ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Daniela Taschler, Vor neuen Herausforderungen. Die außen- und deutschlandpolitische Debatte in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion während der Großen Koalition (1966-1969), Droste Verlag, Düsseldorf 2001, 421 S. geb., 98 DM.

Galten die Sechzigerjahre lange Zeit als ein Jahrzehnt des politischen Übergangs zwischen der Kanzlerdemokratie Adenauers und der sozialliberalen Ära, also als eine Zeitspanne, in der auf die glücklose Regierung Erhard die "vergessene Regierung" der Großen Koalition folgte, so setzt die neuere zeithistorische Forschung die Akzente anders. Nun wird dieses Jahrzehnt, in dem vier Bundeskanzler amtierten und es schließlich zu einem Machtwechsel in Bonn kam, als Jahrzehnt des tief greifenden Umbruchs in Gesellschaft, Politik und Kultur charakterisiert und mit dem Etikett "dynamische Zeiten" geschmückt. Diese veränderte Sichtweise ist sicherlich gerechtfertigt, auch wenn unter den Historikern nach wie vor große Unsicherheit darüber besteht, welche besonders markanten Signaturen in diesem "Scharnierjahrzehnt" hervorzuheben sind. Dies gilt namentlich für das Feld der Deutschland- und Außenpolitik, auf das sich die in Frankfurt bei Marie-Luise Recker entstandene Dissertation konzentriert.

Die Studie rückt mit der Bundestagsfraktion der CDU/CSU einen kollektiven Akteur in das Blickfeld, der in den bislang vorliegenden Darstellungen zur Außenpolitik der Großen Koalition allenfalls am Rande auftaucht und zumeist im Schatten des Kanzlers und seines Kabinetts bleibt. Da während der gemeinsamen Regierungszeit der Unionsparteien und der Sozialdemokratie die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers schwächer war als jemals vorher und nachher – Kiesinger bezeichnete sich selbst einmal als einen "wandelnden Vermittlungsausschuss" –, ist dieser Forschungsansatz, der die "Innenpolitik der Außenpolitik" (S.15) in das Zentrum rückt, sehr plausibel. Die Autorin kann nämlich überzeugend verdeutlichen, dass zwischen 1966 und 1969 die außenpolitischen Entscheidungsprozesse vom Bundeskanzleramt und vom Auswärtigen Amt weder allein noch gemeinsam gesteuert werden konnten, zumal Kanzler Kiesinger und Außenminister Brandt häufiger als Rivalen und seltener als Partner agierten. Ihre Analyse macht ferner deutlich, dass neben Herbert Wehner, dem sozialdemokratischen "Gründungsvater" der Koalition, auch die beiden sehr selbstbewussten Fraktionsvorsitzenden der annähernd gleich starken Koalitionspartner Rainer Barzel und Helmut Schmidt stets ein Wort in der Außenpolitik mitzureden versuchten, und die Verfasserin arbeitet auf der Basis einer Fülle von ungedruckten Quellen aus dem Archiv für Christlich-Demokratische Politik in St. Augustin fassettenreich heraus, wie kontrovers die außenpolitischen Grundsatzdiskussionen in der CDU/CSU-Fraktion in den Jahren von Dezember 1966 bis September 1969 verliefen.

Die chronologisch und systematisch strukturierten Kernkapitel der Arbeit beleuchten jeweils das gesamte Spektrum der bundesrepublikanischen Außenpolitik von den deutsch-französischen über die deutsch-amerikanischen Beziehungen bis hin zur Ost- und Deutschlandpolitik, mit der beide Koalitionspartner neue Akzente im bundesrepublikanischen Verhältnis zur Sowjetunion und zur DDR setzen wollten. In vielen Einzelschritten ihrer Analyse macht die Verfasserin anschaulich, dass die Aufbruchstimmung, mit der CDU/CSU und SPD im Dezember 1966 die gemeinsame Regierungsarbeit begonnen hatten, im Koalitionsallltag ab Sommer 1967 zunächst einer wachsenden Nüchternheit Platz machen musste, bevor nach einem Jahr bereits erste Risse im Koalitionsgefüge auftauchten. Spätestens im Jahr 1968 begann die Zeit der Entfremdung, deren frostigeres Koalitionsklima auch im Küchenkabinett des Kressbronner Kreises nur noch selten gemildert werden konnte. Nach der Zerschlagung des Prager Reformkommunismus durch die Panzer des Warschauer Paktes waren die Lageeinschätzungen zwischen SPD und CDU/CSU nicht mehr auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen; beide Parteien schlugen fortan unterschiedliche Geschwindigkeiten in der Entspannungs- und Ostpolitik ein.

