ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Julius H. Schoeps (Hrsg.), Leben im Land der Täter. Juden im Nachkiegsdeutschland (1945–1952), Jüdische Verlagsanstalt, Berlin 2001, 349 S., kart., 69,90 DM.

Kein Zweifel: Die Geschichte der Juden in Deutschland nach 1945 gerät immer mehr in den Mittelpunkt des Interesses der zeitgeschichtlichen Forschung. Neben anderen Veröffentlichungen, wie z. B. "Übrig sein – Leben ‚danach’" (Berlin 2001) von Jael Geis oder "Das Undenkbare tun" (München 2001) von Ruth Gay ist das hier zu besprechende Buch ein weiterer Beleg für diesen Vorgang. In dem Band sind, so der Herausgeber Julius Schoeps im Vorwort, die Referate versammelt, die auf der Tagung "Der Anfang nach dem Ende. Jüdisches Leben im Nachkriegsdeutschland (1945 - 1952)" im April 2000 in Potsdam gehalten wurden. Diese Aussage ist allerdings nicht ganz zutreffend, denn von den im Programm dieser Tagung aufgeführten Referaten fehlen nicht weniger als sechs, darunter zwei Beiträge über die Jüdischen Gemeinden in Leipzig und Dresden sowie das Referat von Jürgen Zieher über das Verhältnis von Stadtverwaltungen und Jüdischen Gemeinden in den Städten Dortmund, Düsseldorf und Köln. Es ist schade, dass sie Beiträge dem Leser vorenthalten bleiben, denn zumindest dem Titel nach hätten sie dazu beitragen können, die vier Themen-Blöcke des Buches etwas ausgeglichener zu gestalten.

Jüdische "Displaced Persons" in Deutschland, die Geschichte jüdischer Gemeinden in Deutschland, deutsche Politik im Spannungsfeld zwischen Antisemitismus und Wiedergutmachung sowie die Debatte um die Rückkehr nach Deutschland sind die vier Bereiche, denen die Aufsätze zugeordnet sind. Dazu kommen noch ein einleitender Aufsatz von Y. Michael Bodemann über den Neubeginn jüdischen Lebens in Deutschland sowie ein Beitrag des Herausgebers über den Umgang der Erlanger Universität mit dem Lehrstuhl seines Vaters Hans-Joachim Schoeps.

Bodemanns Beitrag ist ein hervorragendes Beispiel für das Einleitungsreferat einer Tagung, denn es gelingt ihm, den Rahmen für die weiteren Beiträge abzustecken. Zunächst schildert er die Atmosphäre im Nachkriegsdeutschland, mit der sich die jüdische Gemeinschaft konfrontiert sah. Diese sei vor allem durch das "kollektive Beschweigen" des Holocaust geprägt gewesen, doch hätten sich trotzdem gewisse Vorstellungen und Darstellungen des Jüdischen entwickelt, die Bodemann als Fundamente für die späteren Beziehungen zu den Juden bezeichnete. Dazu zählt er zum einen die Herausbildung eines negativen Gedächtnisses, das die deutschen Verbrechen weit in den Hintergrund rückte und das deutsche mit dem jüdischen Schicksal gleichsetzte, des Weiteren die Exterritorialisierung der Juden und schließlich die Leugnung der jüdischen Identität. Dann geht Bodemann auf den "geretteten Rest" der Juden in Deutschland ein, als dessen zentrales Merkmal er die "Verweiler-Mentalität" nannte und betonte, wie wichtig diese für den Wiederaufbau jüdischer Gemeinden und jüdischer Identität in Deutschland gewesen sei. Weitere Merkmale seien die zentrale Rolle der aus Osteuropa stammenden Überlebenden für den Neubeginn jüdischen Lebens sowie das nicht immer konfliktlose Verhältnis zwischen Letzteren und der deutsch-jüdischen Führungsgruppe.

