ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Christoph Nonn, Die Ruhrbergbaukrise. Entindustrialisierung und Politik 1958-1969 (=Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Band 149), Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2001, 390 S. kart., 88 DM.

Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und Helmut Schmidt – sie alle sahen in der Bewältigung der Krise des Ruhrbergbaus das "innenpolitische Problem No. 1" der Bundesrepublik der sechziger Jahre. Christoph Nonns Kölner Habilitationsschrift sorgt nunmehr dafür, dass diese zeitgenössische These von der zentralen Bedeutung der Ruhrbergbaukrise auch in der historischen Forschung angemessen reflektiert wird. Sie bietet dabei einen wichtigen Baustein für die Historisierung der sechziger Jahre, eröffnet interessante Perspektiven auf die Entstehung nachindustrieller politischer Strukturen in der Bundesrepublik und illustriert mit ihren Stärken wie mit ihren Schwächen das enorme Potential, aber auch die noch bestehenden Defizite einer empirisch gesättigten Erforschung dieses wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Umbruchs.

In Abgrenzung zu den bereits vorliegenden wirtschaftshistorischen Arbeiten zum Thema [Vor allem zu nennen ist Werner Abelshauser, Der Ruhrkohlenbergbau seit 1945. Wiederaufbau, Krise, Anpassung, München 1984.] und zu einer bis dato ungeschriebenen Geschichte des sozialen Strukturwandels im Ruhrgebiet zielt Nonns Untersuchung auf eine Rekonstruktion der politischen Bewältigung der Entindustrialisierung an Ruhr. Ausgehend von einem aus der politischen Soziologie entlehnten, auf kollektive Akteure bezogenen Netzwerkbegriff will Nonn "die Qualität jener grundlegenden Muster von Kooperation und Konflikt, die sich mit der Bergbaukrise verbanden, in ihrer historischen Genese" herausarbeiten (S. 18), im Gegenzug aber auch erklären, "wie gesellschaftliche Muster von Konflikt und Kooperation der regionalen und nationalen politischen Kultur von dem Entindustrialisierungsprozess an der Ruhr beeinflusst wurden" (S. 16 f.).

Dabei setzt er zum einen voraus, dass Entindustrialisierung generell neue Konfliktlagen hervorbringt, die mit auf industrielle Gesellschaften zugeschnittenen Kategorien – insbesondere der Kategorie des Klassengegensatzes – nur noch unzureichend beschrieben sind. Er verbindet daher mit seinem Netzwerkbegriff eine gegenüber den bisherigen Arbeiten von Lauschke [Karl Lauschke, Schwarze Fahnen an der Ruhr. Die Politik der IG Bergbau und Energie während der Kohlenkrise 1958-1968, Marburg 1984.] und Abelshauser [Siehe Fußnote 1.] , denen eine auf korporatismustheoretischen Ansätzen beruhende Konzentration auf das "eiserne Dreieck" von Staat, Gewerkschaften und Unternehmern zugrunde liegt, wesentlich weitere Perspektive "auf Beziehungsmuster zwischen kollektiven Akteuren – Parteien, Verbände, deren verschiedene Unterorganisationen und Funktionsebenen, aber auch nichtorganisierte Interessengruppen" (S. 18). Mit dieser prinzipiellen Offenheit gegenüber einer Vielzahl von Akteuren, potentiellen Konflikten und Koalitionen einher geht eine entsprechend breite Quellenbasis, die neben Akten der Bundesregierung und der nordrhein-westfälischen Landesregierung und Dokumenten aus den Verbandsarchiven von Unternehmern und Gewerkschaften auch Akten der politischen Parteien, insbesondere von CDU und SPD, und von deren regionalen Untergliederungen umfasst (S. 20).

Zum anderen sieht Nonn im Niedergang des Ruhrbergbaus den prototypischen Fall der Entindustrialisierung in der Bundesrepublik. Er betrachtet daher die dort wurzelnden politischen Muster als maßgeblich auch für die sich dem historischen Zugriff noch entziehenden späteren Entindustrialisierungsprozesse der siebziger Jahre. Gleichzeitig rückt er mit seiner Konzentration auf politische Konflikte den Zeitraum der akuten Krise in den Mittelpunkt der Untersuchung, die so auf die reichlich zehn Jahre vom Beginn der Schrumpfung des Bergbaus 1958 bis zur Gründung der Ruhrkohle AG beschränkt ist. Nonn bestreitet zwar nicht, dass der eigentliche Prozess der Entindustrialisierung an der Ruhr in einer längerfristigen Perspektive zu betrachten ist; für die im Zentrum seiner Arbeit stehende Herausbildung nachindustrieller Konfliktlagen sieht er aber den Zeitraum der Krise als maßgeblich an.

