ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Jürgen Zimmerer, Deutsche Herrschaft über Afrikaner. Staatlicher Machtanspruch und Wirklichkeit im kolonialen Namibia (= Europa-Übersee, Historische Studien, Band 10), Lit-Verlag, Hamburg 2001, 329 S., geb., 35,90 EUR.

Die deutsche Kolonialgeschichte ist in mehreren Schüben aufgearbeitet worden - nur selten jedoch sine ira et studio. Ging es der verspäteten Kolonialmacht in ihrer Geschichtsschreibung anfänglich um den Nachweis einer langen Vorgeschichte kolonialer Befähigung, so trat später eine Literatur hinzu, die das Ausgreifen auf fremde Territorien in eine verhängnisvolle Tradition des deutschen Imperialismus – und später des Neokolonialismus – stellte. Das galt auch etwa für die ansonsten durchaus beachtenswerte DDR-Kolonialhistorie der 50er- und 60er-Jahre. Noch der Schub westdeutscher Hinwendung zur Kolonialgeschichte vor etwa 30 Jahren stand - im Gefolge der Fischer-Kontroverse - unter diesen Vorzeichen der Kontinuitäts-Suche. Doch wurde, etwa bei Hans-Ulrich Wehler, schon weniger geradlinig auch nach den Zusammenhängen zwischen deutscher Kolonial- und Innenpolitik gefragt. Auch begann man sich, so bei Karin Hausen, Helmut Bley, Rainer Tetzlaff oder Detlef Bald, quellennäher als zuvor für die Eigengeschichte der Kolonien zu interessieren.

Inzwischen ist eine weitere Welle der Kolonialgeschichte zu beobachten, die mit neuen Methoden und Perspektiven an die Überlieferung geht. Dabei herrscht oft ein kulturgeschichtliches Interesse für die Wechselwirkungen zwischen dem Zentrum und der Peripherie vor, werden Wahrnehmungsdifferenzen oder strukturelle Missverständnisse thematisiert. Zimmerer, dessen Freiburger Dissertation von 2000 jetzt im Druck erschienen ist, hält sich freilich von allem "Modischen" fern, welche diese Zugriffe bisweilen auszeichnet. Er schreibt eine Politik- und Verwaltungsgeschichte, wobei er besonders die Differenzen zwischen Planung und Praxis beschreibt. Dabei ist er insbesondere an der "Eingeborenenpolitik" interessiert, nimmt Südwestafrika als Beispiel, geht aber in seinen Schlussfolgerungen auch nur wenig über diesen exemplarischen Fall hinaus und ist sehr vorsichtig in seinen Verallgemeinerungen.

Die Darstellung Zimmerers ruht auf einer außerordentlich günstigen Quellenlage, die auch die südwestafrikanischen Archive mit einschließt. Zimmerer geht mit der notwendigen Quellenkritik ans Werk und kann so von mal zu mal Diskrepanzen zwischen den in den administrativen Überlieferungen formulierten Normen, Ansprüchen und Absichten einerseits, der Realität andererseits konstatieren – ein heute zwar gängiger, am Beispiel der Kolonien aber noch nicht so detailliert nachgewiesener Befund. Zimmerer gelingt es zu zeigen, wie der bürokratische Verwaltungsstaat der verspäteten Kolonialmacht seine Matrix über das vermeintlich leere Territorium in Südwestafrika warf. Die vorgefundenen Bewohner wurden zunächst als allenfalls lästige, später nach und nach jedoch als erziehungsfähige und schließlich als erhaltenswerte Subjekte wahrgenommen. Der Autor verwendet den Begriff der "Herrschaftsutopie" für den anvisierten Idealzustand einer dauerhaft geregelten und geordneten Kolonie. In Bezug auf die Eingeborenen wandelte sich diese Utopie hin zur Vision von abhängig arbeitenden Untertanen des Deutschen Reiches, von denen erwartet wurde, dass sie die deutschen Werte und Orientierungen, vor allem das Arbeitsethos, vollständig assimilierten – jedenfalls diejenigen Afrikaner, die nach der zunehmend rassistischen Wahrnehmung der Deutschen als "brauchbar" galten.

Im Zentrum der Problematik stehen daher die Möglichkeiten zur Rekrutierung von Arbeitskräften und die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen. Das Ziel des bürokratischen Gesetzes- und Ordnungsstaates, also die Unterwerfung der im Schutzgebiet lebenden Afrikaner unter deutsche Normen mit dem Telos der "Effizienz", bewirkte immerhin eine schrittweise durchgeführte Aufhebung des berüchtigten "Prügelregiments" und der Zwangsarbeit. Tendenziell verband sich die Einführung eines marktförmigen Arbeitsmarktes sogar mit einem minimalen Rechtsschutz für die Afrikaner, zumal bis 1915 der Mangel an Arbeitskräften in Deutsch-Südwestafrika notorisch bleiben sollte.

