ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Martin Döring, "Parlamentarischer Arm der Bewegung". Die Nationalsozialisten im Reichstag der Weimarer Republik (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Band 130), Droste Verlag, Düsseldorf 2001, 492 S., geb., 98 DM.

Martin Döring nimmt ein Paradoxon zum Ausgangspunkt der leicht überarbeiteten Fassung seiner Dissertation: Da Nationalsozialisten seit 1924 im Reichstag vertreten waren, standen sie im Widerspruch, einerseits "auf parlamentarischer Ebene bestehen zu müssen" (S. 21), welche sie andererseits als "Instrument der Judenbörse und Judenpresse" verwarfen (so Hitler, zit. nach S. 28). Die Leitfrage der Studie lautet insofern, welche Folgen diese nach Auffassung des Autoren unüberbrückbare Kluft zwischen Programmatik und Propaganda auf der einen Seite und den taktischen Erfordernissen parlamentarischer Praxis auf der anderen Seite für die Arbeit der Reichstagsabgeordneten der NSDAP hatte. Die detaillierte zeitgeschichtliche Rekonstruktion des Agierens, Reagierens und Taktierens der Abgeordneten zwischen 1924 und 1933 schärft die Konturen des Widerspruchs: Anders als die nur rudimentär hierzu vorhandene bisherige Forschung reduziert der Verfasser ihre Politik nicht auf bloße, dem Führerwillen unbedingt folgende Obstruktion des Parlaments und damit der Weimarer Demokratie.

Ein einführender erster Teil skizziert den radikalen nationalsozialistischen, von antisemitischer, sozialdarwinistischer und elitistischer Ideologie bestimmten Antiparlamentarismus und den von taktischen Überlegungen geprägten Weg der NSDAP in die Parlamente. Der zentrale zweite Teil widmet sich ausführlich der parlamentarischen Tätigkeit der nationalsozialistischen Reichstagsabgeordneten. Hier ist der klare Aufbau zu begrüßen. Der Zuschnitt der Kapitel ist an den Legislaturperioden orientiert. Es werden jeweils zuerst die spezifischen Bedingungen und übergreifenden Entwicklungen der Parlamentsarbeit in der jeweiligen Periode nachgezeichnet, wie etwa Fraktionsgemeinschaften der Nationalsozialisten, Konflikte unter den Abgeordneten oder die Wahl Hermann Görings zum Reichstagspräsidenten am 30. August 1932. An diese Einführungen schließen sich dann jeweils für die Legislaturperioden kleine Studien zu ausgewählten Politikfeldern an: Außenpolitik, Innenpolitik, Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie Arbeits- und Sozialpolitik.

Martin Döring überwindet zwei Schablonen: Erstens weist seine Studie darauf hin, dass es sich entgegen landläufigen Vorstellungen, bei der NSDAP vor 1933 nicht um eine monolithische Maschinerie zur Eroberung der Macht handelte. Die nationalsozialistischen Reichstagsabgeordneten waren durchaus mit Eigensinn und Eigengewicht ausgestattet, etwa wenn sie unvermindert an ihrem parlamentarischen Kampf gegen die antisemitisch konnotierten "Bank- und Börsenfürsten" fest hielten, obwohl Hitler ab 1930 einen banken- und börsenfreundlicheren Kurs einschlug. Nur schrittweise gewann der "Führer" Kontrolle über die Parlamentarier seiner Partei.

Zweitens gelingt dem Verfasser der Nachweis, dass die Abgeordneten keineswegs durchgängig eine reine und von "Radau" geprägte Verweigerungshaltung gegenüber der parlamentarischen Arbeit an den Tag legten, wenn auch eine solche propagandistisch genutzte Obstruktion, mit Gewalttätigkeiten und Morddrohungen gegen andere Parlamentarier einhergehend, über weite Strecken das Bild prägte. "Dennoch kamen die NSDAP-Vertreter im Reichstag nicht umhin, sich in Einzelfragen immer wieder kooperationswillig und konsensfähig zu zeigen." (S. 457) Auf dem durch die radikale Ablehnung einer "Erfüllungspolitik" gegenüber der Versailler Nachkriegsordnung ideologisch besonders aufgeladenen Gebiet der Außenpolitik herrschte zwar Kompromisslosigkeit vor, die sich erst seit 1930 abschwächte, um die eigene Regierungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. In der Innenpolitik hingegen waren die nationalsozialistischen Abgeordneten sogar zu einer Zusammenarbeit mit der radikalen Linken bereit, da das wesentliche Anliegen auf diesem Politikfeld der Schutz des eigenen Lagers vor staatlichen Zugriffen war. In der Wirtschaftspolitik huldigten die Parlamentarier der NSDAP primär einer mit Klientelpolitik eng verflochtenen Agrarromantik, indem sie sich für Subventionen und Protektionismus für die Landwirtschaft einsetzten. Wirtschaftliche Interessen des alten und neuen Mittelstandes als auch der Arbeiterschaft fielen hingegen kaum ins Gewicht. Zu keinem Zeitpunkt verfolgten sie in ihrer Arbeits- und Sozialpolitik den in der Literatur für die allgemeine NS-Strategie von 1925 bis 1928 vielfach postulierten "urban plan", die großstädtische Arbeiterschaft durch (pseudo-)sozialistische Agitation zu gewinnen. Hier bleibt allerdings zu fragen, ob der nationalsozialistische Kampf gegen die "Herrschaft der Wall Street" nicht auch antikapitalistische Haltungen von Arbeitern zu instrumentalisieren suchte. Im letzten Teil skizziert Döring das Sozialprofil der Abgeordneten, den organisatorischen Apparat, die Kandidatennominierung und den Platz der Reichstagsabgeordneten innerhalb der Parteistrukturen.

Eine Schwäche des Buches liegt darin, dass wichtige und interessante Fragen gerade dort sich zu stellen beginnen, wo das Buch aufhört. Was folgt aus der neuen Sicht auf die Gruppe der nationalsozialistischen Reichstagsabgeordneten und ihre Politik für die Historiographie des Nationalsozialismus? War der Mix aus propagandistischer Obstruktion und pragmatischer Klientelpolitik erfolgreich, sei es in der Öffentlichkeit, sei es bei dem Versuch, die eigene Regierungsfähigkeit bürgerlichen Parteien zu beweisen? Das Verdienst der Monografie überwiegt jedoch. Mit ihr wird erstmals quellenorientiert eine umfassende, nuancenreiche und gut strukturierte Analyse der nationalsozialistischen Politik im Reichstag vorgelegt. Damit wurde nicht allein eine schmerzliche Forschungslücke geschlossen. Die Studie bildet einen wichtigen Baustein für die politische Geschichte der Weimarer Republik und der NS-Bewegung vor ihrem Machtantritt sowie in allgemeinerer Hinsicht für Erkenntnisse über die Herausforderung des Parlamentarismus durch politische Kräfte, die ihn von innen heraus abzuschaffen suchen.

Erik Eichholz, Hamburg





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