ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Karl Heinrich Pohl (Hrsg.), Wehrmacht und Vernichtungspolitik. Militär im nationalsozialistischen System, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999, 175 S., kart., 29 DM.

Die von Karl Heinrich Pohl herausgegebene Studie ist aus einer Kieler Ringvorlesung hervorgegangen, die anlässlich der dortigen Präsentation der Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung über "Vernichtungskrieg, Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944" veranstaltet wurde. Die Veröffentlichung liegt vor der Entscheidung Jan Philipp Reemtsmas, die Ausstellung, die vor einigen Wochen in Berlin in revidierter Form neu eröffnet worden ist, zurückzuziehen. Die von didaktischen Erwägungen bestimmte Ausstellungskritik von Karl Heinrich Pohl, der im Übrigen die alte Ausstellung nachdrücklich gegen deren Kritiker verteidigt, hat daher lediglich historischen Wert. Der einführende Beitrag von Peter Steinbach über die Stellung der Wehrmacht im NS-Staat wendet sich gegen die in der Bundesrepublik bestehende Tendenz, den militärischen Widerstand, der eine isolierte Minderheit darstellte, zur Exkulpierung der Wehrmacht im Ganzen anzuführen, obwohl selbst diese Gruppe zumindest indirekt in den Rassenvernichtungskrieg verstrickt gewesen ist.

Die weiteren Beiträge von Thomas Sandkühler, Jochen-Christoph Kaiser, Christian Gerlach und Hans-Walter Schmuhl haben nichts von ihrer Aktualität verloren. Sandkühler fasst detailliert den Forschungsstand zur Durchsetzung des Holocaust und der daran primär beteiligten Täter zusammen und warnt davor, Himmler zum "Architekten der Endlösung" zu machen, der doch nur deren "Manager" gewesen sei. Er plädiert dafür, "die mittleren Etagen" der deutschen Militär- und Zivilverwaltungen in Osteuropa näher zu erforschen, um Aufschluss über die Befehlsstruktur zu gewinnen und plädiert für eine Differenzierung der Tätergruppen.

Kaiser greift unter dem Thema "Protestantismus und Krieg" nach einem präzisen Überblick über das Verhältnis von Staat und protestantischen Kirchen das bislang weithin vernachlässigte Thema der protestantischen Feldseelsorge auf, durch welche die Kirchen mehr als in einer Hinsicht in die Verbrechen der Wehrmacht indirekt involviert wurden, wobei nur wenige der Gruppe der Militärseelsorger, aber auch der eingezogenen Geistlichen sich von ihnen distanzierten, sodass sich in der Bilanz eine Aporie der Haltung des Protestantismus zum Krieg ergibt.

Mit seiner Schilderung von "Verbrechen deutscher Fronttruppen in Weißrussland" verlässt Christian Gerlach bekanntes Territorium und konfrontiert den Leser mit den Brutalitäten und Massenverbrechen, die von deutschen kämpfenden Verbänden begangen wurden. Er räumt auf mit der Legende, dass sich die Verbrechen überwiegend in der Etappe abgespielt hätten und die Fronttruppen davon unberührt geblieben wären. Er räumt jedoch ein, dass das Bild durchaus widersprüchlich ist, zumal diese Kategorie der Verbrechen, die sich gegen Zivilbevölkerung und Kriegsgefangene richteten, von den deutschen Justizbehörden nicht geahndet worden sei.

Walter Schmidt macht auf ein bislang übersehenes Kapitel aufmerksam und weist auf die indirekte und direkte Mitverantwortung der Wehrmacht für die Verfolgung und Ermordung der Zigeuner hin, einerseits durch deren fortschreitende Ausscheidung aus dem Wehrdienst, andererseits durch die Einbeziehung der Zigeuner in Repressalien und Geiselerschießungen insbesondere in Serbien, schließlich durch die Billigung und Unterstützung von gegen Sinti und Roma gerichteten Euthanasiemaßnahmen. Am Schluss der materialgesättigten Studie konstatiert Schmuhl, dass die Wehrmacht auch auf diesem Gebiet "die Schwelle zur aktiven Mittäterschaft" überschritten habe.

Alles in allem handelt es sich um eine eindrückliche Schilderung der Einbeziehung der Wehrmacht in die verbrecherische Politik des NS-Regimes, die allgemeine Beachtung verdient.

Hans Mommsen, Feldafing





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