Im ersten Themenschwerpunkt beschäftigen sich Angelika Königseder, Joachim Schröder und Angelika Eder mit den jüdischen "Displaced Persons" in Deutschland nach Ende des Krieges, die insbesondere auf die Situation in Berlin (Königseder) und im Lager Föhrenwald in Bayern (Schröder) sowie die sich in den Lagern schnell entwickelnde jüdische Kultur (Eder) eingehen. Eder gelingt es in ihrem Aufsatz, die beeindruckende Vielfalt des kulturellen Lebens in den DP-Lagern zu schildern, und dessen Brückenfunktion zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu beschreiben, die für den übergroßen Anteil der "Displaced Persons" außerhalb Deutschlands lag. Schröders Aufsatz dagegen enttäuscht auf der ganzen Linie und fällt sowohl in inhaltlicher als auch in stilistischer Hinsicht gegenüber den Beiträgen von Eder und Königseder deutlich ab.

Der zweite Block ist der Geschichte jüdischer Gemeinden in Deutschland gewidmet. Allein die Anzahl der Beiträge in diesem Block, es sind fünf an der Zahl, zeigt deutlich, dass die Entwicklung jüdischer Gemeinden im Mittelpunkt des Interesses der Forschung zu jüdischem Leben in Deutschland steht. Diese Feststellung wird zudem erhärtet durch die bereits eingangs erwähnten Arbeiten über die Gemeinden in Leipzig und Dresden sowie durch weitere, sich momentan in Vorbereitung befindende Arbeiten, wie z. B. die Dissertation von Alon Tauber (Heidelberg) über die Jüdische Gemeinde Frankfurt. Durch die Beiträge von Juliane Wetzel (München), Ina Lorenz (Hamburg), Ulrike Offenburg (Berlin) und Monika Berthold-Hilpert (Fürth) ziehen sich wie ein roter Faden das Verhältnis von deutschen und osteuropäischen Juden und die Frage nach der Existenz jüdischen Lebens in Deutschland als die zwei wesentlichen Merkmale der Entwicklung der Gemeinden nach 1945. Wenngleich diese zwei Punkte in allen Beiträgen auftauchen, belegen diese doch eine erstaunliche Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland nach 1945, die letztlich auf die Besonderheiten in den jeweiligen Städte zurückzuführen sind. Lothar Mertens liefert einen zusammenfassenden Ausschnitt aus seiner Habilitation über die Jüdischen Gemeinden in der SBZ bzw. DDR ("Davidstern unter Hammer und Zirkel", Hildesheim 1997) und macht deutlich, wie grundlegend anders die Ausgangsbedingungen für die Entwicklung jüdischen Lebens im Osten Deutschlands gewesen sind. Da er allerdings nur jeweils kurz auf einzelne Gemeinden eingeht, fällt das Fehlen der Aufsätze über Leipzig und Dresden besonders auf, da diese vermutlich noch detaillierter die Situation in ostdeutschen Städten hätten schildern können und somit die Gewichtung zwischen west- und ostdeutschen Städten in diesem Block etwas ausgeglichener hätten gestalten können.

