ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Annette Harth/Gitta Scheller/Wulf Tessin (Hrsg.), Stadt und soziale Ungleichheit, Leske + Budrich, Opladen 2000, 321 S., kart., 56 DM.

Der Sammelband "Stadt und soziale Ungleichheit" ist zwar nicht explizit als Festschrift deklariert, doch haben ihn die Herausgeber dem Stadtsoziologen Ulfert Herlyn (Institut für Freiraumentwicklung und Planungsbezogene Soziologie an der Universität Hannover) anlässlich seiner Pensionierung gewidmet. Die Autoren des Bandes kommen überwiegend aus dem engeren Umkreis der Fachkollegen und Mitarbeiter Herlyns. Sie haben allerdings einen Band abgeliefert, der wenig mit der bunten thematischen Vielfalt gängiger Festschriftenliteratur gemein hat, sondern in stringenter Weise thematisch eng auf einander bezogene Beiträge bietet.

Die beiden Ausätze der ersten Sektion des Bandes zeigen die Entwicklung der stadtsoziologischen Ungleichheits-Forschung seit den 1950er-Jahren auf. Die zweite Sektion fasst drei Beiträge zusammen, die sich mit sozialer Ungleichheit in der Stadt in historischer Perspektive beschäftigen. Nach einem von B. Schäfers verfassten allgemeinen Überblick über die historischen Entwicklungslinien in Städten, widmet sich Adelheid v. Saldern den Prozessen räumlicher Segregation und Suburbanisierung seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, und G. Gröning befasst sich mit den sozialen Aspekten der Planung urbaner Freiräume. Insgesamt werden die Beiträge der ersten beiden Sektionen dem engeren Fachpublikum nicht unbedingt neue Erkenntnisse bringen, doch können sie als knappe Überblicksdarstellungen für den Einsteig ins Themengebiet durchaus brauchbar und nützlich sein.

Der größere Teil des Sammelbandes nimmt unter verschiedenen Perspektiven die neuere Entwicklung sozialer Ungleichheit in der Stadt in den Blick. Die dritte Sektion bündelte die Beiträge, die sich mit der Prägung der Stadt durch soziale Ungleichheit einerseits und dem Einfluss städtischer Strukturen auf eine Verfestigung bzw. Verminderung sozialer Ungleichheit andererseits beschäftigen. Die Befunde von H. Häußermann/W. Siebel und von J. S. Dangschat verweisen, so weit es die städtischen Mittel- und Oberschichten betrifft, auf eine zunehmende Auflösung ortsgebundener Milieus in fluide Szenen. Andererseits diagnostizieren diese Autoren aber Tendenzen neuer sozialer Polarisierung insofern, als sich ökonomische, soziale und kulturelle Benachteiligung zusehends in segregierten Unterschichten-Quartieren konzentriere. Zudem schwinde die sozial integrative Wirkungskraft kommunaler Raumplanung im Zuge einer zunehmend einseitigeren Orientierung der Stadtpolitik an ökonomischen Zielen. P. Franz stellt in seinem Beitrag zur Entwicklung der ostdeutschen Städte fest, dass der Grad sozialer Segregation ein Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung zwar hinter den pessimistischen Erwartungen zurückgeblieben sei, konstatiert aber auch eine merkliche Tendenz zur Abwanderung einkommensstarker Haushalte in die suburbane Peripherie der Städte.

Im vierten Abschnitt geht es um gruppenspezifische Ausprägungen sozialer Ungleichheit in Städten. Die Beiträge befassen sich im Einzelnen mit ethnisch begründeten, mit geschlechts- und generationsspezifischen sowie an bestimmten Haushaltsformen fest zu machenden Disparitäten urbanen Lebens. J. Friedrichs’ Befunde einer vergleichenden Lokalstudie (Köln und Frankfurt/Main) deuten dabei nicht nur auf ein im Vergleich mit anderen (west-) europäischen Großstädten bemerkenswert geringes Maß an ethnischer Segregation hin, sondern auch auf eine wachsende ökonomische und kulturelle Assimilationstendenz seit dem Ende der 1970er-Jahre. E. Spiegel verweist im Hinblick auf die Wohnungsprobleme von Haushalten mit Kindern, dass die oft beschworene Pluralisierung von Haushaltsformen und Lebensstilen nicht unbedingt mit zunehmender Chancengleichheit einhergeht.

Die Beiträge der letzten Sektion des Sammelbandes verbinden schließlich die stadtsoziologische Analyse mit dem Versuch, Wege zur Bewältigung der Probleme sozialer Ungleichheit aufzuzeigen. Aus den Texten spricht dabei eine gewisse Skepsis gegen "technokratische" Lösungen und eine Sympathie für "zivilgesellschaftliche", im kleinräumigen Milieu der Stadtteile und Nachbarschaften verortete Ansätze. Nicht zuletzt geht es den Autoren um die Artikulation und Durchsetzung der Interessen von sozial Benachteiligten in kommunalen Planungszusammenhängen und unter den Bedingungen zunehmender Privatisierung und Kommerzialisierung öffentlicher Räume.

Der allgemeine Tenor des vorliegenden Sammelbandes scheint mir vor allem in einer Skepsis vor allzu optimistischen Diagnosen zu liegen, nach denen die Pluralisierung und Individualisierung städtischer Lebensstile überkommene Strukturen sozialer Ungleichheit und Segregation verwische oder gar verschwinden lasse. Die Autoren legen dagegen ihr Augenmerk auf neue Polarisierungen und neue (und auch weniger neue) Formen sozialer Ungleichheit in der Stadt.

Michael Schäfer, Bielefeld





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