Auf dieser methodisch durchdachten und empirisch breiten Basis gelingt Nonn eine lesenswerte und gut geschriebene Rekonstruktion der Politik der Entindustrialisierung an der Ruhr. Einer einleitenden Skizze der Vorbedingungen der Krise, die vor allem die Bedeutung politischer Faktoren wie der Liberalisierung der westdeutschen Energiemärkte 1955/56 für den Verlauf der 1958 einsetzenden Krise hervorhebt, folgt in Kapitel 2 eine plausible Darlegung der Entwicklung der industriellen Beziehungen an der Ruhr bis etwa 1961/62, die Nonn als Übergang vom "Klassengegensatz" zum "Branchenindividualismus" charakterisiert. Angesichts der mangelnden Rentabilität des Ruhrkohlenbergbaus, so seine These, habe die Bedeutung brancheninterner Verteilungskonflikte rapide abgenommen: Gewerkschaften und Unternehmer hätten sich zum beiderseitigen Vorteil auf eine enge Zusammenarbeit mit dem Ziel einer Umverteilung von der Gesamtwirtschaft hin zum Bergbau geeinigt - und zwar, wie in Kapitel 3 überzeugend herausgearbeitet wird, unter bewusster Ausnutzung der Tatsache, dass die Bonner Politik in der Ruhr einen Krisenherd zu erkennen glaubte, den es notfalls mit der Finanzspritze in der Hand ruhigzustellen galt. Insbesondere erstaunt dabei der gelungene Nachweis, dass der so gefürchtete "Radikalismus" der IG Bergbau und ihrer Anhänger weitgehend taktischer Natur war und die Unternehmer dieses Spiel gerne mitspielten.

Die von der Bundesregierung auf den inszenierten "Druck von der Straße" hin ins Auge gefassten Maßnahmen zugunsten des Ruhrkohlenbergbaus riefen jedoch ganz neue Verteilungskonflikte auf den Plan: Die "Gegenbewegung der Energieverbraucher" (S. 126) mobilisierte "revierferne" Branchen und Regionen. Diese quer durch Gewerkschaften, Unternehmerverbände und Parteien verlaufende Konfliktlinie bildete die Grundlage für das weitgehend konzeptionslose Durchlavieren (fast) aller Beteiligten in den kommenden Jahren der sich verschärfenden Krise.

In der SPD verband sie sich – Kapitel 4 – mit dem ohnehin schwelenden Konflikt zwischen Reformern und Traditionalisten zu einer potentiell explosiven Mischung. Entschärft wurde diese erst durch die programmatische Unklarheit des "Verzichts auf konstruktive Kohlepolitik", wie Nonn das Godesberger Programm beurteilt. Die in der Regierungsverantwortung stehende CDU hatte zwar – Kapitel 5 – ähnliche Schwierigkeiten wie die Sozialdemokraten, doch mit Ludwig Erhard einen Wirtschaftsminister, der seine klaren ordnungspolitischen Vorstellungen taktisch geschickt in die von Nonn neu beurteilte Gründung des Rationalisierungsverbandes Ruhrbergbau umsetzen konnte.

Der Tatsache, dass Erhards konsumentenorientierter, "revierferner" Ansatz auch bei der CDU in Nordrhein-Westfalen nicht auf ernsthaften Widerstand traf, misst Nonn in Kapitel 6 der "großstadtfeindlichen" gesellschaftspolitischen Grundhaltung der Union bei, die der "Entballung" des Ruhrgebiets größere Bedeutung zubilligte als einem Strukturwandel durch die aktive Ansiedlung neuer Industrien. Erst die in Kapitel 7 dargelegte erneute Zuspitzung der Krise ab 1964 führte zu einer verstärkten Hinwendung der Regierungsparteien zu einer konzeptionell geschlossenen Energiepolitik, die allerdings keineswegs auf eine Abfederung der Krise zielte, sondern vielmehr in dem Versuch bestand, sich mittels des Plans einer forcierten Schrumpfung der Branche - der "Steinkohlenschlussakte" - das Problem des Ruhrbergbaus noch vor den 1969 und 1970 anstehenden Bundes- und Landtagswahlen endgültig vom Halse zu schaffen. Dennoch, befindet Nonn, sei die Krise an der Ruhr keineswegs alleine oder auch nur hauptsächlich für den Sturz Erhards und die "Sozialdemokratisierung" des Ruhrgebietes verantwortlich zu machen.

