ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Rita Gudermann, Morastwelt und Paradies. Ökonomie und Ökologie in der Landwirtschaft am Beispiel der Meliorationen in Westfalen und Brandenburg (1830-1880), Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2000, 577 S., geb., 51,60 EUR.

"Morastwelt und Paradies" verfolgt das Ziel, eine Gesellschaftsgeschichte der Nutzung von Wasser und Boden am Beispiel der landwirtschaftlichen Meliorationen in den preußischen Provinzen Brandenburg und Westfalen zu erbringen. Den zeitlichen Kern bilden die Jahrzehnte während der Durchführung der Agrarreformen. Der Autorin folgend vollzog sich in diesen Jahrzehnten nicht nur irgendeine längere agrarische Wachstumsphase, sondern der Übergang von der "naturalen" zur "kapitalistischen" Ökonomie in der Landwirtschaft mit weitreichenden Folgen für Umwelt und Landschaft. Landwirtschaftliche Eingriffe in die "Natur" bewegten sich fortan auf einem qualitativ neuen Niveau. Die moderne Konstellation einer zunehmenden ökonomischen Rationalisierung der Landnutzung, verbunden mit einer bisher noch nicht da gewesenen Intensität staatlicher Eingriffe in die Landschaft, getragen von einer optimistischen Machbarkeits-Ideologie, nahm in dieser Zeit ihren Anfang. Die Industrialisierung der Landwirtschaft im 20. Jahrhundert mit ihren gravierenden Folgen für den Agrarumweltbereich bereitete sich hier bereits vor. Es handelt sich somit um ein hochaktuelles Buch.

Hinzu kommt, dass bezogen auf die Veränderung in der landwirtschaftlichen Nutzung sogenannter "Grenzländereien" (Heiden, Moore, Überschwemmungsgebiete usw.) während der Zeit der Agrarreformen noch viele Fragen offen sind. Insbesondere was die staatliche Landeskulturpolitik angeht, überwiegt in der Literatur nicht selten noch eine unkritische Rezeption der "borussischen" Literatur mit vorausschauenden preußischen Beamten, die rückständige Bauern zu ihrem Besten auf die Bahn des Fortschritts lenkten. Diese These fundiert zu überprüfen und kritisch zu hinterfragen, stellt einen wichtigen Beitrag des Buches dar.

Am Anfang steht eine Beschreibung der landwirtschaftlichen Nutzung der Landschaft in Brandenburg und Preußen vor 1830. Schwerpunkte bilden hierbei die wichtige Rolle der Grenzländereien in der "naturalen Ökonomie" und die langfristigen Ursachen für die Krise der letzteren um 1800. Anschließend erfolgt eine Analyse der "ideologischen Revolution", welche die großen Meliorationsprojekte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorbereitete und begleitete. Danach kommt eine ausführliche Behandlung des grundlegenden Wandels in der staatlichen Landeskulturpolitik nach 1830. Das nachfolgende Kapitel bietet eine detaillierte Aufarbeitung beispielhafter staatlicher Meliorationsprojekte. Abschließend befasst sich das sechste Kapitel mit der Rolle der Meliorationen für die Agrarproduktion und ihre sehr unterschiedlichen Auswirkungen innerhalb der ländlichen Klassengesellschaft. Die herausragenden Stärken der Arbeit umfassen insbesondere zwei Punkte:

1) Die sehr detaillierte Aufarbeitung des Prozesses, durch den der Staat bzw. die öffentliche Hand im 19. Jahrhundert zu einem der wichtigsten Akteure für die Gestaltung der Landschaft aufstieg. Hier werden auf vorbildliche Weise die Entwicklungen auf allen staatlichen Ebenen und in der zeitgenössischen öffentlichen Debatte dargestellt. Fallstudien zu einzelnen staatlichen Meliorationsprojekten runden das Bild ab. Letztere belegen eindringlich, wie Großprojekte zur Be- und Entwässerung, die über die Köpfe der Betroffenen hinweg geplant wurden, sowohl in die ökologische als auch in die betriebswirtschaftliche Sackgasse führten. Kleiner dimensionierte staatliche Maßnahmen, die technisch beherrschbar blieben bei kalkulierbaren Risiken waren dagegen sehr erfolgreich.