Landenteignungen, die Schulpflicht und die Steuerpflicht dienten ebenfalls als Elemente der Disziplinierung zu abhängiger Arbeit. Besonders die Eingeborenenverordnungen von 1907 werden von Zimmerer ausführlich analysiert, also die Kontroll-, Pass- und Gesindeverordnung, die bereits auf Entwürfen seit der Jahrhundertwende basierten. Zimmerer differenziert zwischen vier bis fünf Architekten der "Herrschaftsutopie" einerseits, die mit immer neuen Initiativen eine gewisse Kontinuität in der Eingeborenenpolitik dokumentierten, und den ausführenden Ebenen der Lokalverwaltungen andererseits, die mit ihren je eigenen Vorstellungen und Problemen auf die Praxis einwirkten und sie zum Teil maßgeblich umzugestalten verstanden. Auch die Konflikte zwischen den Minengesellschaften, die ab den ersten Diamantenfunden 1904 zunehmend für einen wirtschaftlichen Gewinn der Kolonie sorgten, und den oft streng konservativen Siedlern und Farmern werden sichtbar gemacht.

Es gelingt Zimmerer darüber hinaus, auch die Afrikaner selbst nicht nur als Objekte der Verwaltung sichtbar werden zu lassen, die über die Verordnungen möglichst lückenlos erfasst und erstmals als Arbeitsreservoir definiert werden sollten. Der zeitliche Schwerpunkt der Arbeit liegt dabei auf den Jahren 1905 bis 1915, die Zeit davor wird eher kursorisch eingefangen. Doch wird die in der bisherigen Literatur immer wieder betonte Zäsur des Jahres 1907 von Zimmerer stark relativiert und in einen sich schrittweise vollziehenden Wandel aufgelöst. Der seit 1904 geführte genozidale Krieg gegen die Herero passte eigentlich nicht in die Eingeborenenpolitik, wirkte aber nach Ansicht des Autors dennoch als Katalysator des Übergangs zwischen indirekter und direkter Herrschaft.

Auch wird in der Darstellung von mal zu mal die Diskrepanz zwischen dem Selbst- und dem Fremdbild der Kolonisatoren deutlich. Die lange Provinzialität der Deutschen in ihren Kleinstaaten hatte einen "gelasseneren" Umgang mit dem Fremden in der "weiten Welt" verhindert. Die Folge war nicht nur eine gewisse "Ehrpussligkeit" an der Messlatte des "Ansehens des Deutschtums in der Welt", die zum Leitmotiv des deutschen Ausgreifens in die Welt wurde - auch und vor allem den "Eingeborenen" gegenüber. Sie war auch für die Neigung zu einer "akademischen" und unflexiblen Behandlung von Besatzungsfragen verantwortlich. Zimmerer zeigt, wie sich im Gefolge des Herero-Krieges eine auf Kosten der Afrikaner am "Grünen Tisch" entworfene Politik durchsetzte – ein in vielerlei Hinsicht verhängnisvolles Muster für spätere deutsche Besatzungspolitik, wie sie etwa im europäischen Osten zwischen 1939 und 1945 praktiziert werden sollte.

Zimmerer zieht jedoch keine Parallelen zum "Dritten Reich". Die Utopie einer rassischen Privilegiengesellschaft, in der es über die Mischlingsfrage zu einer Radikalisierung der rassistischen Komponenten und zu einer immer schärferen Trennung zwischen Weiß und Schwarz kam, sieht er vielmehr in der Tradition ständischer Gesellschaftsordnungen der Vormoderne stehen, worüber sicher zu diskutieren wäre. Denn zweifellos wiederholte sich hier auch ein Muster, nach dem auch schon in Europa periphere Regionen oder Gesellschaftsschichten an eine zentrale Verwaltung gebunden worden waren.

Das Buch Zimmerers repräsentiert eine Wendung zur konkreten Analyse der "kolonialen Situation" mit ihrem komplexen Interaktionsgefüge, und es versucht die Geschichte der Kolonien an die deutsche Geschichte rückzukoppeln – eine Geschichte, die sich freilich für kurze Zeit in Afrika abspielte.

Dirk van Laak, Jena





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