ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ralf Pröve, Stadtgemeindlicher Republikanismus und die "Macht des Volkes". Civile Ordnungsformationen und kommunale Leitbilder politischer Partizipation in den deutschen Staaten vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Band 159), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000, 580 S., geb., 116 DM.

Die Fragen nach dem Verhältnis von Militär und Gesellschaft sind in den letzten Jahren immer stärker in das Zentrum des Forschungsinteresses gerückt. Ralf Pröve, der schon bisher durch zahlreiche Beiträge an der Entwicklung einer modernen, sich den Fragen der Sozial- und Kulturgeschichte öffnenden Militärgeschichte mitgewirkt hat, bereichert nun mit seiner von der Berliner Humboldt-Universität als Habilitationsschrift angenommenen Arbeit über die zivilen Ordnungsformationen die Gesamtdebatte um einen weiteren gewichtigen Beitrag. Zwar hat die Forschung der letzten Jahre im Zuge der Arbeiten zur Revolution von 1848/49 und der Neuansätze im Bereich der Stadtgeschichte des 19. Jahrhunderts den zivilen Ordnungsformationen durchaus mehr Beachtung geschenkt als zuvor. Dennoch fehlte bislang eine grundlegende Untersuchung der leitenden politischen und sozialen Ideen, ihrer praktischen Umsetzung und ihres Scheitern. Das große Verdienst der von Pröve vorgelegten Untersuchung besteht darin, dass hier erstmals überzeugend herausgearbeitet wird, welche Bedeutung die eng mit den Auseinandersetzungen um neue kommunale Leitbilder und politische Partizipation verknüpften zivilen Ordnungsformationen für die gesellschaftliche und politische Entwicklung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besaßen.

Dabei beschränkt sich der Verfasser nicht auf jene revolutionären Situationen von 1830 oder 1848/49, in denen Bürgerwehren einerseits als Sicherungsorgane gegen besitzgefährdende Übergriffe der ärmeren Bevölkerung und andererseits auch als machtpolitisches Instrument des Bürgertums gegen die Repression des Obrigkeitsstaates dienen sollten und vorübergehend große Beachtung fanden. Pröve ordnet die Debatte vielmehr in den umfassenden gesellschaftlichen und politischen Wandel der so genannten Sattelzeit zwischen 1750 und 1850 ein. Die gesellschaftlichen Veränderungen und neuen Partizipationsforderungen einerseits und die noch bestehenden sicherheitspolitischen Schwächen des Staates andererseits ließen zivile, auf der kommunalen Selbstverwaltung basierende Ordnungsformationen zu einem zentralen Leitmotiv dieser Phase werden.

In Auseinandersetzung mit der neueren Forschung zum Umbruch um 1800 und insbesondere mit dem viel diskutierten Fortwirken kommunal-republikanischer Traditionen umreißt der Verfasser im ersten Teil der Untersuchung zunächst die Rahmenbedingungen und Voraussetzungen der neuen Debatten über Volksbewaffnung. Pröve zeigt, wie die allmähliche Auflösung der ständischen Ordnung und die Formierung einer neuen bürgerlichen Gesellschaft gerade in den städtischen Gesellschaften ein erhöhtes Orientierungsbedürfnis hervorrief. Vor allem aber beschreibt er außerordentlich anschaulich, in welch engem Zusammenhang die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert spürbare Wiederbelebung kommunal-republikanischer Traditionen und die neuen Ideen von Volksbewaffnung standen. Mit der wachsenden Debatte über wahren Bürgersinn, Gemeingeist und kommunale Selbstverwaltung wurde die Parole der Volksbewaffnung zu einem Kernthema der zeitgenössischen Öffentlichkeit. Pröve hat in diesem Zusammenhang nicht nur den Patriotismusdiskurs des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wegweisende Schriften von Liberalen wie Rotteck, Lexika, Gesetze und Verordnungen herangezogen, sondern wertet auch Karikaturen und Lustspiele aus, in denen das Spießbürger- und Philisterhafte der zivilen Ordnungsformationen thematisiert wird.