2) Die Beschreibung der Entstehung von Landschaften als eines gesellschaftlichen Prozesses indem sich widerstreitende Interessen manifestieren, gelingt in einer für den Leser gut nachvollziehbaren Weise.

Daneben weist die Arbeit aber auch Mängel auf. Die der bäuerlichen Ökonomie Westfalens und Brandenburgs inhärenten dynamischen Elemente, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung gewannen, lassen sich im eher statisch angelegten Beck’schen Konzept der "naturalen Ökonomie" nur unzureichend wiedergeben. Der Markt stellte für immer mehr Bauern dieser Gebiete eben keine residuale Größe mehr dar. Auch wenn dies von der Autorin klar erkannt wird, so fehlt doch eine ausreichende Berücksichtigung dieses Umstandes in der theoretischen Konzeption der Arbeit. Das von der Autorin zugrunde gelegte schroffe Gegensatzpaar von "naturaler Ökonomie" und "kapitalistischer Landwirtschaft" bzw. Agrarkapitalismus bezeichnet dabei nur zwei Endpunkte eines (ideellen) Kontinuums und ist wenig hilfreich, unterschiedliche Stufen und Phasen im Wandel der bäuerlichen Ökonomie 1750-1880 erfassen zu können. Eine explizite Definition, was die "kapitalistische Landwirtschaft" unter der Bedingung bäuerlicher Agrarstrukturen sei, erfolgt nicht. Markteinflüsse werden zwar oft erwähnt, doch im Unterschied zum staatlichen Handeln erfolgt keine nähere Analyse des Zusammenhangs zwischen Marktprozessen und Meliorationen. Im zusammenfassenden Schlusskapitel ist dem "Faktor Markt" nicht einmal ein eigener Abschnitt gewidmet. Dabei deuten schon die von der Autorin erbrachten Daten zum Stand und zum Fortschritt der Meliorationen in Westfalen (S. 413f.) ziemlich eindeutig darauf hin, das der Landesausbau in weiten Teilen Westfalens schon Jahrzehnte vor 1830 eingesetzt hatte und alleine durch die Agrarreformen nur in wenigen Randgebieten eine signifikante Zunahme erfuhr. Das Ausbreitungstempo der Meliorationen folgte somit höchstwahrscheinlich den Phasen beschleunigten und gebremsten Agrarwachstums und diese waren in Westfalen und Brandenburg eindeutig marktgesteuert. Zwar ist es das unbestreitbare Verdienst der Autorin, den Beweis erbracht zu haben, dass die auf bäuerlicher Eigeninitiative durchgeführten Meliorationen den Umfang der staatlichen um ein vielfaches übertrafen und in der Regel wohl profitabel waren, doch hätte sich diese Erkenntnis deutlicher in der Analyse des ökonomischen Verhaltens bäuerlicher und unterbäuerlicher Schichten niederschlagen müssen.

Die innerdörflichen Machtstrukturen und "traditionellen Institutionen" der bäuerlichen Gemeinde, die ja im Zuge der Agrarreformen zerschlagen wurden, hätten stärker auf ihre Flexibilität und erwiesene Anpassungsfähigkeit an Veränderungen der ökonomischen Rahmenbedingungen untersucht werden müssen. Die Frage steht somit im Raum, ob die Agrarreformen tatsächlich Meliorationen und Agrarwachstum signifikant beschleunigten oder ob sie nur einen möglichen unter mehreren Wegen darstellten, um einer forcierten Agrarentwicklung in Brandenburg und Westfalen einen angemessenen institutionellen Rahmen zu geben. Es sei hier nur daran erinnert, unter wie verschiedenen institutionellen Regimes Meliorationen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts erfolgreich durchgeführt wurden. Auf der einen Seite steht hier England, wo Meliorationen von den Gemeinheitsteilungen nicht zu trennen sind, auf der anderen Seite das zaristische Russland mit riesigen Flächen, die Ende des 19. Jahrhunderts von ganzen Dorfgemeinschaften in kollektiver Verantwortung melioriert wurden. In beiden Fällen waren aber mittel- und langfristig günstige Absatzmarktperspektiven der Auslöser. Neuere Ansätze der Entwicklungstheorie und der "theory of common property" legen es ebenfalls nahe, dass oft erst funktionsfähige "traditionelle Institutionen" den notwendigen sicheren Rahmen für Markttransaktionen und steigende landwirtschaftliche Investitionen liefern, um eine marktorientierte Agrarentwicklung mit zunehmender Kapitalbildung starten zu können (vgl. hierzu M. Aoki, Y. Hayami, Communities and Markets in Economic Development, Oxford 2001). Eine zu einseitige Fixierung auf das staatliche Handeln, verbunden mit der strikten analytischen Zweiteilung von "naturaler Ökonomie" versus "kapitalistischer Landwirtschaft" mit den Agrarreformen als der großen Zeitenwende, birgt die Gefahr eines Rückfalls hinter die Erkenntnisse der neueren Forschungen zu Brandenburg und Westfalen, welche die Rolle der Agrarreformen für langfristige agrarische Wachstumsprozesse doch erheblich relativiert haben. Zwar entzaubert die Autorin eindrucksvoll den weitverbreiteten "borussischen" Mythos einer planvollen staatlichen Landeskulturpolitik mit segensreichen Wirkungen für alle, doch fehlt vom ökonomischen Standpunkt eine theoretisch befriedigende und empirisch ausreichend abgesicherte Erklärung des Zusammenhangs von langfristigem Agrarwachstum, Meliorationen und staatlicher Agrar(umwelt)politik, wie sie z.B. für die englischen Einhegungen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts bereits in zahlreichen empirischen Studien vorliegen.

