ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Frank Kebbedies, Außer Kontrolle. Jugendkriminalität in der NS-Zeit und der frühen Nachkriegszeit (= Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens, Band 54), Klartext-Verlag, Essen 2000, geb., 26,50 EUR.

Das Bild auf dem Buchumschlag ist eine gut gewählte Illustration für das komplexe Argument, das Frank Kebbedies in der überarbeiteten Fassung seiner Bielefelder Dissertation präsentiert. Obwohl der Autor keinen Anhaltspunkt für die Zuordnung dieser Szene gibt, ist ihre Komposition bestechend. Die Bildmitte ist dominiert von einer teils sitzenden, teils stehenden Personengruppe, die gerade im Begriff ist, einen Militärjeep zu verlassen. Am rechten Bildrand erkennt man zwei uniformierte Aufsichtspersonen, von denen die Tür des Jeep geöffnet wird, um die Gruppe aussteigen zu lassen. Die Verbindung zwischen den beiden Gruppen wird von einem schmutzigen, aber munteren Knaben von etwa 11 Jahren gebildet, der mit einem Bein bereits aus dem Jeep gestiegen ist. Mit seinem Körper steht er links vor der uniformierten Gruppe, ein Bein ist weiterhin im Jeep und mit der rechten Hand hält er sich am Fahrzeug fest.

Der elfjährige Knabe tritt in kurzen Hosen, barfuß und mit einer Jacke auf, die schon bessere Zeiten gekannt hatte. Er repräsentiert in dieser Nachkriegsszene die Zukunft Deutschlands, für die er durch die Aufsicht der uniformierten Betreuer vorbereitet werden muss. Darauf verweist der fragende und gleichzeitig wissende Blick des linken Uniformierten ebenso hin, wie die Position des Jungen innerhalb des Bildes: Standbein, Körper und Kopf sind bereits den Uniformierten zugeordnet, die Beziehungen zu seiner Peer-Group nur mehr vorübergehender Natur.

Diese Fotografie fasst prägnant einige wichtige Themen dieses Buches zusammen: Die Sorge um das Versagen der Familie als traditioneller Ordnungs- und Erziehungseinrichtung, die Gefahren der Sinnstiftung in Jugendgruppen, sofern sie außerhalb der Kontrolle und Aufsicht staatlicher oder kirchlicher Einrichtungen operierten, die Notwendigkeit für den Staat und seine – uniformierten – Repräsentanten, die daraus resultierenden Gefahren für die Jugend präventiv zu beseitigen.

Kebbedies unternimmt in diesem Buch den anspruchsvollen Versuch, die komplexe Verflechtung von sozialen, diskursiven und institutionellen Praktiken zu beschreiben, die sich auf die Jugendlichen als einem bedrohlichen Potenzial für Un-Ordnung bezogen. Wesentlich ist dabei die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität dieser Praktiken, die Kebbedies nicht auf den Zeitraum zwischen der NS-Zeit und der unmittelbaren Nachkriegszeit beschränkt. Er fragt zuerst danach, wie nationalsozialistisch die NS-Jugendkriminalpolitik war und bezieht sich damit auf die Kontinuität aus der Zeit der Weimarer Republik. Dabei schlägt der Autor einen weiten Bogen bis in die 1890er-Jahre, wo er die Wurzeln einer "modernen" Jugendkriminalpolitik aufspürt: Jugendschutz, der sich ebenso gegen politische und sittliche Verführung wandte, wie gegen unzureichende Fürsorge durch Eltern; staatliche geförderte Jugendarbeit und Zwangserziehung "verwahrloster" Kinder selbst gegen den Willen der Eltern im Zeichen der Jugendfürsorge; sowie eine Reform der Gerichtsverfahren gegen jugendliche Rechtsbrecher mit stärkerem Eingehen auf die Persönlichkeit der Täter (S. 29ff.).

Erst unter dem Eindruck der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegskriminalität wurde die sich ausbildende Jugendgerichtspraxis 1923 kodifiziert, wie Kebbedies argumentiert. Der "Erziehungsvorrang", der seit 1923 eben auch in der Legislative festgeschrieben war, ermöglichte eine Vielzahl von flexiblen Interventionen durch Fürsorge, Polizei und Jugendverbände, um nicht klar festgelegte Wert- und Normalitätsvorstellungen durchzusetzen. Auf der Grundlage dieser umfassenden Kontextualisierung der Jugendkriminalpolitik in der Zeit des Dritten Reiches kann Kebbedies nachweisen, dass das Reichsjugendgerichtsgesetz (RJGG) von 1943 auf den diskursiven und institutionellen Praktiken der Weimarer Republik aufbaute: Der Objektcharakter der Jugendlichen im Verfahren wurde nur verstärkt, was eine Reduktion von rechtsstaatlichen Sicherungsmaßnahmen zu Gunsten einer übermächtigen Richterfigur implizierte. Neu war jedoch eine verstärkte Einbeziehung von kriminalbiologischen Kriterien zur Erstellung von Gutachten über Besserungschancen und die vorgesehenen "Erziehungsmaßnahmen" (S. 83ff.).