Aus dieser allerdings zu überprüfenden Perspektive verwundert dann nicht mehr so sehr, dass er (Kapitel 8) in der Energiepolitik der Großen Koalition – Schillers "Konzertierte Aktion Kohle" – eher eine mit neuer Rhetorik drapierte Fortsetzung der alten Politik sieht als den fundamentalen Bruch, den die bisherige Forschung postuliert. Die sich angesichts dieser aus gewerkschaftlicher Sicht enttäuschenden energiepolitischen Kontinuität anbahnende Annäherung der IG Bergbau an die CDU wussten Schmidt und Schiller aber zu verhindern: kurzfristig durch eine rhetorische "Wiederbelebung des Klassengegensatzes", langfristig durch die Gründung der Ruhrkohle AG 1969 (Kapitel 9). Den entscheidenden Anstoß zur Überführung der Krise in geregelte Bahnen sieht Nonn aber nicht ausschließlich auf dieser energiepolitischen, sondern auch auf der strukturpolitischen Ebene: Die von der SPD in die Wege geleitete systematische Förderung für das Ruhrgebiet führte die Partei an den Abgrund der regionalen Spaltung und zwang sie dadurch zu einer Ausdehnung der Strukturpolitik vom Ruhrgebiet auf ganz Deutschland. Diese strukturpolitische Wende interpretiert Nonn als durch die Bergbaukrise ausgelöste "Umarmungstaktik", mit deren Hilfe die Sozialdemokraten zwar der Union bundesweit erfolgreich Wählerstimmen abnehmen konnten, die aber gleichzeitig eine Aufblähung der Aufgaben des Staates und der öffentlichen Haushalte nach sich zog. Letztlich sieht Nonn in der politischen Bewältigung der Ruhrbergbaukrise also nicht nur neue Muster von Konflikt und Kooperation, sondern auch eine Art postindustrieller Überforderung des Staates angelegt.

Aus gutem Grunde lässt Nonn die Frage nach der Generalisierbarkeit der von ihm beschriebenen Prozesse der Entstehung neuer politischer Muster beiseite. Abgesehen von der vergleichsweise banalen Aussage, dass für nachindustrielle Gesellschaften die "hohe Komplexität der Konfliktlagen" (S. 384) kennzeichnend sei, ist an eine Theoriebildung zur Frage der politischen und gesellschaftlichen Folgen der Entindustrialisierung beim derzeitigen Forschungsstand kaum zu denken, und so tut der Autor recht daran, sich an einem konkreten Beispiel auf deren empirisch dichte Beschreibung zu konzentrieren. Sein Ansatz ist insgesamt schlüssig und für die weitere Forschung wegweisend.

Dass es ihm durch gründliches und gegenüber vermeintlichem Gemeingut stets kritisches Quellenstudium gelingt, eine ganze Reihe von Mythen als eben solche zu qualifizieren – das reicht von der angeblichen taktischen Grobschlächtigkeit des angeblichen "Gemütsmenschen" Ludwig Erhard bis hin zu Nonns Beurteilung von Schillers "Konzertierter Aktion Kohle" und damit des Konzepts der "sozialen Symmetrie" – ist noch sein geringerer Verdienst, sei aber auch deshalb hervorgehoben, weil er damit en passant demonstriert, auf welch unsicherer Grundlage der Kenntnisstand selbst über zentrale Aspekte der politischen Geschichte der Bundesrepublik immer noch beruht.