Bezogen auf ökonomische Tatbestände sind die angeführten Belege oft nicht eindeutig oder ausreichend, um die streckenweise recht weitreichenden Behauptungen abstützen zu können. Die Identifizierung einer agrarischen Take-Off-Phase durch die Autorin zwischen 1830 und 1850 bleibt zweifelhaft. Eine Rostow’sche Take-Off-Phase ist eindeutig definiert durch ein beschleunigtes Wachstum, das später wieder abflacht. Statistische Belege für ein solches Entwicklungsmuster legt die Autorin nicht vor. Für Westfalen sprechen alle neueren Ergebnisse dafür, dass eine solche Beschleunigung sich erstens zeitlich regional sehr unterschiedlich vollzog und zweitens, wenn überhaupt, erst nach 1850 mit dem Eisenbahnbau in größerem Maßstab einsetzte. Für Brandenburg dürften hier die Jahrzehnte vor 1800 den entscheidenden Durchbruch darstellen. Weiterführend gilt, dass sich das generell vorherrschende agrarische Wachstumsmuster einer langfristigen Beschleunigen der Agrarentwicklung ohne eine nachfolgende Abflachungsphase durch das Take-Off-Konzept nicht adäquat erfassen lässt. Vorsicht ist auch geboten bei der Behauptung einer forcierten Mobilisierung des Bodenmarktes 1830-1850 oder bei Äußerungen zu unterschiedlichen Faktoreinsatzrelationen von Arbeit und Kapital zwischen bäuerlichen und adligen Produzenten. Bei beiden unterschieden sich die Basistechnologie und das eingesetzte Sachkapital kaum.

Nachfolgende Studien können gut auf der hier besprochenen Arbeit aufbauen. Die vorhandene Primär- und Sekundärliteratur ist vollständig und erschöpfend ausgewertet worden. Am vielversprechendsten dürften dabei weitere vergleichende Mikrostudien sein, mit dem Ziel die bäuerliche Ökonomie zur Zeit der Agrarreformen und der Entstehung großräumiger Agrarbinnenmärkte konkret werden zu lassen. Nur so ist es möglich, die oft von intellektuellen Moden und Vorurteilen geprägte Sicht vieler zeitgenössischer Agrarexperten auf die Bauern und ihre Wirtschaftsweise kritisch hinterfragen zu können. Vielleicht wird es auch eines Tages möglich sein, zu untersuchen, ob sich das Denken der Bauern über den "Produktionsfaktor Wasser" während des 19. Jahrhunderts tatsächlich änderte oder ob hier nicht schon immer ein recht praktischer Ansatz überwog, wie auch die Autorin andeutet. Die vorliegende Studie von Rita Gudermann stellt alles in allem einen wichtigen Beitrag für eine moderne Agrarumweltgeschichte dar, die eben nicht den Fehler begeht, eine angeblich naturverbundene Vergangenheit einer aus ökologischer Sicht destruktiven Gegenwart gegenüberzustellen.

Michael Kopsidis, Halle/Saale





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