ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hans Henning Hahn/Jens Stüben (Hrsg.), Jüdische Autoren Ostmitteleuropas im 20. Jahrhundert (= Mitteleuropa-Osteuropa. Oldenburger Beiträge zur Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas, Band 1), Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main 2000, 546 S., brosch., 128 DM.

Die Verleger legen den ersten Band einer Reihe vor. Die Verfasser der verschiedenen Aufsätze gehören zum großen Teil den verschiedenen Fakultäten der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg an. Trotz der Schwierigkeiten bei einer solchen Anthologie ist es gelungen, eine Einheit in der Vielheit zu erlangen. Um dieses Desiderat zu erreichen, mussten die Herausgeber Maßstäbe setzen, die gewisse Aspekte für die Ausführungen festlegten, darunter auch den Blick auf weit zurückliegende historische Entwicklungen mit ihren historischen Widersprüchen. Der größte Antagonismus ist bedingt durch die Zeit, in der die Moderne auch in das ost-mitteleuropäische Milieu eindrang. Durch diese neuen Einflüsse werden ihre durch Tradition bestimmten Lebensqualitäten langsam von der Moderne durchdrungen. Man kann diese Dichotomie einerseits durch Moses Mendelssohn und andererseits Rabbi Baal Schem Tov personifizieren und vom sozialen Standpunkt kann man die Aufklärung mit ihrem sapere aude und ihrem elitären Anspruch feststellen. Ihr gegenüber lässt sich die volkstümliche Bewegung der Armen finden, deren Eigenschaften sich hauptsächlich im Konkreten, der Begeisterung und dem Enthusiasmus manifestieren. Den Herausgebern ist es gelungen, ein breites Spektrum von Problemen aufzuzeigen, die leider durch die beiden totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts - Hitler-Deutschland und Stalin-Russland - und den Mord an Millionen Juden ihr Ende fanden. Die persönlichen Schicksale der Repräsentanten dieser Auseinandersetzungen sind schrecklich.

Das Ghetto ist in diesen 200 Jahren der exklusive Rahmen dieses jüdischen Lebens und das Stetl dessen kommunale Einheit. Der Soziologe, der diese so stark prägende Einheit auf das Leben der Individuen darstellt, gelangt sogar zu der etwas spekulativen Konsequenz: Michael Walzer und Amitai Etzioni, als prägende Persönlichkeiten der heutigen communitarians in den Vereinigten Staaten, schöpfen ihre Ansichten aus der Vergangenheit ihrer Vorfahren im Shtetl. Zur traditionellen jüdischen Vergangenheit gehört aber auch das Pogrom. Aber über dieses findet sich in dem Bande eine innere Dialektik. Die Polen, die im Jahre 1918 wieder ihre Selbständigkeit erlangten, waren darüber so froh, dass sie als Ausdruck ihrer Freude ein paar Tausend Juden abschlachteten.

In dieser so widersprüchlichen Wirklichkeit, in der Vergangenheit und Gegenwart in ihren diversen Gegensätzen aufeinander prallen, lassen sich vielfältige Antagonismen aufzeigen, die alle diese vielen Spannungen in dieser komplexen Situation manifestieren. Wie werden zum Beispiel die jüdischen Auswanderer aus Galizien in Wien aufgenommen? Ganz unfreundlich. Es ist dies ein Beispiel für alle Emigrationsländer. Die alteingesessenen Juden sehen in den neuen Einwanderern Menschen, die ihre inzwischen etablierten Rechte durch ihre Gegenwart und ihre Ansprüche in Frage stellen könnten. Wien war doch Mitte der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts eine Stadt mit 250.00 Juden, deren Assimilation sich größtenteils in den 50 Jahren vor dem Anschluss vollzog. Wenn auch die Alteingesessenen ihr Renommee durch die Neuen nicht gefährden wollten – das Ende war für alle gleich.

Vielleicht sollte noch der wirklichkeitsfernen Darstellung über die Juden eines Max Scheler und Werner Sombarts gedacht werden, die sich beide bemühten, den Juden Eigenschaften zuzuschreiben, die ihre Verbindung mit den Deutschen nicht ermöglichen konnten. Die Antisemiten jener Zeit führten die kalte Rationalität und den seelenlosen Materialismus auf das Judentum zurück. Von Max Webers These über den Beginn des Kapitalismus wussten diese beiden Denker anscheinend nichts. Aber schließlich war der Antisemitismus nicht nur eine Bewegung der Moderne, wenn er auch in ihr seinen grausamsten Ausdruck fand.

Es wäre angemessen, vielleicht noch einen Widerspruch zu erwähnen, der im letzten Kapitel dieses Sammelbandes seinen Ausdruck fand. Es handelt sich um jenen Antagonismus, den die deutschen und österreichischen Einwanderer nach Palästina seit Mitte der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts verkörperten. Ich würde ihn als die Dialektik zwischen Existenz und Kultur bezeichnen. Um sich ihr Leben zu retten, mussten die Juden Mitteleuropas einen Zufluchtsort finden. Aber gerade an diesem war ihnen alles fremd; die Sprache, die Literatur, die Gewohnheiten und Sitten. Jahrelang war die Sozialisation der deutschsprachigen Juden im Nahen Osten Material für Witze. Aber sie hatten es geschaffen und wurden zu einem wichtigen Faktor im ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Leben im Staate Israel.

Der Band enthält auch viel unbekanntes Material für den heutigen Leser. Deshalb ist das Buch auch Fachleuten sowie den Interessierten des Materials in diesem Band zu empfehlen. In seiner Zusammenstellung und Ausgabe ist er zur Erforschung des mittel- und osteuropäischen Judentums ein gewichtiger Beitrag.

Zwi Batscha, Haifa





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