Jenseits dieser "handwerklichen" Ebene liegt die Stärke der Untersuchung aber zweifellos in ihrer methodischen Offenheit gegenüber aus dem Rahmen von korporatismustheoretischen Ansätzen herausfallenden Konfliktlinien und in dem überzeugenden Nachweis der Entstehung neuer politischer Koalitionen und Konflikte in der Bundesrepublik der sechziger Jahre. Die Bedeutung gerade der regionalen Aspekte dieser Muster ist angesichts der bei Nonn nur angedeuteten politischen Konsequenzen, die in Gestalt eines forcierten Infrastrukturausbaus an der Wende von den sechziger zu den siebziger Jahren teilweise gigantische Umgestaltungspläne beinhalteten und eine grundlegende Neudefinition staatlicher Aufgaben mit sich brachten, kaum zu überschätzen. [Zur (nicht zuletzt historiographischen) Bedeutung des Infrastrukturausbaus vgl. Dirk van Laak, Infra-Strukturgeschichte, Geschichte und Gesellschaft 27.2001, S. 367-393.] Nonns Methode stellt einen guten Weg dar, diese zentralen Aspekte der Geschichte der Bundesrepublik stärker als bisher in die historische Forschung zu integrieren und weist mit ihren Ergebnissen auf eine noch viel zu wenig berücksichtigte, dafür aber umso bedeutsamere Ebene des gesellschaftlichen Umbruchs der sechziger Jahre hin. Dies gilt ebenso wie für die regionale Perspektive auch für die Verteilungskonflikte zwischen Branchen – man denke neben dem Bergbau etwa an die Landwirtschaft – und zwischen Produzenten und Konsumenten.

Hinsichtlich der Frage der fortdauernden Relevanz solcher Muster wäre allerdings ein etwas mutigerer Ausblick in die siebziger Jahre wünschenswert gewesen. Schließlich scheint etwa die Kooperation zwischen Unternehmern und Gewerkschaften im Bergbau eine eher ephemere Erscheinung gewesen zu sein, die in den siebziger Jahren gegenüber dem zweifelsohne auch weiterhin existierenden Klassengegensatz wieder in den Hintergrund geriet.

Mit diesem Hinweis auf einen nahezu unverändert fortbestehenden soziostrukturellen Faktor ist auch schon eine der wenigen Schwächen von Nonns Arbeit gestreift. Salopp gesagt, entgeht sie nicht immer der Versuchung, die Bedeutung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen ausschließlich an der Lautstärke zu messen, mit der sie in der politischen Arena diskutiert wurden und Entwicklungstendenzen jenseits offen ausgetragener Konflikte zu vernachlässigen. Diese Schwäche ist in Nonns diskursorientiertem Ansatz angelegt und erweist sich überall dort als unproblematisch, wo ein vergleichsweise guter Forschungsstand sichere Bezugspunkte für eine Einordnung politischer Debatten bietet – vor allem also hinsichtlich des ökonomischen Strukturwandels an der Ruhr. Was aber soziale Strukturen sowie gesellschafts- und wirtschaftspolitische Leitbilder der von Nonn in den Blick genommenen Akteure betrifft, bewegt sich die Arbeit auf dem z. T. noch recht dünnen Eis einer nur zögerlich einsetzenden Forschung.

Fragwürdig und einer allzu sehr auf die jeweilige Regierungspartei gerichteten Perspektive entspringend erscheint mir vor allem der Bogen, den Nonn von der "Entballungspolitik" der CDU zur SPD-"Strukturpolitik für alle" schlägt. Die auf eine "Entballung" des Ruhrgebietes zielenden Raumordnungs- und Infrastrukturpläne der fünfziger und frühen sechziger Jahre waren keineswegs nur, wie Nonn glauben machen will, eine Ausgeburt christlich-konservativer "Großstadtfeindschaft", und ebenso wenig war die "Strukturpolitik" ein ausschließlich sozialdemokratischer Topos. Tatsächlich beherrschte das Stichwort "Entballung" (ebenso "Vermassung") städtebauliche Worte und Taten aller beteiligten Akteure bis in die sechziger Jahre hinein. Das Ruhrgebiet in eine "Landschaft aus Gartenstädten" (S. 249) zu verwandeln, mag eine Idee der dort regierenden CDU gewesen sein; aber aus dem gleichen Motiv der "Entballung" waren die großen Gartenstädte schon in den fünfziger Jahren in den von der SPD regierten Ballungsräumen Bremen und Hamburg entstanden. Der unter der Regie der SPD erstellte Hamburger Aufbauplan des Jahres 1960 sah gar eine um ein Drittel niedrigere Bevölkerungsdichte vor als die von Nonn als Beleg ins Feld geführten Pläne der nordrhein-westfälischen Landesregierung für eine Absenkung der Bevölkerungsdichte im Ruhrgebiet!