Innerhalb der Unionsfraktion stieß Kanzler Kiesinger, der im November 1966 aus Stuttgart als Nothelfer nach Bonn geholt worden war, auf wachsenden Widerstand gegen seinen Kurs der außen- und deutschlandpolitischen Neuansätze. Zunächst hallten noch die Flügelkämpfe zwischen "Atlantikern" und "Gaullisten" in der Union nach, bevor sie dann von anderen Konflikten überlagert wurden, die sich auch aus den wachsenden Differenzen zur SPD speisten. Die Bandbreite der Meinungsverschiedenheiten zwischen den Koalitionsparteien reichte von der Europapolitik bis zum Problem der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Man stritt über die Sinnhaftigkeit der Hallstein-Doktrin und des auf ihr basierenden Alleinvertretungsanspruches der Bundesrepublik; man war sich uneinig über konkrete Schritte in der Ost- und Deutschlandpolitik und man konnte sich nicht auf eine gemeinsame Haltung zum Atomwaffensperrvertrag verständigen, mit dem Washington und Moskau die Verbreitung von Vernichtungswaffen blockieren wollten. Vor diesem koalitionspolitischen Hintergrund entfalteten sich in der Unionsfraktion immer wieder Binnenkonflikte zwischen den verschiedenen Flügeln und Denkschulen, wobei die Kritiker Kiesingers durchaus aus unterschiedlichen Richtungen kamen, aber in ihrem Widerstand gegen den Kanzler dessen politische Reputation in den Unionsparteien häufiger gemeinsam schwächten. Die sorgfältige Nachzeichnung dieser zermürbenden Reibereien zwischen Kiesinger und seinen innerparteilichen Widersachern ist ein Höhepunkt der Darstellung Die parteiinternen Rivalen des Kanzlers, die sich um den ehemaligen Außenminister Schröder oder um den CSU-Führer Strauß sammelten und weder vom Fraktionsvorsitzenden Barzel gezähmt noch im so genannten "Elferrat" der Parteigranden diszipliniert werden konnten, rücken in das Zentrum der Darstellung.

Diese Einblicke in das Bonner Binnenleben der Unionsfraktion machen deutlich, dass Kiesinger als Kanzler bei weitem nicht die innerparteiliche Autorität besaß wie zuvor Adenauer. Sie zeigen aber auch, dass sich die CDU/CSU in den späten Sechzigerjahren keineswegs einer Politik der deutschland- und außenpolitischen Neuorientierung verschrieben hatte, wie manche Historiker behauptet haben. Vielmehr lastete auf den Unionsparteien noch das Erbe der Adenauerzeit, wenn es um die strikte Wahrung von Rechtspositionen bei Grenzfragen, um die Verteidigung des Alleinvertretungsanspruches der Bundesrepublik gegen die DDR oder um die Blockade von entspannungspolitischen Zugeständnissen auf der internationalen Bühne wie beispielsweise dem Atomsperrvertrag ging. Der "Aufbruch zu neuen Ufern" und der Durchbruch zu "dynamischen Zeiten" war – wie diese Dissertation sehr anschaulich und präzise herausarbeitet – auch in den späten Sechzigerjahren noch keineswegs ein gemeinsames Projekt aller politischen Parteien, selbst wenn die Große Koalition auf vielen Politikfeldern innovative Akzente setzte.

Klaus Schönhoven, Mannheim





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