ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Dirk Schumann, Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918-1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg (= Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Schriftenreihe A: Darstellungen, Band 17), Klartext Verlag, Essen 2001, 400 S., geb., 78 DM.

Dirk Schumann führt in der überarbeiteten und gekürzten Fassung seiner Bielefelder Habilitationsschrift in gut lesbarer, ja spannender Weise vor, was eine Zeitgeschichtsschreibung zu leisten vermag, die sich quellenorientiert, reflexiv und gendersensibel den neueren kulturalistischen Sicht- und Herangehensweisen in der Historiographie öffnet. Souverän verbindet der Autor die regionale Perspektive auf seinen Untersuchungsraum Sachsen mit der Makroebene der Genese, Ausformung und Eskalation politischer Gewalt nach 1918 und ihrer Bedeutung für die Überlebenschancen und die Zerstörung der Weimarer Republik.

Anhand von einzelnen Verläufen und zeitgenössischen Deutungen gewalttätiger politischer Auseinandersetzungen in Sachsen veranschaulicht, bestimmt der Autor präzise Ursachen, Formen, Ausmaß, Grenzen und Folgen politischer Gewalt in der Republik von Weimar. Sie stellt sich für Dirk Schumann weder als jener Bürgerkrieg in Permanenz dar, wie im populären Geschichtsbild zur ersten deutschen Demokratie vielfach angenommen, noch als unabwendbare Ursache ihres Unterganges. Ohne im Rahmen dieser Rezension näher auf die Repräsentativität der Region Sachsen für die Weimarer Republik eingehen zu können, bleibt fest zu halten: Dirk Schumann legt in seiner stringenten und mit vielfältigen Quellen gestützten Gedankenführung überzeugend dar, dass es sich, abgesehen von den Anfangsjahren der Republik, keineswegs um eine ausufernde Gewalt gehandelt hat, die letztlich von der radikalen Linken ausgegangen sei. Nicht Morde und bürgerkriegsähnliche Kämpfe seien für die politische Gewalt der Weimarer Republik typisch gewesen, so das Resümee. Nach dem Abebben der postrevolutionären gewalttätigen Auseinandersetzungen am Beginn der Republik ereignete sich Gewalt primär in den begrenzten Formen eines vielfach ritualisierten Kampfes um öffentliches Terrain und Symbole: "Sie sollte den Gegner die eigene Stärke spüren lassen, ihm einen 'Denkzettel' verpassen, ihm aber keine schweren oder gar tödlichen Verletzungen beibringen" (S. 365).

Die Straßengewalt nahm ihren Ausgang nicht von einer Brutalisierung durch die individuelle Kriegserfahrung oder von Umsturzillusionen der radikalen Linken, sondern von der Konkurrenz um die Vorherrschaft im öffentlichen Raum, die primär durch die nationalen Wehrverbände, insbesondere dem "Stahlhelm" ausgelöst worden war. Die Wehrverbände versuchten dem Bürgertum die Straße als politischen Aktionsraum zu erschließen, womit sie der Arbeiterbewegung ihr traditionelles Terrain für Mobilisierung und Protest streitig machten. Das klar aggressiv und gegen negativ konnotierte weibliche Eigenschaften definierte Männlichkeitsmodell der Rechten, der Frontsoldat, wurde durch die neue "Straßenpolitik" der Wehrverbände in die politische Kultur hineingetragen. Diese wehrhafte Männlichkeit, zur kameradschaftlichen "Volksgemeinschaft" erweitert, richtete sich gegen die Arbeiterorganisationen und zunehmend gegen die Weimarer Republik. SPD und KPD ahmten den Kult des Männlichen und die damit einhergehende Militarisierung von Politik nach, um dem politischen Gegner das Feld nicht zu überlassen. In der Folge fand Politik immer mehr auf der Straße statt. Durch die Uniformierung stieg die Zahl der Begegnungen zwischen äußerlich erkennbaren Gegnern immer mehr an, sodass die Steigerung der politischen Gewalt, welche mit der Weltwirtschaftskrise und dem Aufstieg des Nationalsozialismus in die politische Kultur und in den Alltag der Weimarer Republik einzog, bereits in ihren relativ ruhigen mittleren Jahren angelegt war.

Die Brisanz der politischen Gewalt in der Weimarer Republik lag, so die These des Autors, weniger in den Schäden für Personen und Sachen selbst, sondern erstens in der Wahrnehmung und Deutung der Ereignisse in der bürgerlichen Öffentlichkeit. Sie sah den Wiederaufstieg Deutschlands nach der Niederlage im Weltkrieg zunehmend durch die als Bürgerkriegsdrohung und Zerstörung der inneren Einheit Deutschlands wahrgenommene linke Straßenpolitik bedroht und setzte zuletzt auf den Nationalsozialismus als Ordnungsfaktor. Zweitens manifestierte sich in der "kleinen Gewalt" des Straßenkampfes und der Saalschlachten die Abwesenheit eines politischen Grundkonsenses und die partielle Aufhebung des staatlichen Gewaltmonopols, sodass sie sich "als dauerhafte Belastung des politischen Prozesses" auswirkte (S. 359).

Die Studie ist nicht zuletzt darum so lesenswert, weil es dem Autor gelingt, die deterministische ex post-Perspektive einer Geschichtsschreibung abzustreifen, die um das Scheitern der Weimarer Republik und um das, was ihr folgte, weiß und daher letztlich die Geschichte einer Totgeburt rekonstruiert. Er hoffe, so Dirk Schumann in seinem Vorwort, dass das Buch "seine Leserinnen und Leser nicht in düsteren Fatalismus versinken lässt, sondern zum Nachdenken über die relative Offenheit historischer Situationen anregt" (S. 9).

Die Studie ist ein wichtiger Beitrag sowohl zur Politik-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Weimarer Republik als auch für übergreifende Perspektiven, wie etwa die gender-history oder die Bedeutung politischer Gewalt und ihrer Folgen in einer Demokratie.

Erik Eichholz, Hamburg





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