ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Wolfgang Schmidt, Kalter Krieg, Koexistenz und kleine Schritte. Willy Brandt und die Deutschlandpolitik 1948-1963, Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2001, 572 S., kart., 39 EUR.

Nach verbreiteter Auffassung veranlassten der Mauerbau 1961 und die damit offensichtliche Perspektivlosigkeit der westlichen Deutschlandpolitik Willy Brandt, seine ost- und deutschlandpolitischen Konzeptionen im Sinne einer Abkehr von der Konfrontation mit der Sowjetunion zu verändern. Der Autor der hier zu besprechenden Monographie, einer im Jahre 2000 am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Philosophie der Universität Marburg abgeschlossenen Dissertation, unternimmt den Versuch nachzuweisen, dass Brandts ost- und deutschlandpolitische Überlegungen kontinuierlich bis weit in die 50er Jahre zurückreichen.

Nach der Einleitung behandeln 8 Kapitel Brandts Werdegang bis 1947, seine deutschlandpolitischen Positionen 1948/49 sowie 1949-1954, Ansätze zu einer Konzeption der "kleinen Schritte" 1954-1958, die Berlin-Krise und Brandts Kanzlerkandidatur 1959/60, die Berlin-Krise 1960/61, Brandts Deutschland- und Berlin-Politik zwischen Mauerbau und Kuba-Krise 1961/62 und schließlich die Entwicklung bis zum ersten Passierscheinabkommen 1963. Die Ergebnisse sind in einer Schlussbetrachtung zusammengefasst. Zu dem Buch gehören eine biographische Übersicht 1913-1964, eine Strukturskizze der Berliner Senatskanzlei 1957-1963 und 16 Kurzbiographien der wichtigsten Mitarbeiter, Berater und Freunde Brandts in seiner Zeit als Regierender Bürgermeister.

Auf die Bedeutung von Brandts "Kriegsschriften" (in der Emigration in Norwegen) für seine ostpolitische Konzeption wird besonders hingewiesen. Später spielen Brandts Konkurrenz zu Kurt Schumacher und dann, gemeinsam mit Ernst Reuter (der Reformflügel in der Berliner SPD), zu Franz Neumann und seinen Anhängern (den Traditionalisten) eine große Rolle. Brandt zeigt sich in den 50er Jahren besonders deutlich als "Atlantiker", Anhänger der "Politik der Stärke" und der Westintegration der Bundesrepublik, der beispielsweise den Deutschlandplan der SPD 1959, der die Wiedervereinigung Deutschlands über eine Konföderation und die Bündnisfreiheit Deutschlands anstrebte, nachdrücklich ablehnte. Die Härte der Positionen Brandts überrascht aus heutiger Sicht immer wieder, so, wenn er im Falle einer Blockade West-Berlins für die direkte Beteiligung der Bundeswehr bei der militärischen Durchbrechung der Blockade durch Streitkräfte der westlichen Alliierten eintrat. Insofern ist eine Kluft zwischen Brandts damals aktueller Deutschlandpolitik und früheren Überlegungen zum Ausgleich mit der Sowjetunion, wie sie Schmidt herauszufinden versucht, unübersehbar. Bezeichnend ist hier der Titel zu Kapitel 3: "Ein ‚Amerikaner’ in der SPD: Brandts Außenseiterposition in der Deutschlandpolitik 1949 bis 1954". Diese Widersprüchlichkeit, die eigentlich erst mit dem Positionswandel Brandts in den 60er Jahren offenkundig wird, erklärt der Autor zutreffend mit dem Mangel an echter Entscheidungskompetenz im untersuchten Zeitraum, aber auch mit der Unmöglichkeit der vollständigen Erfassung von Brandts Denken in der fraglichen Zeit und nicht zuletzt mit seinem frühzeitigen Bestreben, in die politische Führung der Bundesrepublik bis hin zum Amt des Bundeskanzlers aufzusteigen.

Der von Brandt und wohl den meisten seiner deutschen Zeitgenossen nicht erwartete Kurswechsel in der Deutschland- und Berlin-Politik der USA zu Beginn der 60er Jahre hat seine allmähliche Abkehr von der Konfrontations- zur Entspannungspolitik entscheidend befördert. Das Zurückverfolgen dieser Entspannungspolitik Brandts bis zum Beginn seiner politischen Karriere erscheint sehr bemüht und nicht ganz überzeugend. Im übrigen beschränkte sich auch die Ost- und Deutschlandpolitik der Bundesregierung und ihrer Verbündeten schon in den 50er Jahren nicht auf Konfrontation, wie ein Blick etwa auf die innerdeutschen Wirtschaftsbeziehungen oder die diskrete Förderung des "Revisionismus" im sowjetischen Machtbereich zeigt. Schmidt ist zuzustimmen, dass für Brandts politische Konzeptionen und ihre Wandlung die Notwendigkeit der Anpassung an bestehende innen- und außenpolitische Machtkonstellationen eine Rolle spielte. Er konstatiert sogar "eine gewisse Führungsschwäche" Brandts, sein "häufiges Sowohl-als-auch": "Er war zugleich ‚Kalter Krieger’ und Entspannungspolitiker."

Die Monographie zeichnet sich durch ungewöhnliche Materialfülle aus; die genutzten sehr reichhaltigen Quellen, insbesondere Schriften, Reden usw. Brandts von 1936-1964 könnten auch Anregungen für vergleichende Forschungen über Brandts Politik in späteren Zeiten sein. Die Arbeit beruht ausschließlich auf Quellen in westlichen Archiven, insbesondere des Willy-Brandt-Archivs im Archiv der sozialen Demokratie. Der Autor hat zahlreiche Nachlässe ausgewertet, der Nachlass von Herbert Wehner wurde von seiner Ehefrau jedoch nicht freigegeben. Nebenher erfährt man, dass es kein offizielles Findbuch zu den Akten der Senatskanzlei für die Amtszeit Willy Brandts als Regierender Bürgermeister gibt und dass in den 70er Jahren ein Teil der wichtigen politischen Akten aus dem Landesarchiv Berlin von damaligen Mitarbeitern Brandts entnommen wurden und sich heute im Willy-Brandt-Archiv unter neuen Aktenzeichen befinden (S. 17, Fußn. 23). Bleibt die Frage, warum DDR-Quellen, etwa aus der SED-Führung und dem Staatsapparat, die für den untersuchten Zeitraum ohne große Schwierigkeiten zugänglich sind, nicht berücksichtigt wurden, was für sowjetische Quellen, die für diese Zeit noch immer weitgehend verschlossen sind, noch erklärlich ist. Es wäre interessant zu erfahren, wie Brandts ost- und deutschlandpolitische Vorstellungen intern in den Partei- und Staatsführungen der DDR und der UdSSR gesehen wurden. Aber das ist schon wieder ein anderes Thema.

Thomas Ammer, Euskirchen





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