Im dritten Teil des Buches geht es um die Themen Antisemitismus, Wiedergutmachung und Philosemitismus in der deutschen Nachkriegspolitik. Während Werner Bergmann in seinem Beitrag schildert, in welch erschreckendem Maße der Antisemitismus in Deutschland nach 1945 sehr wohl weiter existierte, und dabei vor allem hervorhob, dass sich die Einstellung zu den Juden in Ost- und Westdeutschland kaum unterschied, beschreibt Wolfgang Kraushaar anhand der Affäre um den bayerischen Staatskommissar für die Betreuung der Opfer des Faschismus, Philipp Auerbach, diesen virulenten Antisemitismus im Nachkriegsdeutschland an einem konkreten Beispiel. Constantin Goschler und Willy Albrecht setzen sich in ihren Beiträgen mit der Bedeutung der Wiedergutmachung für das Verhältnis der jüdischen Gemeinschaft zur nicht jüdischen deutschen Nachkriegsgesellschaft auseinander. Goschler konstatiert diesbezüglich zu Beginn seines Aufsatzes die zentrale Rolle der Wiedergutmachung in beiden Teilen Deutschlands, und untersucht dann detailliert die jeweilige Situation in Ost- und Westdeutschland. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass es zwar bei der konkreten Ausgestaltung der Wiedergutmachung systemspezifische Gegensätze gab, jedoch ein, wie er es ausdrückt, "frappierender deutsch-deutscher Gleichklang" herrschte in dem Bemühen, den Sonderstatus der NS-Verfolgten zu beseitigen, was u. a. in den Affären um Philipp Auerbach im Westen und um Paul Merker im Osten zum Ausdruck gekommen sei. Willy Albrecht schildert einen sowohl beim Thema Wiedergutmachung als auch im Gesamtkomplex jüdisches Leben in Nachkriegsdeutschland oftmals vernachlässigten Aspekt: das Engagement von Politikern jüdischer Herkunft in der Bundesrepublik. Anhand der Biografien von Jeanette Wolff, Jakob Altmaier und Peter Blachstein schildert er, welche enorme Bedeutung das Thema Wiedergutmachung für ihr politisches Wirken hatte (Wolff und Altmaier), und wie schwierig es war, sich der Frage nach der jüdischen Existenz in Deutschland nach 1945 zu entziehen (Blachstein). Die letzten beiden Aufsätze dieses Blockes drehen sich um Philosemitismus. Josef Foschepoth beschreibt die Anfänge der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Deutschland nach 1945 und macht deutlich, wie sehr sich die deutschen Gesellschaften von den amerikanischen Gesellschaften, die ihre Ursprünge in den 20er-Jahren hatten, unterscheiden. Während in den USA die Vision einer brüderlichen, multikulturellen Gesellschaft vorgeherrscht habe, seien die deutschen Gesellschaften von Anfang an sowohl von ihren jüdischen wie den nicht jüdischen Mitgliedern funktionalisiert worden. Während für die Ersteren das Motiv, durch die Gesellschaften wieder eine Heimat zu finden entscheidend gewesen sei, hätten sie für die nicht jüdischen Mitglieder zur nationalen Selbstverständigung gedient. An der Stelle von Frank Stern, der im Programm der Tagung für ein Referat über philosemitische Tendenzen in Nachkriegsdeutschland vorgesehen war, setzt sich Yael Kupferberg in ihrem Beitrag mit diesem Thema auseinander, wobei sie sich im Wesentlichen auf Sterns Buch "Im Anfang war Auschwitz" (Gerlingen 1991) stützt.

Der letzte Block des Buches widmet sich der Frage nach der Rückkehr von Emigranten nach Deutschland anhand von nur zwei Aufsätzen. Dabei verdiente dieses Thema eine stärkere Beachtung, denn sowohl der Aufsatz von Martina Kliner-Fruck über die Rückkehr von jüdischen Frauen nach Deutschland als auch Bettina Völters Beitrag über die Erfahrungen von remigrierten jüdischen Kommunisten in Nachkriegsdeutschland zeigen nicht nur, mit welchen unterschiedlichen Problemen diese Rückkehrer in Ost- und Westdeutschland konfrontiert waren, sondern belegen auch, dass dieses Thema im Gesamtkontext des jüdischen Lebens in Deutschland nach 1945 nicht unerhebliche Bedeutung hat.

Sieht man ab von der recht unterschiedlichen Qualität der Aufsätze und einigen kleinen Fehlern bei der redaktionellen Bearbeitung des Buches, so bietet es alles in allem für diejenigen, die sich mit der Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland nach 1945 beschäftigen wollen, einen guten und zudem thematisch recht breiten Überblick. Außerdem ist hervorzuheben, dass das Buch gesamtdeutsch angelegt ist, d. h. die Entwicklung des jüdischen Lebens nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in der DDR im Auge hat. Zugleich regt das vorliegende Buch zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema an. Beispielsweise fehlt bis heute ein biografisches Lexikon der Juden im öffentlichen Leben der Bundesrepublik und der DDR, das deutlich machen könnte, dass Juden in den vergangenen fünfzig Jahren keineswegs beiseite gestanden und für sich, abgeschlossen von ihrer nicht jüdischen Umwelt, in Deutschland gelebt haben, sondern von Anfang aktiv am gesellschaftlichen Leben in beiden Teilen Deutschlands teilgenommen haben.

Christoph Moß, Moers





DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | Mai 2002