Im zweiten Teil der Arbeit untersucht Pröve anhand mehrerer Fallbeispiele aus deutschen Staaten, wie sich die zivilen Ordnungsformationen zwischen 1806 und der Revolution von 1848/49 in der Praxis entwickelten. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass er sich auf die in der stadtgeschichtlichen Literatur lange vernachlässigten kleinen und mittleren Städte konzentriert. Zunächst geht es um die Städte der preußischen Provinz Brandenburg, wo im Zuge der französischen Besatzung erste zivile Ordnungsformationen entstanden waren, deren weitere Entwicklung sowohl durch die Städteordnung von 1808 als auch durch die preußischen Militärreformen beeinflusst wurde und die trotz ihrer Wieder-auflösung den späteren Diskussionen wichtige Impulse gaben. In einem zweiten Schritt werden die kurhessischen Bürgergarden der Dreißiger- und Vierzigerjahre analysiert, die im Zuge der Unruhen von 1830 entstanden waren, 1832 mit großen Hoffnungen der Liberalen auf feste rechtliche Grundlagen gestellt wurden, dann aber bald durch die heftigen Verfassungskämpfe wieder an Bedeutung verloren. Im ausführlichsten Abschnitt befasst sich Pröve schließlich mit den Entwicklungen während der Revolution von 1848/49, wobei neben den preußischen und kurhessischen nun auch mecklenburgische (Mecklenburg-Schwerin) und thüringische Fallbeispiele (Schwarzburg-Rudolstadt) behandelt werden. Fragen der Bewaff-nung und Bekleidung, der Kosten, der militärischen Ausbildung sowie der innerstädtischen Aufgaben kommen in Pröves wegweisender Analyse ebenso ausführlich zur Sprache wie die soziale Zusammensetzung und innere Ordnung der Formationen oder ihr Verhältnis zum staatlichen Militär, das sich gerade im Gefolge der Revolution von 1848/49 sehr konflikt-trächtig gestaltete. Die Revolution von 1848/49 bildete im Übrigen den Höhe- und Wendepunkt in der Geschichte der zivilen Ordnungsformationen. Die Volksbewaffnung gehörte zu den Kernforderungen der Revolution, und die Bürgerwehren erlebten im Frühjahr 1848 einen gewaltigen Aufschwung. Die seit Sommer 1848 einsetzenden Spaltungsprozesse, die mit den unterschiedlichen Positionen des Bürgertums gegenüber der sozialen Frage und politischen Ordnungsmodellen verbunden waren und die besonders in den größeren Städten hervortraten, schwächten allerdings die Macht der zivilen Ordnungsformationen und ihr öffentliches Ansehen. Mit der Niederlage der Revolution war in Deutschland auch das Ende des Volksbewaffnungsgedankens eingeleitet. Die Hoffnungen auf eine von kommunalen Ordnungsformationen getragene Nationalmiliz und damit eine starke bürgerliche Position im Militär erfüllten sich nicht.

Trotz des Scheiterns dieser Vorstellungen haben die Debatten über die Volksbewaffnung und das zeitweilige Experiment der zivilen Ordnungsformationen, wie Pröve an vielen Beispielen sehr überzeugend nachweisen kann, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts maßgeblich auf die Entwicklungsprozesse der bürgerlichen Gesellschaft eingewirkt. Sie beeinflussten Programmatik und Praxis der frühliberalen Politik. Sie trugen in mehrfacher Hinsicht zur Formierung und Politisierung der neuen bürgerlichen Gesellschaft bei. Zum einen dominierten in den Führungszirkeln zwar die lokalen Honoratioren, aber zugleich zeichneten sich die zivilen Ordnungsformationen durch eine behutsame soziale Öffnung aus, die auch Angehörigen unterbürgerlichen Schichten den Zugang ermöglichte. Zum anderen trugen ein vergleichsweise radikal-demokratischer Wahlmodus, die regelmäßigen Versammlungen und Diskussionen innerhalb der Ordnungsformationen zur Fundamentalpolitisierung breiter Schichten bei. Bürgerwehren und Bürgergarden erwiesen sich als Pflanzschulen städtischen Selbstbehauptungswillens und als Übungsfeld stadtrepublikanischer Ideen. Sie förderten damit gerade in den kleinen Städten die Zielvorstellung von der gerechten Stadtgemeinde und einer klassenlosen Bürgergesellschaft.

Pröve korrigiert in diesem Zusammenhang zu Recht das Bild eines gesellschaftlich, ökonomisch und mental verknöcherten Stadtbürgertums, wie es manche Zeitgenossen und spätere Historiker gezeichnet haben. Er sieht vielmehr in den Auseinandersetzungen um die zivilen Ordnungsformationen auch bei den so genannten kleinbürgerlichen Schichten ein beträchtliches Maß an Flexibilität und Veränderungsbereitschaft hervortreten. Allerdings kam dies nicht nur aus den alten Stadtbürgergesellschaften selbst. Entsprechende neue Prozesse wurden vielfach erst dadurch in Gang gesetzt, dass die staatliche Reformbürokratie oder neue bürgerliche Schichten das Stadtbürgertum mit neuen Herausforderungen konfrontierten.

Festzuhalten bleibt, dass Ralf Pröve eine vom Ansatz wie von den Ergebnissen überzeugende, zugleich gut lesbare Pionierstudie zu den zivilen Ordnungsformationen vorgelegt hat, die zugleich ein wichtiger Baustein der neueren Stadtgeschichte ist und die Diskussionen über Programmatik, soziale Basis und politische Kultur des deutschen Frühliberalismus befruchten wird.

Hans-Werner Hahn, Jena





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