Instruktiv ist das Beispiel Hamburgs auch deshalb, weil dieselbe SPD dort 1967 genau jene raumordnungs- und infrastrukturpolitische 180°-Wende vollzog, die Nonn im Ruhrgebiet ebenfalls beobachtet, dort aber dem mit dem Regierungswechsel verbundenen Übergang von christlich-konservativer "Entballungspolitik" zu sozialdemokratischer Strukturpolitik zuschreibt. Mir scheint ein Erklärungsansatz, der diese Entwicklung an kurzfristige Wandlungen im parteipolitischen Raum knüpft und – überspitzt gesagt – die Entstehung der Strukturpolitik mit ihrer Eigenschaft als Wahlschlager erklärt, deutlich zu kurz gegriffen. Wie Nonn bei seinem Blick auf die Wahlergebnisse an der Ruhr mit dem etwas diffusen Hinweis auf den "Genossen Trend" (S. 294) zu ahnen scheint, waren diese parteipolitischen Verschiebungen ja selbst nur Teil eines größeren Umbruchs: Der Wandel städtebaulicher Leitbilder von der "Entballung" zur durch die Stadtsanierungen staatlich geförderten "Verdichtung", der auch von der CDU mitgetragene Übergang vom Ordoliberalismus Erhardt’scher Prägung zur keynesianischen Globalsteuerung, die aktive Strukturpolitik – all das deutet auf ein fundamental verändertes Bild von der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Rolle des Staates hin. So gesehen ist auch Nonns These von der Geburt der Strukturpolitik aus der Krise des Ruhrbergbaus höchstens die halbe Wahrheit: Zwar mag die Krise einen Anlass zu verstärkten strukturpolitischen Aktivitäten gegeben haben; viel eher als ein Mechanismus zur Krisenbewältigung scheint die Entstehung der Strukturpolitik aber Ergebnis eines gesamtgesellschaftlich akzeptierten Planungsstrebens und Wachstumsoptimismus zu sein - eines Versuch zur "proaktiven" Sicherung wirtschaftlichen und sozialen Besitzstandes mit dem Mittel der staatlichen Investitionssteuerung. Als solcher Versuch ist sie aber nicht nur das Ergebnis veränderter politischer Konfliktlagen, sondern vor allem das Ergebnis grundlegender mentalitätsbezogener, soziologischer und wirtschaftlicher Strukturveränderungen, die mit Nonns Ansatz nicht zu erfassen sind bzw. durch seine Optik tendenziell verzerrt dargestellt werden.

Trotz dieser kritischen Einwände bietet Nonns Buch insgesamt eine gelungene Aufarbeitung der politischen Krise des Ruhrbergbaus und ihrer Ausstrahlung auf die Ebene der nationalen Politik, von der zweifelsohne nachhaltiger Einfluss auf die weitere Forschung zur Bundesrepublik im allgemeinen und auf die Historisierung der sechziger Jahre im besonderen ausgehen wird. Nonns Ansatz zur Analyse neuer Konfliktlagen liefert wichtige Impulse für die Erforschung des Übergangs zur nachindustriellen Gesellschaft in der Bundesrepublik und weist darauf hin, dass regionale, branchenbezogene und funktionale Konfliktlinien ebenso wie deren politische und ökonomische Konsequenzen die verstärkte Aufmerksamkeit der historischen Forschung verdienen. Die wenigen Defizite der Untersuchung führen zum gleichen Schluss: Sie sind eher ein Symptom der bisher noch bestehenden Forschungslücken als Ausdruck grundlegender Konstruktionsfehler des Untersuchungsansatzes. Dass sich diese Forschungslücken allerdings auch auf Bereiche erstrecken, die mit diskursorientierten Methoden nicht immer vollständig zu erschließen sind, sollte durchaus Anlass geben, mentalitäts- und strukturgeschichtliche Ansätze nicht völlig zu vernachlässigen.

Peter Kramper, Freiburg/Br.





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