ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Volker Ullrich, Der ruhelose Rebell. Karl Plättner 1893-1945. Eine Biographie, C. H. Beck Verlag, München 2000, 266 S., geb., 21,50 EUR.

Die Biographiegeschichte geht schon seit Jahrzehnten neue Wege. Neben den klassischen Biographien über große Staatsmänner und "edle Fürsten", neben wichtigen Wirtschaftsunternehmern oder Künstlern, neben Studien über "Frauen an deren Seite" oder Frauen "die Weltgeschichte" machten, neben Biographien, die Familiengeschichten erzählen oder typisch für Gruppen oder Alterskohorten sind, gewinnen mehr und mehr auch Personen an Interesse, die nicht im klassischen Sinne "geschichtsmächtig" gewirkt haben. Unbequeme Außenseiter, "Querulanten", Nonkonformisten oder Weltverbesserer, die bislang in der Forschung eher unterrepräsentiert waren oder aber wegen ihres extremen Lebens entweder unkritisch verehrt oder aber demonstrativ verachtet wurden, sind daher gefragt. Mit einigen Abstrichen kann man die neue Biographie von Volker Ullrich über den "Anarchisten", politischen Agitator, Bandenführer, Schriftsteller, Zuchthaus- und Konzentrationslagerinsassen und schließlich auch zeitweiligen bürgerlichen Kleinunternehmer Karl Plättner in diese Kategorie einreihen.

Plättner, 1893 in Opperode im Herzogtum Anhalt geboren und 1945 nach einem Martyrium in verschiedenen Konzentrationslagern an den Folgen von Auszehrung und Misshandlungen verstorben, wird von Ullrich in die Kategorie der "Sozialrebellen" eingeordnet, also derjenigen politischen Opponenten, die sich vor allem in Agrargesellschaften, aber auch noch in hochentwickelten Industriegesellschaften, gegen die bestehende Ordnung und das kapitalistische System mit Gewalt auflehnten. Zugleich handelt es sich hier um ein sehr persönliches Buch des Verfassers, der sich seit über vierzig Jahren mit der Person Plättners auseinandergesetzt und seine Recherchen und Überlegungen nun in dieser knappen Biographie zusammengefasst hat. Die Person Plättners, zweifellos mit Sympathie aber durchaus mit kritischem Blick gesehen und immer wieder in einem bewunderungswürdigen flüssigen und gut lesbaren Stil skizziert, steht zwar im Mittelpunkt der Schilderung, zugleich aber erfahren wir – wenn auch sehr knapp – viel über die deutschen Geschichte der letzten hundert Jahre, immer wieder gebrochen durch die Perspektive eines Außenseiters. Diese Verbindung vom Individuellen und Allgemeinen ist eine besondere Stärke der Biographie. Man merkt in jedem Abschnitt, dass wir es mit einem Kenner der deutschen Geschichte zu tun haben, dem es manchmal in nur ein oder zwei Sätzen gelingt, wesentliche allgemeine Dinge auf den Punkt zu bringen und doch auch die individuelle Perspektive Plättners angemessen mit zu veranschaulichen.

Nach Ullrichs Interpretation handelt es sich bei Plättner nicht allein um einen "edlen Räuber", aber auch nicht nur um einen lächerlichen Radikalen, der geradezu krankhaft – im Laufe der Zeit zunehmend – an Realitätsverlust bis hin zu massiven psychischen Störungen litt. Für Ullrich ist Plättner auch keineswegs nur ein ideenloser Aktivist, er ist aber auch nicht das genaue Gegenteil, nur ein pseudoideologisierter Wichtigtuer. Bei Ullrich erscheint Plättner eher als ein von sich selbst und den Umständen "Getriebener", der erhebliche Probleme damit hatte, "Autoritäten anzuerkennen, der Disziplin hasste und sich nur schwer ein- und schon gar nicht unterordnen konnte". Wo er wirkte – so führt Ullrich selber aus – stiftete er nur "Unruhe und Verwirrung" (S. 11). Dieser psychologische Aspekt der Biographie Plättners ist eines der tragenden Elemente der Studie, auch wenn er nicht besonders hervorgehoben oder aufwendig theoretisch abgeleitet wird. Das ist übrigens eines der wichtigen Merkmale dieses Buches: Theoretische Exkurse haben dort praktisch keinen Raum.

Für Plättners Leben und seine Entwicklung ist vor allem das Element einer allmählichen, aber konsequenten Radikalisierung von Bedeutung. Schon mit 15 Jahren machte er wegen "öffentlicher Beleidigung" seine erste Bekanntschaft mit Polizei und Justiz, lernte auf diese Weise die wilhelminische Obrigkeit von einer Seite kennen, die sein weiteres Leben prägen sollte. In seiner Heimat Thale lernte er als Former im dortigen Eisenhüttenwerk, ging dann 1910 auf Wanderschaft – altem Handwerkerbrauch folgend. Ab 1912 setzte sich der 19 jährige dann in Hamburg fest. Hier versuchte er, sich in die Organisationen der Arbeiterschaft einzubinden. Die machtvollen Demonstrationen gegen den ausbrechenden Krieg – und ihre praktische Wirkungslosigkeit für die Politik der SPD – trugen dann ein erstes Mal zu seiner politischen Radikalisierung und zum Bruch mit der Sozialdemokratie bei, eine Radikalisierung, die durch die Erlebnisse im Krieg und die dort erlittenen Verletzungen (Plättner wurde wegen dreier steifer Finger zum Invaliden) noch verstärkt wurde. Sehr rasch folgte mit der weiteren politischen Arbeit ein Abtauchen in die Illegalität, die schließlich im Gefängnis endete.

