ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Detlef Brandes/Andrej Savin, Die Sibiriendeutschen im Sowjetstaat 1919–1938, Klartext-Verlag, Essen 2001, 495 S., geb., 48 DM.

Über die Geschichte der deutschen Siedler im russischen Wolgagebiet ist sowohl in russischer als auch in deutscher Sprache schon recht viel publiziert worden. Untersuchungen über die Deutschen in Sibirien waren bisher dagegen seltener. Die vorliegende Monographie eines russischen und eines deutschen Wissenschaftlers wertet außer einer Vielzahl von neu erschlossenen Quellen auch die in den vergangenen Jahren neu erschienene Literatur aus. Sie beschreibt die Geschichte der Deutschen vor allem als eine (politische) Geschichte der ständigen Selbstbehauptung in einem ihnen nicht freundlich gesinnten Staatswesen. Begonnen hat diese Geschichte schon in der Zarenzeit.

Die deutschstämmigen Bauern kamen bereits Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge einer allgemeinen Wanderungsbewegung aus Zentralrussland – vor allem dem unteren Wolgagebiet, dem nördlichen Schwarzmeergebiet und aus Wolhynien – in das weniger dicht besiedelte Land jenseits des Urals. Vor allem nachdem die Stolypinsche Agrarreform den Verkauf kleiner Landanteile erlaubt hatte, suchten Katholiken, Lutheraner, Reformierte, Mennoniten, Baptisten und weitere religiöse Splittergruppen eine neue Zukunft. Missernten und Trockenheiten im Wolgagebiet erleichterten den Entschluss. Wie auch schon in den Herkunftsgebieten war das Bestreben in der neuen Umgebung groß, unter sich zu bleiben. Diese Separierung begünstigte aber auch ein Misstrauen seitens der russischen Behörden gegenüber der nationalen Minderheit. In manchen Kreisen wurden den Deutschen Beschränkungen beim Erwerb von Land auferlegt. Dennoch gelang es den Neusiedlern, allen voran den Mennoniten, die von ihren Glaubensbrüdern unterstützt wurden, auch hier recht wohlhabende Bauernwirtschaften zu errichten. Im Ersten Weltkrieg, der eine Reihe von Sanktionen gegenüber den in Russland lebenden Deutschen auslöste, drohte ihnen eine Enteignung, die durch die Februarrevolution abgewendet wurde. Auch wenn die Deutschen die Oktoberrevolution in ihrer übergroßen Mehrheit nicht begrüßten, so versuchten sie doch in den nachfolgenden Kämpfen zwischen Roten und Weißen eine neutrale Position einzunehmen. Der endgültige Sieg der Bolschewiki in Sibirien 1920 brachte aber eine Reihe von neuen Bedrängnissen. Zunächst waren es die Getreideablieferungen, die mit brutaler Gewalt aus den Bauern herausgepresst wurden. Die Einführung der Naturalsteuer im Jahre 1922 änderte die Situation kaum. Die deutschen Bauern hatten auf Grund der Naturalsteuerkampagne 1921/22 die Saatflächen durchschnittlich um die Hälfte bis um zwei Drittel verringert, sodass die schlechte Ernte des Jahres 1922 in Verbindung mit den auferlegten Abgaben auch in den deutschen Dörfern Sibiriens eine Hungersnot heraufbeschwor. Sie nahm dennoch keine solchen Ausmaße wie in der Wolgaregion an. Wie auch dort engagierten sich in Sibirien ausländische Organisationen, allen voran die American Mennonite Relief, bei der Bekämpfung des Hungers. Die Hilfe bewirkte, dass zumindest innerhalb der deutschen Mennonitengemeinden keine Hungertoten zu beklagen waren.

Von den etwa 75.000 deutschen Bauern in Westsibirien bekannten sich 12.500 im Kreis Omsk und über 14.000 im Kreis Slavgorod zu den Mennoniten (S. 110, gänzlich andere Zahlen jedoch in der Zusammenfassung S. 419). Sie besaßen innerhalb der deutschen Gemeinde einen besonderen Status. Nach einer Welle von Repressionen gegen jede religiöse Vereinigungen änderte die kommunistische Führung im Frühsommer 1923 ihre Politik und gewährte den verschiedenen Glaubensrichtungen eine Phase der Ruhe und Stabilität. In dieser Zeit entstand mit Förderung aus dem Ausland – was nicht unwichtig für die Tolerierung seitens der sowjetischen Regierung war – der Allrussische Mennonitische Landwirtschaftsverband. Auf Beschluss des Sekretariats des Zentralkomitees wurde jedoch seit Oktober 1926 auf die Auflösung des Verbandes gedrungen, was zwei Jahre später schließlich erreicht wurde. Dies war ein Voraussignal für viele Deutsche, unter denen besonders zahlreich die Mennoniten vertreten waren, das Land zu verlassen. Eine Missernte 1929, die Verschärfung der Steuerpflicht, eine neue Kampagne gegen religiöse Vereinigungen und die Verhaftung von Geistlichen, aber auch die sich abzeichnende Kollektivierung, bewirkten eine riesige Ausreisewelle. Von etwa 13.000 Ausreisewilligen, die ihre gesamte Habe verkauft hatten und bis November 1929 nach Moskau gereist waren, konnten aber auf Grund von Aufnahmebeschränkungen seitens Kanadas und Deutschlands weniger als die Hälfte aus der Sowjetunion ausreisen. Die Reaktionen des sowjetischen Staates auf diese Emigrationsbestrebungen, die auch im folgenden Jahr vor allem Mennoniten veranlasste, ihre Felder nicht zu bestellen, waren konträr: einerseits Verhaftung und Verschickung von unliebsamen "Kulaken", andererseits Rücknahme von repressiven Maßnahmen und Lieferung von Nahrungsmitteln und landwirtschaftlichen Ausrüstungen an die besonders betroffenen Gebiete. Aber schon bald bewirkten die Folgen der Kollektivierung und schlechte Wetterverhältnisse einen erneuten Erntenotstand. Diejenigen deutschen Bauern, die während der in weiten Teilen des Landes herrschenden Hungersnot 1933 Hilfe aus Deutschland (Aktion "Brüder in Not") erhielten, mussten in der Zeit des Großen Terrors oft dafür mit Verhaftung büßen wie auch diejenigen, die Ende der Zwanzigerjahre die UdSSR verlassen wollten. Die Entwicklung der Gemeinden in den Zwanzigerjahren und die Auswanderungsbewegung am Ende dieses Jahrzehnts sind ein Schwerpunkt des Buches. Die Jahre nach 1934 – ein altes Forschungsdesiderat – werden nur kursorisch gestreift.

Eigene Kapitel, die jedoch auch die Zeit der Zwanzigerjahre behandeln, sind dem deutschen Schulwesen und dem Einfluss und Wirken der Partei und deutscher Kommunisten – meist in der Sowjetunion verbliebene Kriegsgefangene des Ersten Weltkriegs, die sich in den deutschen Sektionen der KPdSU engagierten – gewidmet. Die Zusammenfassung am Schluss ist angesichts der extensiven Verwendung von Daten, Zahlen und anderen Details aus den Quellen sehr hilfreich. Quellen- und Literaturverzeichnis, ein ausführliches Personenregister sowie Orts- und Sachregister runden diesen Band ab, der als ein gelungenes Joint-Venture-Unternehmen zwischen einem deutschen etablierten Hochschullehrer und einem jungen russischen Wissenschaftler bezeichnet werden kann.

Carola Tischler, Berlin





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