Vor dem Hintergrund einer strukturellen Kontinuität zwischen Weimarer Republik und Drittem Reich kann Kebbedies die Frage nach der Kontinuität zwischen Kriegs- und Nachkriegszeit anders stellen. Das Jugendgerichtsgesetz von 1953 berief sich auf die "Modernität" des RJGG und setzte auf eine eher kosmetische "Bereinigung" von nationalsozialistischen Elementen, die eine effiziente und weithin konsensfähige Strategie lediglich punktuell kontaminiert hätten (S. 105ff.). "Das Etikett ‚nationalsozialistisch‘ blieb immer nur den Teilen des Gesetzes vorbehalten, die der jeweiligen Position zuwiderliefen" (S. 271). Damit konnte eine modifizierte Version des RJGG den Bedarf der Experten für ein "effektives und flexibles Instrument zur Bekämpfung der Kriminalität" nach 1945 decken, obwohl dieses Hilfsmittel aus der Zeit des NS-Regimes stammte, wie Kebbedies zusammenfassend argumentiert.

Die Geschichte der Legislative und des kriminologischen Diskurses ist nur ein Teil von Kebbedies Arbeit. Ausgehend von dem Konzept der Jugendkriminalpolitik untersucht der Autor auch die Interdependenz von gesellschaftlichem Wandel, veränderten Wahrnehmungsmustern in entsprechenden Institutionen (Gericht, Polizei, Fürsorge, Strafvollzug, Psychiatrie, Kriminalbiologie) und den institutionellen Praktiken, die zur Reaktion auf neu definierte gesellschaftliche Probleme entwickelt wurden. Aus dieser Perspektive kommen eine Vielzahl wichtiger Themen in den Blick: "die Bedingungen für abweichendes Verhalten der Jugendlichen" als einem krisenhaften sozialen Integrationsprozess auf der strukturellen Ebene der Lebenslagen und Rollenerwartungen und der individuellen Ebene der Lebenspläne und Rollenvorbilder (S. 126ff.), die Rolle der Kriminalstatistik als "Indikator für Kriminalpolitik" und Auslöser von "moralischer Panik" (S. 144ff.), die Wahrnehmungsmuster der "Sozialkontrolleure", die institutionelle Praktiken der Deskription, Evaluation und Intervention anleiteten (S. 185ff.), sowie die Bedeutung von Arbeit zur Disziplinierung der Jugendlichen (S. 207ff).

Es ist eine Stärke dieser Studie, dass sie Fragen von Kontinuität und Diskontinuität nicht auf den Übergang zwischen dem NS-Regime und der Nachkriegszeit beschränkt, sondern den Zeitraum der Weimarer Republik in die Untersuchung mit einbezieht. Außerdem verfolgt Kebbedies diese Fragen mit einem komplexen und anspruchsvollen analytischen Instrumentarium, das rechts- und politikwissenschaftliche Konzepte erfolgreich um kultur- und sozialgeschichtliche Zugänge erweitert. Auf dieser Grundlage kann er teilweise widersprüchliche Übergangsphänomene rekonstruieren: Der Kontinuität von erbbiologischen Erklärungsmustern im kriminologischen Denken (S. 204ff.) steht der Versuch der Legislative gegenüber, nach 1945 die kriminalbiologischen Evaluierungen Elemente als Teil der nationalsozialistischen "Kontaminierung" des Jugendgerichtsgesetzes von 1943 zu beseitigen (S. 112ff.); der Weiterführung von "Arbeitserziehungslagern" unter britischer Besatzung (S. 217ff.) steht die Abwendung von der polizeilichen "Bewahrung" nicht besserungsfähiger Jugendlicher in "Jugendschutzlagern" gegenüber (S. 245ff.).

Als konzeptuellen Rahmen zur Integration der widersprüchlichen Formen von Kontinuität und Diskontinuität von Diskursen und Praktiken der Jugendkriminalpolitik im Zeichen der "industriegesellschaftlichen Moderne" schlägt Kebbedies die Fokussierung auf die "Ambivalenz von Hilfe und Kontrolle" vor: Sie führte zu "immer größeren Eingriffen staatlicher Institutionen ‚zum Wohl des Kindes und des Jugendlichen‘ in das Leben von Familien und Kindern und zu einer staatlichen Aufsicht über bzw. zum Ersatz von familiärer Erziehungspraxis […] aber eben auch zum wirksamen Schutz von Jugendlichen und Kindern vor Missbrauch, Misshandlung und Ausbeutung" (S. 276). Die Jugendkriminalpolitik des Dritten Reiches verortet Kebbedies in diesem konzeptuellen Rahmen – wenn auch die Protagonisten dieser Politik diesen allgemeinen Rahmen mit ganz spezifischen Inhalten und Praktiken füllten. Viele dieser nationalsozialistischen Inhalte überdauerten den Wiederaufbau von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft im Zeichen einer "zivilisierten Volksgemeinschaft" – ein Be-griff, mit dem Kebbedies diese diffusen Kontinuitäten zusammenfasst.

"Außer Kontrolle" besticht durch seine analytische Klarheit, einen klaren, sachlichen Stil und die Breite der thematischen und historischen Kompetenz, auf die Kebbedies sein überzeugendes Argument aufbaut. Es ist ein gelungenes und wertvolles Buch, das unser Verständnis der Jugendkriminalpolitik, aber mehr noch von Kontinuität und Diskontinuität im 20. Jahrhundert beeinflussen wird.

Peter Becker, Florenz





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