Nach der Freilassung in der Revolution wirkte Plättner am äußersten linken Flügel des Parteienspektrums, erst in der KP und dann schließlich in der radikalen KAPD (Kommunistische Arbeiter-Partei Deutschlands). Er wurde vor allem als radikaler Führer in Bremens Räterepublik tätig, der bei der Erschießung von (bürgerlichen und sozialdemokratischen) Geiseln kaum Skrupel besaß. Nach dem Scheitern des Bremer Räteexperimentes befand er sich dann fast nur noch "auf der Flucht". Eine geradezu konsequente Folge der (mit)bedingten weiteren Radikalisierung war, dass Plättner – nach dem Zwischenspiel vom März 1921 – dann zum mitteldeutschen Bandenführer avancierte, um auf diese Weise sein Ziel, die "individuelle Expropriation der Expropriateure" mit Gewalt zu verwirklichen. Den Höhepunkt seiner Aktivitäten stellte schließlich die Verwirklichung der "Propaganda der Tat" durch die "Enteignungsaktionen" (d. h. spektakuläre Raubüberfälle) seiner Bande dar, die ihn nicht nur aus allen parteipolitischen Bindungen herauslöste, sondern auch zu einem reichsbekannten und -gesuchten "Verbrecher" machte, der seine Tätigkeit schließlich mit einer langjährigen Zuchthausstrafe bezahlen musste. Plättner zeigt sich damit als ein Mann, der geradezu beispielhaft für eine politische Radikalisierung stehen kann, der den militanten und aktivistischen Teil der deutschen Arbeiterbewegung zwischen 1914 bis 1923 prägte und an dem deutlich wird, wie stark der Wunsch dieser Vertreter revolutionärer Theorien, in Deutschland möge eine revolutionäre Situation bestehen, über die Analyse der Tatsachen obsiegte.

Lange Jahre hinter Zuchthausmauern, mit zunehmenden Demütigungen, mit zunehmendem Realitätsverlust, aber auch verbunden mit dem allmählichen Aufgeben seines alten Rebellentrotzes, prägten das weitere Leben Plättners. Nach seiner Entlassung und einem kurzen Zwischenspiel, im nationalsozialistischen Deutschland ein unpolitisches kleinbürgerliches Leben zu führen, holte ihn seine Vergangenheit schließlich doch wieder ein. Nach mehreren "Vorstufen" wurde er mit Beginn des Zweiten Weltkrieges endgültig ins Konzentrationslager verschleppt. Seine Befreiung überlebte er nur um wenige Wochen.

Dieses alles ist Stoff genug für eine Biographie. Über die Schilderung dieses ereignisreichen Lebens hinaus gelingt es Ullrich jedoch zusätzlich, wichtige weitere Aspekte aus dem Leben Plättners einzufangen. Dazu gehören etwa sein Leiden im Zuchthaus, das ihn an den Rand des Wahnsinns brachte und Ullrich zugleich Gelegenheit gibt, über politische Prozesse und das Zuchthaussystem in der Weimarer Republik im allgemeinen zu reflektieren. Auch seine Leistung als Schriftsteller, der mit seinem Buch "Eros im Zuchthaus" nicht nur Tabus brach, sondern im hohen Maße aufklärerisch wirkte, kommt bei Ullrich nicht zu kurz und wird intensiv analysiert. Von besonderer Bedeutung aber ist, dass Ullrich seinem "Helden" gegenüber immer kritisch bleibt, sich vor allem auch mit dem Problem der Berechtigung der Anwendung von Gewalt auseinandersetzt und die Gewalttaten Plättners, der die Realitäten nicht immer genau sah und diejenigen befreien wollte, die in der Weimarer Republik gar nicht befreit werden wollten, nicht romantisierend gut heißt.

Insgesamt hat Volker Ullrich mit seiner Biographie ein breites Spektrum abgedeckt und eine verschüttete Linie deutscher Geschichte am Beispiel Karl Plättners sehr plastisch in Erinnerung gerufen. Dass bei einem solchen Unterfangen der eine oder andere Gesichtspunkt ein wenig unterbelichtet bleibt, ist daher verzeihlich. Gern hätte man beispielsweise etwas mehr über die Rolle der Frauen im Leben Plättners erfahren oder hätte noch mehr über seine psychische Labilität und deren Bedeutung für das Handeln Plättners gewusst. Zudem rafft – trotz aller Disziplin – den Autor hin und wieder seine Fachkenntnis dahin, etwa wenn er in die "Hamburger Szene" einsteigt, in der er ein absoluter Fachmann ist. Dann geht manchmal der Zug der Arbeit verloren, überwiegen Einzelheiten das Ganze. Schließlich ist auch noch die eine oder andere Ungenauigkeit zu monieren. Erich Koch-Weser etwa gehörte selbstverständlich nicht dem Zentrum an (S. 185). Das alles aber trübt den positiven Eindruck nicht. Mit der Biographie von Karl Plättner ist Ullrich erneut ein hervorragendes Buch gelungen.

Karl Heinrich Pohl, Kiel





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