten in Werken der Kunst" niederschlüge (S. 11). Abgesehen davon, dass ein Begriff wie "Zeitgeist" zu explizieren wäre, hat diese Überlegung zur Folge, dass Ingold politische, soziale oder wirtschaftliche Entwicklungen als – wie er es nennt – zeitgeschichtlichen Hintergrund recht knapp abhandelt. Und dies, obwohl er selbst es als Defizit der Forschung zur literarischen Kultur des russischen Modernismus konstatiert, dass sonstige gesellschaftliche oder politische Prozesse außer Acht gelassen worden sind (S. 11f.).

Dieses Buch kann nur bedingt einlösen, was es auf den ersten Blick verspricht. Es hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck vor allem bei den Lesern, die es mit einer geschichtswissenschaftlichen Brille lesen. Das liegt insbesondere daran, dass Ingold seine These vom großen Bruch, die eigentlich den Clou des Buches darstellen soll, weder inhaltlich noch methodisch überzeugend entfalten kann. Er selbst relativiert sie mehrfach und besonders explizit in seinem resümierenden Kapitel am Ende des ersten Teils: "Der ‚große Bruch’, den die futuristische Avantgarde um 1913 in allen Bereichen der künstlerischen Kultur Russlands durchzusetzen gedachte und den sie an einzelnen Frontabschnitten auch tatsächlich durchgesetzt hat, war insgesamt wohl nicht ganz so einschneidend, gewiss auch weniger nachhaltig, als er in der Perspektive der jugendlichen Neuerer hätten sein sollen" (S. 232).

Dass das 19. Jahrhundert nicht an seiner kalendarischen Grenze endete, ist eine wenig originelle Überlegung, denn das "lange 19. Jahrhundert" ist in der Geschichtswissenschaft eine gern gepflegte Wendung. Mit der Wahl des angeblichen Epochenjahres 1913 scheint Ingold darüber hinaus, wie es in seinem Resümee wohl eher ungewollt anklingt, die Repräsentationen der Avantgarde, ihren Eigen- und Fremdwahrnehmungen für bare Münze genommen zu haben. Zudem sitzt er den ex-post-Konstruktionen einiger Intellektuellen auf, die der Autor gerne in Prosa wie Poesie unkommentiert zitiert, und die das letzte Friedensjahr kaum verwunderlich in einer kulturpessimistische Zeitkritik stilisierten. Das Gefühl eines positiv wie negativ bewertbaren Umbruchs, das ohnehin unter weiten Teilen der gebildeten und besitzenden Schichten spätestens seit der Revolution von 1905 herrschte, wird nicht weiter thematisiert.

Doch selbst wenn man Ingolds Denkfigur eines Bruches folgt, bleiben manche Fragen offen. Es wird beispielsweise nicht deutlich, wodurch sich das 20. Jahrhundert vom 19. Jahrhundert abgrenzen lässt, warum 1913 einen größeren Bruch als 1905 oder 1917 darstellen soll oder worin sich 1913 substanziell von 1912 oder 1910 unterscheidet; warum die Jahrhundertwende – synthetisiert im Jahre 1913 – einen "tief greifenden, historisch erst- und einmaligen Wandel von Kultur und Gesellschaft" darstellen soll (S. 20, Hervorhebung von mir, K.B.), bleibt ebenso unbeantwortet. Auch die Spannung zwischen dem Jahr 1913 zum einen als Synthese zahlreicher, angeblich "epochenspezifischer" Prozesse und zum anderen als Bruch mit dem Alten wird nicht aufgelöst (S. 81).

Statt dessen erfährt der Leser, dass 1913 gegenüber den einschneidenden Jahren 1905 oder 1917 zufällig den Vorzug aufweist, dass in diesem Jahr in größerem Umfang statistische Erhebungen durchgeführt worden sind. Diese Ergebnisse nutzt Ingold aber nur bedingt. Sie verleiten ihn z.B. dazu, suggestiv von einem "statistisch belegbare(n) russische(n) Wirtschaftswunder" (S. 34) zu sprechen. Zwar wies, wie Ingold betont, Russland in den unmittelbaren Vorkriegsjahren höhere Wachstumsraten auf als z.B. westeuropäische Länder und die USA, doch darf man nicht vergessen, dass das Ausgangsniveau ungleich niedriger war (S. 31). Ob die Daten für 1913 deshalb einen Bruch belegen können, bleibt dahingestellt.

Von einem "Wirtschaftswunder" zu sprechen, ist nicht das einzige Beispiel für Ingolds teilweise nachlässigen, teilweise unglücklichen Umgang mit Begriffen. Er operiert mit Kategorien wie Moderne, Fortschritt, Zeitgeist, Epoche oder Schicksalsjahr und schreibt über Deutungsmotive wie Euphorie, Skepsis oder Unruhe ohne sie zu definieren oder sozial zu verordnen. Zwar finden sich gerade die letztgenannten Motive fraglos in den Texten der Avantgarde, insbesondere auch in denen, die hier präsentiert werden. Doch hätte Ingold größeren Gewinn aus ihnen ziehen können, indem er vor ihrem Hintergrund nach Handlungsspielräumen, nach Folgen für die Politisierung der Avantgarde oder nach dem Verhältnis zwischen Avantgarde und politischen Parteien gefragt hätte.

Überhaupt spielt die Avantgarde die zentrale Rolle für These, Darstellung und Textauswahl des Buches, denn der diagnostizierte Bruch und die zunehmend an Deutungsmacht gewinnende Avantgarde sind in Ingolds Darstellung zwei Seiten derselben Medaille. Besonders schade ist es deshalb, dass auch dieser Begriff weder klar definiert noch analytisch wirklich fruchtbar gemacht wird. Zudem wird in diesem Zusammenhang deutlich, dass das Buch eigentlich von einem reinen, überaus schmalen Elitenphänomen handelt, das als solches nicht vom Autor benannt wird. Positiv anzumerken bleibt jedoch, dass Ingold die russischen Entwicklungen und die Avantgarde im europäischen Kontext betrachtet und nicht eine alte Ost-West-Dichotomie beschwört.

Bei aller Kritik liegt der große Vorzug des Buches in der umfangreichen Textauswahl, die Ingold mit sicherem Gespür zusammengestellt hat. In den auch quantitativ größten Teilen des Buches, die sich mit der russischen Avantgarde und deren Texten beschäftigen, beherrscht er die Materie sehr kenntnisreich. Hier entfaltet er dem Leser ein fassettenreiches Bild der russischen Avantgarde und gibt dem Leser durch den ausführlichen Anmerkungsapparat wichtige Handreichungen. Als wissenschaftliche Darstellung jedoch ist das Werk in der Einleitung zu oberflächlich und schwach ausgearbeitet, der Titel mit Blick die unbefriedigende These zudem unglücklich gewählt. Als Lesebuch zur russischen Geistesgeschichte erweist es sich gleichwohl als Gewinn bringend und als eine echte Fundgrube zur Avantgarde, ihren verschiedenen Denkrichtungen und Akteuren.

Kirsten Bönker, Berlin/Bielefeld





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